Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Sie fuhr mit Entsetzen zurück, öfnete ih-
ren Rosenmund, und sprach mit unaussprech-
lichem Wohllaut, der meinem Ohr schmei-
chelte, als ie eines Weibes Stimm' ihm ge-
schmeichelt hat. -- Wie in meines Vaters
Hause? -- Jch bin daraus entflohn! --
Hören Sie mich, und urtheilen Sie, ob
eine Unglükliche Jhres menschenfreundlichen
Schutzes und Mitleids würdig ist.

Meine Geschichte hat den Gang der all-
täglichen Romane, die den Leser durch ihre
Einförmigkeit ermüden. Aber was die idea-
lische Welt träumt, wird in der wirklichen
mit der Zeit realisirt; nur ist iene vor dieser
immer um ein halbes Jahrhundert voraus;
aber dennoch ihr vorgezeichneter Plan, der
nach und nach ausgeführet wird.

"Sackerlot! dacht ich, wo mag das
Mädchen das her haben? sie redt ia wie
ein Buch."

Jch bin die Tochter eines ehemals wohl-
habenden Pachters, eines Mannes, der
wegen seiner Redlichkeit, seines untadelhaf-
ten Wandels, und des Eifers in seinem
Beruf in guter Achtung stund, so lange
meine Mutter lebte. Diese verlohr ich im
zwölften Jahre. Mein Vater verheyrathe-

te
G

Sie fuhr mit Entſetzen zuruͤck, oͤfnete ih-
ren Roſenmund, und ſprach mit unausſprech-
lichem Wohllaut, der meinem Ohr ſchmei-
chelte, als ie eines Weibes Stimm’ ihm ge-
ſchmeichelt hat. — Wie in meines Vaters
Hauſe? — Jch bin daraus entflohn! —
Hoͤren Sie mich, und urtheilen Sie, ob
eine Ungluͤkliche Jhres menſchenfreundlichen
Schutzes und Mitleids wuͤrdig iſt.

Meine Geſchichte hat den Gang der all-
taͤglichen Romane, die den Leſer durch ihre
Einfoͤrmigkeit ermuͤden. Aber was die idea-
liſche Welt traͤumt, wird in der wirklichen
mit der Zeit realiſirt; nur iſt iene vor dieſer
immer um ein halbes Jahrhundert voraus;
aber dennoch ihr vorgezeichneter Plan, der
nach und nach ausgefuͤhret wird.

„Sackerlot! dacht ich, wo mag das
Maͤdchen das her haben? ſie redt ia wie
ein Buch.“

Jch bin die Tochter eines ehemals wohl-
habenden Pachters, eines Mannes, der
wegen ſeiner Redlichkeit, ſeines untadelhaf-
ten Wandels, und des Eifers in ſeinem
Beruf in guter Achtung ſtund, ſo lange
meine Mutter lebte. Dieſe verlohr ich im
zwoͤlften Jahre. Mein Vater verheyrathe-

te
G
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0103" n="97"/>
          <p>Sie fuhr mit Ent&#x017F;etzen zuru&#x0364;ck, o&#x0364;fnete ih-<lb/>
ren Ro&#x017F;enmund, und &#x017F;prach mit unaus&#x017F;prech-<lb/>
lichem Wohllaut, der meinem Ohr &#x017F;chmei-<lb/>
chelte, als ie eines Weibes Stimm&#x2019; ihm ge-<lb/>
&#x017F;chmeichelt hat. &#x2014; Wie in meines Vaters<lb/>
Hau&#x017F;e? &#x2014; Jch bin daraus entflohn! &#x2014;<lb/>
Ho&#x0364;ren Sie mich, und urtheilen Sie, ob<lb/>
eine Unglu&#x0364;kliche Jhres men&#x017F;chenfreundlichen<lb/>
Schutzes und Mitleids wu&#x0364;rdig i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Meine Ge&#x017F;chichte hat den Gang der all-<lb/>
ta&#x0364;glichen Romane, die den Le&#x017F;er durch ihre<lb/>
Einfo&#x0364;rmigkeit ermu&#x0364;den. Aber was die idea-<lb/>
li&#x017F;che Welt tra&#x0364;umt, wird in der wirklichen<lb/>
mit der Zeit reali&#x017F;irt; nur i&#x017F;t iene vor die&#x017F;er<lb/>
immer um ein halbes Jahrhundert voraus;<lb/>
aber dennoch ihr vorgezeichneter Plan, der<lb/>
nach und nach ausgefu&#x0364;hret wird.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sackerlot! dacht ich, wo mag das<lb/>
Ma&#x0364;dchen das her haben? &#x017F;ie redt ia wie<lb/>
ein Buch.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Jch bin die Tochter eines ehemals wohl-<lb/>
habenden Pachters, eines Mannes, der<lb/>
wegen &#x017F;einer Redlichkeit, &#x017F;eines untadelhaf-<lb/>
ten Wandels, und des Eifers in &#x017F;einem<lb/>
Beruf in guter Achtung &#x017F;tund, &#x017F;o lange<lb/>
meine Mutter lebte. Die&#x017F;e verlohr ich im<lb/>
zwo&#x0364;lften Jahre. Mein Vater verheyrathe-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G</fw><fw place="bottom" type="catch">te</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0103] Sie fuhr mit Entſetzen zuruͤck, oͤfnete ih- ren Roſenmund, und ſprach mit unausſprech- lichem Wohllaut, der meinem Ohr ſchmei- chelte, als ie eines Weibes Stimm’ ihm ge- ſchmeichelt hat. — Wie in meines Vaters Hauſe? — Jch bin daraus entflohn! — Hoͤren Sie mich, und urtheilen Sie, ob eine Ungluͤkliche Jhres menſchenfreundlichen Schutzes und Mitleids wuͤrdig iſt. Meine Geſchichte hat den Gang der all- taͤglichen Romane, die den Leſer durch ihre Einfoͤrmigkeit ermuͤden. Aber was die idea- liſche Welt traͤumt, wird in der wirklichen mit der Zeit realiſirt; nur iſt iene vor dieſer immer um ein halbes Jahrhundert voraus; aber dennoch ihr vorgezeichneter Plan, der nach und nach ausgefuͤhret wird. „Sackerlot! dacht ich, wo mag das Maͤdchen das her haben? ſie redt ia wie ein Buch.“ Jch bin die Tochter eines ehemals wohl- habenden Pachters, eines Mannes, der wegen ſeiner Redlichkeit, ſeines untadelhaf- ten Wandels, und des Eifers in ſeinem Beruf in guter Achtung ſtund, ſo lange meine Mutter lebte. Dieſe verlohr ich im zwoͤlften Jahre. Mein Vater verheyrathe- te G

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/103
Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/103>, abgerufen am 21.11.2024.