die Erhöhung ihres Volkes ist es, die sie von der christ- lichen Gerechtigkeit in erster Linie erwarten. Nationale Motive spielen bei der Bekehrung ebenso viel mit als das individuelle Sündenbewußtsein. Und doch soll das Sündenbewußtsein die erste Bedingung zur Seligkeit sein. An der Pforte zum Himmelreich steht Johannes der Täufer, und über dem Eingang sind die von Jesus bestätigten Worte geschrieben: "Thut Buße!" Zur Buße aber ist der Japaner seiner ganzen Veranlagung nach wenig geneigt, und sein Gewissen macht ihm selten zu schaffen. Er besitzt eine frische, freudige Schaffensnatur nach Art der alten Griechen, bei dem Asketismus der Buße hält er sich nicht gern auf. Dazu kommt, daß das Missionsmaterial fast durchweg ein jugendliches ist. In den sonnigen Tagen der Jugend aber ist das Froh- gefühl der Kraft und der freudigen Begeisterung stärker als das Gefühl der Schwäche und der demütigen, buß- fertigen Zerknirschung. In der Regel ist es so, daß das Gefühl der sittlichen Unzulänglichkeit erst im Ver- laufe des Taufunterrichts so viel als möglich geweckt wird. Der Mangel an Gewissensmotiven und ein Übermaß von patriotischen Empfindungen ist selbst bei epochemachenden Bekehrungen nachweisbar. Auch von dem Christentum Nishimas läßt sich nicht leugnen, daß es einen starken sozialen Beigeschmack hatte. Er verstand es, die christlichen Schüler der Doshisha zu entflammen, aber nicht zum wenigsten dadurch, daß er sie immer wieder darauf hinwies, was sie dem Volke und Vaterlande schuldig seien. Das Christsein betonte er sehr viel in Verbindung mit dem Japanersein, und dieses Leuten gegenüber, welche infolge ihrer jungen Jahre sehr geneigt waren, seine Worte so aufzufassen, als sei das Christsein nur ein Mittel zu dem einen
die Erhöhung ihres Volkes iſt es, die ſie von der chriſt- lichen Gerechtigkeit in erſter Linie erwarten. Nationale Motive ſpielen bei der Bekehrung ebenſo viel mit als das individuelle Sündenbewußtſein. Und doch ſoll das Sündenbewußtſein die erſte Bedingung zur Seligkeit ſein. An der Pforte zum Himmelreich ſteht Johannes der Täufer, und über dem Eingang ſind die von Jeſus beſtätigten Worte geſchrieben: „Thut Buße!“ Zur Buße aber iſt der Japaner ſeiner ganzen Veranlagung nach wenig geneigt, und ſein Gewiſſen macht ihm ſelten zu ſchaffen. Er beſitzt eine friſche, freudige Schaffensnatur nach Art der alten Griechen, bei dem Aſketismus der Buße hält er ſich nicht gern auf. Dazu kommt, daß das Miſſionsmaterial faſt durchweg ein jugendliches iſt. In den ſonnigen Tagen der Jugend aber iſt das Froh- gefühl der Kraft und der freudigen Begeiſterung ſtärker als das Gefühl der Schwäche und der demütigen, buß- fertigen Zerknirſchung. In der Regel iſt es ſo, daß das Gefühl der ſittlichen Unzulänglichkeit erſt im Ver- laufe des Taufunterrichts ſo viel als möglich geweckt wird. Der Mangel an Gewiſſensmotiven und ein Übermaß von patriotiſchen Empfindungen iſt ſelbſt bei epochemachenden Bekehrungen nachweisbar. Auch von dem Chriſtentum Niſhimas läßt ſich nicht leugnen, daß es einen ſtarken ſozialen Beigeſchmack hatte. Er verſtand es, die chriſtlichen Schüler der Doſhiſha zu entflammen, aber nicht zum wenigſten dadurch, daß er ſie immer wieder darauf hinwies, was ſie dem Volke und Vaterlande ſchuldig ſeien. Das Chriſtſein betonte er ſehr viel in Verbindung mit dem Japanerſein, und dieſes Leuten gegenüber, welche infolge ihrer jungen Jahre ſehr geneigt waren, ſeine Worte ſo aufzufaſſen, als ſei das Chriſtſein nur ein Mittel zu dem einen
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die Erhöhung ihres Volkes iſt es, die ſie von der chriſt-
lichen Gerechtigkeit in erſter Linie erwarten. Nationale
Motive ſpielen bei der Bekehrung ebenſo viel mit als
das individuelle Sündenbewußtſein. Und doch ſoll das
Sündenbewußtſein die erſte Bedingung zur Seligkeit
ſein. An der Pforte zum Himmelreich ſteht Johannes
der Täufer, und über dem Eingang ſind die von Jeſus
beſtätigten Worte geſchrieben: „Thut Buße!“ Zur Buße
aber iſt der Japaner ſeiner ganzen Veranlagung nach
wenig geneigt, und ſein Gewiſſen macht ihm ſelten zu
ſchaffen. Er beſitzt eine friſche, freudige Schaffensnatur
nach Art der alten Griechen, bei dem Aſketismus der
Buße hält er ſich nicht gern auf. Dazu kommt, daß
das Miſſionsmaterial faſt durchweg ein jugendliches iſt.
In den ſonnigen Tagen der Jugend aber iſt das Froh-
gefühl der Kraft und der freudigen Begeiſterung ſtärker
als das Gefühl der Schwäche und der demütigen, buß-
fertigen Zerknirſchung. In der Regel iſt es ſo, daß
das Gefühl der ſittlichen Unzulänglichkeit erſt im Ver-
laufe des Taufunterrichts ſo viel als möglich geweckt
wird. Der Mangel an Gewiſſensmotiven und ein
Übermaß von patriotiſchen Empfindungen iſt ſelbſt bei
epochemachenden Bekehrungen nachweisbar. Auch von
dem Chriſtentum Niſhimas läßt ſich nicht leugnen,
daß es einen ſtarken ſozialen Beigeſchmack hatte. Er
verſtand es, die chriſtlichen Schüler der Doſhiſha zu
entflammen, aber nicht zum wenigſten dadurch, daß er
ſie immer wieder darauf hinwies, was ſie dem Volke
und Vaterlande ſchuldig ſeien. Das Chriſtſein betonte
er ſehr viel in Verbindung mit dem Japanerſein, und
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Jahre ſehr geneigt waren, ſeine Worte ſo aufzufaſſen,
als ſei das Chriſtſein nur ein Mittel zu dem einen
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/370>, abgerufen am 22.11.2024.
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