Aspasia, Lucretia, Arria und Zenobia un- terscheiden kann? Wenn die Lavaterische Methode die ersten Eindrücke, die eine Phy- siognomie macht, zum Punkt annimmt, von welchem das Urtheil ausgehen soll: so ist das ein gewisser Faden, und nie das rechte Ende, von dem sich der ganze Cha- rakter, oder das was in dem Menschen ist, herauswinden und entwickeln läßt. So gelangt man nie zum Zwecke, erfährt nie, was zu wissen Noth thut, nichts als allge- meine vage Urtheile, die auf- und nieder- schwanken wie dünne schaukelnde Breter, auf die man nicht sicher fußen kann. -- Eben das individuelle Gefühl, woraus Jhr Meister seine physiognomischen Urtheile her- leitet, veroffenbaret bey anscheinenden Reichthum und Ueberfluß, innre Dürftig- keit und Armuth. Zarte Nerven empfin- den tausend Dinge auf einerley Art, zum Exempel, als unangenehm und schmerz-
haft,
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Aſpaſia, Lucretia, Arria und Zenobia un- terſcheiden kann? Wenn die Lavateriſche Methode die erſten Eindruͤcke, die eine Phy- ſiognomie macht, zum Punkt annimmt, von welchem das Urtheil ausgehen ſoll: ſo iſt das ein gewiſſer Faden, und nie das rechte Ende, von dem ſich der ganze Cha- rakter, oder das was in dem Menſchen iſt, herauswinden und entwickeln laͤßt. So gelangt man nie zum Zwecke, erfaͤhrt nie, was zu wiſſen Noth thut, nichts als allge- meine vage Urtheile, die auf- und nieder- ſchwanken wie duͤnne ſchaukelnde Breter, auf die man nicht ſicher fußen kann. — Eben das individuelle Gefuͤhl, woraus Jhr Meiſter ſeine phyſiognomiſchen Urtheile her- leitet, veroffenbaret bey anſcheinenden Reichthum und Ueberfluß, innre Duͤrftig- keit und Armuth. Zarte Nerven empfin- den tauſend Dinge auf einerley Art, zum Exempel, als unangenehm und ſchmerz-
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Aſpaſia, Lucretia, Arria und Zenobia un-
terſcheiden kann? Wenn die Lavateriſche
Methode die erſten Eindruͤcke, die eine Phy-
ſiognomie macht, zum Punkt annimmt,
von welchem das Urtheil ausgehen ſoll: ſo
iſt das ein gewiſſer Faden, und nie das
rechte Ende, von dem ſich der ganze Cha-
rakter, oder das was in dem Menſchen iſt,
herauswinden und entwickeln laͤßt. So
gelangt man nie zum Zwecke, erfaͤhrt nie,
was zu wiſſen Noth thut, nichts als allge-
meine vage Urtheile, die auf- und nieder-
ſchwanken wie duͤnne ſchaukelnde Breter,
auf die man nicht ſicher fußen kann. —
Eben das individuelle Gefuͤhl, woraus Jhr
Meiſter ſeine phyſiognomiſchen Urtheile her-
leitet, veroffenbaret bey anſcheinenden
Reichthum und Ueberfluß, innre Duͤrftig-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/213>, abgerufen am 16.02.2025.
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