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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

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Wiederum gab ich der Dichtung eine
andere Wendung, bildete mir vor, ich hätte
mich auf der Reise von der Landstraß' ver-
irrt, und müßt' in einem kleinen Dorf
Nachtquartier suchen, klopft' an, am er-
sten besten Bauerhaus; eine Bäuerin kapi-
tulirt lang mit mir eh sie mich herbergen
will; doch thut sie's, wiewol ungern, macht
mir eine reinliche Streu in die Stub' und
tischt auf was sie hat. Jndeß nehm ich
wahr einiges feines Nähwerk, frag ich,
wer das mach'. Will das Weib nicht mit
der Sprach' heraus; ich laß aber nicht ab
mit Forschen, bis sie mir in Geheim ver-
traut, es wohn eine junge Unbekannte bey
ihr im Haus, schön und lieblich von An-
gesicht; aber von traurigem Gemüth, sie
wein' sich bald die Augen aus, müß' ihr
ein gros Unglück begegnet seyn. Mir wird
warm ums Herz, kann die Nacht kein Auge
zuthun. Versuchs den Morgen drauf, die

Un-

Wiederum gab ich der Dichtung eine
andere Wendung, bildete mir vor, ich haͤtte
mich auf der Reiſe von der Landſtraß’ ver-
irrt, und muͤßt’ in einem kleinen Dorf
Nachtquartier ſuchen, klopft’ an, am er-
ſten beſten Bauerhaus; eine Baͤuerin kapi-
tulirt lang mit mir eh ſie mich herbergen
will; doch thut ſie’s, wiewol ungern, macht
mir eine reinliche Streu in die Stub’ und
tiſcht auf was ſie hat. Jndeß nehm ich
wahr einiges feines Naͤhwerk, frag ich,
wer das mach’. Will das Weib nicht mit
der Sprach’ heraus; ich laß aber nicht ab
mit Forſchen, bis ſie mir in Geheim ver-
traut, es wohn eine junge Unbekannte bey
ihr im Haus, ſchoͤn und lieblich von An-
geſicht; aber von traurigem Gemuͤth, ſie
wein’ ſich bald die Augen aus, muͤß’ ihr
ein gros Ungluͤck begegnet ſeyn. Mir wird
warm ums Herz, kann die Nacht kein Auge
zuthun. Verſuchs den Morgen drauf, die

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[11/0011] Wiederum gab ich der Dichtung eine andere Wendung, bildete mir vor, ich haͤtte mich auf der Reiſe von der Landſtraß’ ver- irrt, und muͤßt’ in einem kleinen Dorf Nachtquartier ſuchen, klopft’ an, am er- ſten beſten Bauerhaus; eine Baͤuerin kapi- tulirt lang mit mir eh ſie mich herbergen will; doch thut ſie’s, wiewol ungern, macht mir eine reinliche Streu in die Stub’ und tiſcht auf was ſie hat. Jndeß nehm ich wahr einiges feines Naͤhwerk, frag ich, wer das mach’. Will das Weib nicht mit der Sprach’ heraus; ich laß aber nicht ab mit Forſchen, bis ſie mir in Geheim ver- traut, es wohn eine junge Unbekannte bey ihr im Haus, ſchoͤn und lieblich von An- geſicht; aber von traurigem Gemuͤth, ſie wein’ ſich bald die Augen aus, muͤß’ ihr ein gros Ungluͤck begegnet ſeyn. Mir wird warm ums Herz, kann die Nacht kein Auge zuthun. Verſuchs den Morgen drauf, die Un-

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/11>, abgerufen am 30.04.2024.