leben des Volkes sowohl wie des einzelnen. Die äußere Akkommodation mag ihm erspart bleiben, aber geistig und seelisch heißt es für ihn, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu werden. Für den Apostel Paulus, der diesen weisen Missionsgrundsatz zuerst auf- gestellt hat, war das nicht so schwer wie für den heutigen Missionar. In den Wänden seines Heimathauses sog er die jüdische, auf den Straßen seiner Heimatstadt die griechische Lebensluft ein. Beide Weltanschauungen, nicht bloß die des orthodoxen Judentums, sondern auch die des Hellenismus, waren ihm von Kind auf nicht fremd, wenn er auch mitbezug auf letztere sich dessen nicht einmal bewußt war. Der Missionar aber, welcher sich heute nach Japan begiebt, tritt dort auf einen ihm gänzlich unbekannten, im vollen Sinne des Wortes antipodischen Boden. Das geistige Wesen des Japaners ist von dem unsrigen durchaus verschieden, nach seinem geschichtlichen Werden sowohl als nach seinem ursprüng- lichen Wesen, nach seinen formalen Erscheinungsweisen nicht minder als nach seinem materialen Inhalt. Dieses Geisteslebens völlig Herr zu werden, sowohl in theo- retischer Aneignung als in praktischer Anwendung, ist für den Weißen eine Unmöglichkeit, sintemalen er nicht aus seiner weißen Haut herausfahren kann. Das darf ihn aber von dem ernsten Versuche nicht abhalten, in inniger Hingabe an den Volkscharakter denselben wenigstens bis an die Grenzen der Möglichkeit zu durch- dringen. Das ist die eine ungeheure Schwierigkeit des Missionsberufs. Die Lösung dieser Aufgabe nimmt Jahre in Anspruch; und darum ist es auch kein leeres Gerede, wenn man sagt, daß die rechte Wirksamkeit für einen Missionar erst nach mehrjähriger Arbeit beginne, und mit Recht dringen unsere Missionsgesellschaften
leben des Volkes ſowohl wie des einzelnen. Die äußere Akkommodation mag ihm erſpart bleiben, aber geiſtig und ſeeliſch heißt es für ihn, den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche zu werden. Für den Apoſtel Paulus, der dieſen weiſen Miſſionsgrundſatz zuerſt auf- geſtellt hat, war das nicht ſo ſchwer wie für den heutigen Miſſionar. In den Wänden ſeines Heimathauſes ſog er die jüdiſche, auf den Straßen ſeiner Heimatſtadt die griechiſche Lebensluft ein. Beide Weltanſchauungen, nicht bloß die des orthodoxen Judentums, ſondern auch die des Hellenismus, waren ihm von Kind auf nicht fremd, wenn er auch mitbezug auf letztere ſich deſſen nicht einmal bewußt war. Der Miſſionar aber, welcher ſich heute nach Japan begiebt, tritt dort auf einen ihm gänzlich unbekannten, im vollen Sinne des Wortes antipodiſchen Boden. Das geiſtige Weſen des Japaners iſt von dem unſrigen durchaus verſchieden, nach ſeinem geſchichtlichen Werden ſowohl als nach ſeinem urſprüng- lichen Weſen, nach ſeinen formalen Erſcheinungsweiſen nicht minder als nach ſeinem materialen Inhalt. Dieſes Geiſteslebens völlig Herr zu werden, ſowohl in theo- retiſcher Aneignung als in praktiſcher Anwendung, iſt für den Weißen eine Unmöglichkeit, ſintemalen er nicht aus ſeiner weißen Haut herausfahren kann. Das darf ihn aber von dem ernſten Verſuche nicht abhalten, in inniger Hingabe an den Volkscharakter denſelben wenigſtens bis an die Grenzen der Möglichkeit zu durch- dringen. Das iſt die eine ungeheure Schwierigkeit des Miſſionsberufs. Die Löſung dieſer Aufgabe nimmt Jahre in Anſpruch; und darum iſt es auch kein leeres Gerede, wenn man ſagt, daß die rechte Wirkſamkeit für einen Miſſionar erſt nach mehrjähriger Arbeit beginne, und mit Recht dringen unſere Miſſionsgeſellſchaften
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leben des Volkes ſowohl wie des einzelnen. Die äußere
Akkommodation mag ihm erſpart bleiben, aber geiſtig und
ſeeliſch heißt es für ihn, den Juden ein Jude und den
Griechen ein Grieche zu werden. Für den Apoſtel
Paulus, der dieſen weiſen Miſſionsgrundſatz zuerſt auf-
geſtellt hat, war das nicht ſo ſchwer wie für den heutigen
Miſſionar. In den Wänden ſeines Heimathauſes ſog
er die jüdiſche, auf den Straßen ſeiner Heimatſtadt die
griechiſche Lebensluft ein. Beide Weltanſchauungen,
nicht bloß die des orthodoxen Judentums, ſondern auch
die des Hellenismus, waren ihm von Kind auf nicht
fremd, wenn er auch mitbezug auf letztere ſich deſſen
nicht einmal bewußt war. Der Miſſionar aber, welcher
ſich heute nach Japan begiebt, tritt dort auf einen
ihm gänzlich unbekannten, im vollen Sinne des Wortes
antipodiſchen Boden. Das geiſtige Weſen des Japaners
iſt von dem unſrigen durchaus verſchieden, nach ſeinem
geſchichtlichen Werden ſowohl als nach ſeinem urſprüng-
lichen Weſen, nach ſeinen formalen Erſcheinungsweiſen
nicht minder als nach ſeinem materialen Inhalt. Dieſes
Geiſteslebens völlig Herr zu werden, ſowohl in theo-
retiſcher Aneignung als in praktiſcher Anwendung, iſt
für den Weißen eine Unmöglichkeit, ſintemalen er nicht
aus ſeiner weißen Haut herausfahren kann. Das darf
ihn aber von dem ernſten Verſuche nicht abhalten, in
inniger Hingabe an den Volkscharakter denſelben
wenigſtens bis an die Grenzen der Möglichkeit zu durch-
dringen. Das iſt die eine ungeheure Schwierigkeit des
Miſſionsberufs. Die Löſung dieſer Aufgabe nimmt
Jahre in Anſpruch; und darum iſt es auch kein leeres
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/35>, abgerufen am 21.11.2024.
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