es eine schnerzliche Operation geben möcht', eh ich ihrer wieder ledig würd: denn aus der Prozeder, die meine Seel diesen Mor- gen vornalm, merkt ich, daß ich noch fest an der Leire hing, und dieser nachschwim- men mußt, wohin 's gieng. Daß mich die Liebe so gängeln würde, dacht ich nicht, so lang mein Plan ungestöhrt blieb; aber so bald das Kartenhaus einstürzt', empfand ichs zur Gnüge. Bin gleichwol kein Jüng- ling, der eben aufbraußt, hab die ersten Hörner lang verstoßen, und sticht schon manch graues Haar aus meinem Bart her- vor. Dacht' nicht, daß der Trieb, der so lang in mir verborgen schlief, nun erst an- fangen werd' zu vegetiren, und daß ich so spät noch effloresciren sollt wie eine Aloe, die wohl vierzig Jahr als ein kaltes phleg- matisches Gewächs im Treibhaus steht, und deren dicht verschloßner Kern hernach auf einmal platzt und einen Stengel treibt.
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es eine ſchnerzliche Operation geben moͤcht’, eh ich ihrer wieder ledig wuͤrd: denn aus der Prozeder, die meine Seel dieſen Mor- gen vornalm, merkt ich, daß ich noch feſt an der Leire hing, und dieſer nachſchwim- men mußt, wohin ’s gieng. Daß mich die Liebe ſo gaͤngeln wuͤrde, dacht ich nicht, ſo lang mein Plan ungeſtoͤhrt blieb; aber ſo bald das Kartenhaus einſtuͤrzt’, empfand ichs zur Gnuͤge. Bin gleichwol kein Juͤng- ling, der eben aufbraußt, hab die erſten Hoͤrner lang verſtoßen, und ſticht ſchon manch graues Haar aus meinem Bart her- vor. Dacht’ nicht, daß der Trieb, der ſo lang in mir verborgen ſchlief, nun erſt an- fangen werd’ zu vegetiren, und daß ich ſo ſpaͤt noch effloreſciren ſollt wie eine Aloe, die wohl vierzig Jahr als ein kaltes phleg- matiſches Gewaͤchs im Treibhaus ſteht, und deren dicht verſchloßner Kern hernach auf einmal platzt und einen Stengel treibt.
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es eine ſchnerzliche Operation geben moͤcht’,
eh ich ihrer wieder ledig wuͤrd: denn aus
der Prozeder, die meine Seel dieſen Mor-
gen vornalm, merkt ich, daß ich noch feſt
an der Leire hing, und dieſer nachſchwim-
men mußt, wohin ’s gieng. Daß mich die
Liebe ſo gaͤngeln wuͤrde, dacht ich nicht, ſo
lang mein Plan ungeſtoͤhrt blieb; aber ſo
bald das Kartenhaus einſtuͤrzt’, empfand
ichs zur Gnuͤge. Bin gleichwol kein Juͤng-
ling, der eben aufbraußt, hab die erſten
Hoͤrner lang verſtoßen, und ſticht ſchon
manch graues Haar aus meinem Bart her-
vor. Dacht’ nicht, daß der Trieb, der ſo
lang in mir verborgen ſchlief, nun erſt an-
fangen werd’ zu vegetiren, und daß ich ſo
ſpaͤt noch effloreſciren ſollt wie eine Aloe,
die wohl vierzig Jahr als ein kaltes phleg-
matiſches Gewaͤchs im Treibhaus ſteht,
und deren dicht verſchloßner Kern hernach
auf einmal platzt und einen Stengel treibt.
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/21>, abgerufen am 16.07.2024.
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