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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

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Aspasia, Lucretia, Arria und Zenobia un-
terscheiden kann? Wenn die Lavaterische
Methode die ersten Eindrücke, die eine Phy-
siognomie macht, zum Punkt annimmt,
von welchem das Urtheil ausgehen soll: so
ist das ein gewisser Faden, und nie das
rechte Ende, von dem sich der ganze Cha-
rakter, oder das was in dem Menschen ist,
herauswinden und entwickeln läßt. So
gelangt man nie zum Zwecke, erfährt nie,
was zu wissen Noth thut, nichts als allge-
meine vage Urtheile, die auf- und nieder-
schwanken wie dünne schaukelnde Breter,
auf die man nicht sicher fußen kann. --
Eben das individuelle Gefühl, woraus Jhr
Meister seine physiognomischen Urtheile her-
leitet, veroffenbaret bey anscheinenden
Reichthum und Ueberfluß, innre Dürftig-
keit und Armuth. Zarte Nerven empfin-
den tausend Dinge auf einerley Art, zum
Exempel, als unangenehm und schmerz-

haft,
O 3

Aſpaſia, Lucretia, Arria und Zenobia un-
terſcheiden kann? Wenn die Lavateriſche
Methode die erſten Eindruͤcke, die eine Phy-
ſiognomie macht, zum Punkt annimmt,
von welchem das Urtheil ausgehen ſoll: ſo
iſt das ein gewiſſer Faden, und nie das
rechte Ende, von dem ſich der ganze Cha-
rakter, oder das was in dem Menſchen iſt,
herauswinden und entwickeln laͤßt. So
gelangt man nie zum Zwecke, erfaͤhrt nie,
was zu wiſſen Noth thut, nichts als allge-
meine vage Urtheile, die auf- und nieder-
ſchwanken wie duͤnne ſchaukelnde Breter,
auf die man nicht ſicher fußen kann. —
Eben das individuelle Gefuͤhl, woraus Jhr
Meiſter ſeine phyſiognomiſchen Urtheile her-
leitet, veroffenbaret bey anſcheinenden
Reichthum und Ueberfluß, innre Duͤrftig-
keit und Armuth. Zarte Nerven empfin-
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[213/0213] Aſpaſia, Lucretia, Arria und Zenobia un- terſcheiden kann? Wenn die Lavateriſche Methode die erſten Eindruͤcke, die eine Phy- ſiognomie macht, zum Punkt annimmt, von welchem das Urtheil ausgehen ſoll: ſo iſt das ein gewiſſer Faden, und nie das rechte Ende, von dem ſich der ganze Cha- rakter, oder das was in dem Menſchen iſt, herauswinden und entwickeln laͤßt. So gelangt man nie zum Zwecke, erfaͤhrt nie, was zu wiſſen Noth thut, nichts als allge- meine vage Urtheile, die auf- und nieder- ſchwanken wie duͤnne ſchaukelnde Breter, auf die man nicht ſicher fußen kann. — Eben das individuelle Gefuͤhl, woraus Jhr Meiſter ſeine phyſiognomiſchen Urtheile her- leitet, veroffenbaret bey anſcheinenden Reichthum und Ueberfluß, innre Duͤrftig- keit und Armuth. Zarte Nerven empfin- den tauſend Dinge auf einerley Art, zum Exempel, als unangenehm und ſchmerz- haft, O 3

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/213>, abgerufen am 21.05.2024.