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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778.

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ich, ein Kopf, worinn Genie wohnt,
aussieht wie ein mißgestalteter Schuster-
kopf, wie kann ich einem nach physio-
gnomischen Regeln abmerken, ob er sei-
nem äussern Beruf nach ein Genie oder ein
Schuster sey? Aber da wehet' mich, weil
ich eben in Leipzig war, vermuthlich von
dem Grabhügel meines ehemaligen Lehrers
des selgen Crusius, ein philosophisches Lüft-
lein an, das mir wohl zu Statten kam; fiel
mir bey das principium indiscernibilium,
an das ich in Wahrheit seit zwanzig und
mehr Jahren nicht gedacht hatte. Dadurch
wurd ich belehrt, daß bey der anscheinen-
den Aehnlichkeit zweyer Ding', so groß sie
auch sey, dennoch Merkmaale gnug übrig
bleiben, dadurch sie sich von einander un-
terscheiden, nur muß der Beobachter kein
Dreyschrittseher seyn, sondern Auge gnug
haben, den Unterschied zu bemerken, folg-
lich wird ein geübter Physiognomist den sim-

peln

ich, ein Kopf, worinn Genie wohnt,
ausſieht wie ein mißgeſtalteter Schuſter-
kopf, wie kann ich einem nach phyſio-
gnomiſchen Regeln abmerken, ob er ſei-
nem aͤuſſern Beruf nach ein Genie oder ein
Schuſter ſey? Aber da wehet’ mich, weil
ich eben in Leipzig war, vermuthlich von
dem Grabhuͤgel meines ehemaligen Lehrers
des ſelgen Cruſius, ein philoſophiſches Luͤft-
lein an, das mir wohl zu Statten kam; fiel
mir bey das principium indiſcernibilium,
an das ich in Wahrheit ſeit zwanzig und
mehr Jahren nicht gedacht hatte. Dadurch
wurd ich belehrt, daß bey der anſcheinen-
den Aehnlichkeit zweyer Ding’, ſo groß ſie
auch ſey, dennoch Merkmaale gnug uͤbrig
bleiben, dadurch ſie ſich von einander un-
terſcheiden, nur muß der Beobachter kein
Dreyſchrittſeher ſeyn, ſondern Auge gnug
haben, den Unterſchied zu bemerken, folg-
lich wird ein geuͤbter Phyſiognomiſt den ſim-

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[44/0044] ich, ein Kopf, worinn Genie wohnt, ausſieht wie ein mißgeſtalteter Schuſter- kopf, wie kann ich einem nach phyſio- gnomiſchen Regeln abmerken, ob er ſei- nem aͤuſſern Beruf nach ein Genie oder ein Schuſter ſey? Aber da wehet’ mich, weil ich eben in Leipzig war, vermuthlich von dem Grabhuͤgel meines ehemaligen Lehrers des ſelgen Cruſius, ein philoſophiſches Luͤft- lein an, das mir wohl zu Statten kam; fiel mir bey das principium indiſcernibilium, an das ich in Wahrheit ſeit zwanzig und mehr Jahren nicht gedacht hatte. Dadurch wurd ich belehrt, daß bey der anſcheinen- den Aehnlichkeit zweyer Ding’, ſo groß ſie auch ſey, dennoch Merkmaale gnug uͤbrig bleiben, dadurch ſie ſich von einander un- terſcheiden, nur muß der Beobachter kein Dreyſchrittſeher ſeyn, ſondern Auge gnug haben, den Unterſchied zu bemerken, folg- lich wird ein geuͤbter Phyſiognomiſt den ſim- peln

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/44>, abgerufen am 30.04.2024.