Wiederum gab ich der Dichtung eine andere Wendung, bildete mir vor, ich hätte mich auf der Reise von der Landstraß' ver- irrt, und müßt' in einem kleinen Dorf Nachtquartier suchen, klopft' an, am er- sten besten Bauerhaus; eine Bäuerin kapi- tulirt lang mit mir eh sie mich herbergen will; doch thut sie's, wiewol ungern, macht mir eine reinliche Streu in die Stub' und tischt auf was sie hat. Jndeß nehm ich wahr einiges feines Nähwerk, frag ich, wer das mach'. Will das Weib nicht mit der Sprach' heraus; ich laß aber nicht ab mit Forschen, bis sie mir in Geheim ver- traut, es wohn eine junge Unbekannte bey ihr im Haus, schön und lieblich von An- gesicht; aber von traurigem Gemüth, sie wein' sich bald die Augen aus, müß' ihr ein gros Unglück begegnet seyn. Mir wird warm ums Herz, kann die Nacht kein Auge zuthun. Versuchs den Morgen drauf, die
Un-
Wiederum gab ich der Dichtung eine andere Wendung, bildete mir vor, ich haͤtte mich auf der Reiſe von der Landſtraß’ ver- irrt, und muͤßt’ in einem kleinen Dorf Nachtquartier ſuchen, klopft’ an, am er- ſten beſten Bauerhaus; eine Baͤuerin kapi- tulirt lang mit mir eh ſie mich herbergen will; doch thut ſie’s, wiewol ungern, macht mir eine reinliche Streu in die Stub’ und tiſcht auf was ſie hat. Jndeß nehm ich wahr einiges feines Naͤhwerk, frag ich, wer das mach’. Will das Weib nicht mit der Sprach’ heraus; ich laß aber nicht ab mit Forſchen, bis ſie mir in Geheim ver- traut, es wohn eine junge Unbekannte bey ihr im Haus, ſchoͤn und lieblich von An- geſicht; aber von traurigem Gemuͤth, ſie wein’ ſich bald die Augen aus, muͤß’ ihr ein gros Ungluͤck begegnet ſeyn. Mir wird warm ums Herz, kann die Nacht kein Auge zuthun. Verſuchs den Morgen drauf, die
Un-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0011"n="11"/><p>Wiederum gab ich der Dichtung eine<lb/>
andere Wendung, bildete mir vor, ich haͤtte<lb/>
mich auf der Reiſe von der Landſtraß’ ver-<lb/>
irrt, und muͤßt’ in einem kleinen Dorf<lb/>
Nachtquartier ſuchen, klopft’ an, am er-<lb/>ſten beſten Bauerhaus; eine Baͤuerin kapi-<lb/>
tulirt lang mit mir eh ſie mich herbergen<lb/>
will; doch thut ſie’s, wiewol ungern, macht<lb/>
mir eine reinliche Streu in die Stub’ und<lb/>
tiſcht auf was ſie hat. Jndeß nehm ich<lb/>
wahr einiges feines Naͤhwerk, frag ich,<lb/>
wer das mach’. Will das Weib nicht mit<lb/>
der Sprach’ heraus; ich laß aber nicht ab<lb/>
mit Forſchen, bis ſie mir in Geheim ver-<lb/>
traut, es wohn eine junge Unbekannte bey<lb/>
ihr im Haus, ſchoͤn und lieblich von An-<lb/>
geſicht; aber von traurigem Gemuͤth, ſie<lb/>
wein’ſich bald die Augen aus, muͤß’ ihr<lb/>
ein gros Ungluͤck begegnet ſeyn. Mir wird<lb/>
warm ums Herz, kann die Nacht kein Auge<lb/>
zuthun. Verſuchs den Morgen drauf, die<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Un-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[11/0011]
Wiederum gab ich der Dichtung eine
andere Wendung, bildete mir vor, ich haͤtte
mich auf der Reiſe von der Landſtraß’ ver-
irrt, und muͤßt’ in einem kleinen Dorf
Nachtquartier ſuchen, klopft’ an, am er-
ſten beſten Bauerhaus; eine Baͤuerin kapi-
tulirt lang mit mir eh ſie mich herbergen
will; doch thut ſie’s, wiewol ungern, macht
mir eine reinliche Streu in die Stub’ und
tiſcht auf was ſie hat. Jndeß nehm ich
wahr einiges feines Naͤhwerk, frag ich,
wer das mach’. Will das Weib nicht mit
der Sprach’ heraus; ich laß aber nicht ab
mit Forſchen, bis ſie mir in Geheim ver-
traut, es wohn eine junge Unbekannte bey
ihr im Haus, ſchoͤn und lieblich von An-
geſicht; aber von traurigem Gemuͤth, ſie
wein’ ſich bald die Augen aus, muͤß’ ihr
ein gros Ungluͤck begegnet ſeyn. Mir wird
warm ums Herz, kann die Nacht kein Auge
zuthun. Verſuchs den Morgen drauf, die
Un-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/11>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.