Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

Bild:
<< vorherige Seite



edelgesinntes Gemüth beym Wohlthun empfindet,
sagte: "Loben Sie mich einer Kleinigkeit wegen nicht
"allzusehr. Jch habe nur eine sehr gemeine Pflicht
"beobachtet. Oder glauben Sie, daß eine weibliche
"Seele nicht so leicht solcher Empfindungen fähig sey,
"die billig ein jeder Mensch haben sollte.

Jndem sie dieses sagte, warf sie, ohne es selbst zu
wissen, auf Säuglingen einen Blick, der seine ganze
Seele traf. Diejenigen, auf die jemals ein solcher
Blick geworfen worden, versichern, daß er tief em-
pfunden werde, aber daß sich seine Wirkung nicht
beschreiben lasse. Der sel. Professor Stiebritz würde
ihn vielleicht folgendermaßen definirt haben: "Es sey
"ein Blick gewesen, durch welchen auf einmahl Säug-
"lings
symbolische Kenntniß von Marianens Voll-
"kommenheiten, anschauend geworden sey." So
viel ist gewiß, daß von diesem Augenblicke an, mit
seiner Hochachtung für Marianen, eine wahre
Freundschaft verknüpft ward. Wann nun, wie man
sagt, die Freundschaft zwischen Personen zweyerley
Geschlechts, sehr bald einen viel zärtlichern Namen
zu verdienen pflegt, so ging in diesem Augenblicke in
Säuglings Herzen eine Veränderung vor, deren
ganze Wichtigkeit er erst in der Folge spürte.

Fünf-



edelgeſinntes Gemuͤth beym Wohlthun empfindet,
ſagte: „Loben Sie mich einer Kleinigkeit wegen nicht
„allzuſehr. Jch habe nur eine ſehr gemeine Pflicht
„beobachtet. Oder glauben Sie, daß eine weibliche
„Seele nicht ſo leicht ſolcher Empfindungen faͤhig ſey,
„die billig ein jeder Menſch haben ſollte.

Jndem ſie dieſes ſagte, warf ſie, ohne es ſelbſt zu
wiſſen, auf Saͤuglingen einen Blick, der ſeine ganze
Seele traf. Diejenigen, auf die jemals ein ſolcher
Blick geworfen worden, verſichern, daß er tief em-
pfunden werde, aber daß ſich ſeine Wirkung nicht
beſchreiben laſſe. Der ſel. Profeſſor Stiebritz wuͤrde
ihn vielleicht folgendermaßen definirt haben: „Es ſey
„ein Blick geweſen, durch welchen auf einmahl Saͤug-
„lings
ſymboliſche Kenntniß von Marianens Voll-
„kommenheiten, anſchauend geworden ſey.‟ So
viel iſt gewiß, daß von dieſem Augenblicke an, mit
ſeiner Hochachtung fuͤr Marianen, eine wahre
Freundſchaft verknuͤpft ward. Wann nun, wie man
ſagt, die Freundſchaft zwiſchen Perſonen zweyerley
Geſchlechts, ſehr bald einen viel zaͤrtlichern Namen
zu verdienen pflegt, ſo ging in dieſem Augenblicke in
Saͤuglings Herzen eine Veraͤnderung vor, deren
ganze Wichtigkeit er erſt in der Folge ſpuͤrte.

Fuͤnf-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0232" n="206"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
edelge&#x017F;inntes Gemu&#x0364;th beym Wohlthun empfindet,<lb/>
&#x017F;agte: &#x201E;Loben Sie mich einer Kleinigkeit wegen nicht<lb/>
&#x201E;allzu&#x017F;ehr. Jch habe nur eine &#x017F;ehr gemeine Pflicht<lb/>
&#x201E;beobachtet. Oder glauben Sie, daß eine weibliche<lb/>
&#x201E;Seele nicht &#x017F;o leicht &#x017F;olcher Empfindungen fa&#x0364;hig &#x017F;ey,<lb/>
&#x201E;die billig ein jeder Men&#x017F;ch haben &#x017F;ollte.</p><lb/>
          <p>Jndem &#x017F;ie die&#x017F;es &#x017F;agte, warf &#x017F;ie, ohne es &#x017F;elb&#x017F;t zu<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en, auf <hi rendition="#fr">Sa&#x0364;uglingen</hi> einen Blick, der &#x017F;eine ganze<lb/>
Seele traf. Diejenigen, auf die jemals ein &#x017F;olcher<lb/>
Blick geworfen worden, ver&#x017F;ichern, daß er tief em-<lb/>
pfunden werde, aber daß &#x017F;ich &#x017F;eine Wirkung nicht<lb/>
be&#x017F;chreiben la&#x017F;&#x017F;e. Der &#x017F;el. Profe&#x017F;&#x017F;or <hi rendition="#fr">Stiebritz</hi> wu&#x0364;rde<lb/>
ihn vielleicht folgendermaßen definirt haben: &#x201E;Es &#x017F;ey<lb/>
&#x201E;ein Blick gewe&#x017F;en, durch welchen auf einmahl <hi rendition="#fr">Sa&#x0364;ug-<lb/>
&#x201E;lings</hi> &#x017F;ymboli&#x017F;che Kenntniß von <hi rendition="#fr">Marianens</hi> Voll-<lb/>
&#x201E;kommenheiten, an&#x017F;chauend geworden &#x017F;ey.&#x201F; So<lb/>
viel i&#x017F;t gewiß, daß von die&#x017F;em Augenblicke an, mit<lb/>
&#x017F;einer Hochachtung fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">Marianen,</hi> eine wahre<lb/>
Freund&#x017F;chaft verknu&#x0364;pft ward. Wann nun, wie man<lb/>
&#x017F;agt, die Freund&#x017F;chaft zwi&#x017F;chen Per&#x017F;onen zweyerley<lb/>
Ge&#x017F;chlechts, &#x017F;ehr bald einen viel za&#x0364;rtlichern Namen<lb/>
zu verdienen pflegt, &#x017F;o ging in die&#x017F;em Augenblicke in<lb/><hi rendition="#fr">Sa&#x0364;uglings</hi> Herzen eine Vera&#x0364;nderung vor, deren<lb/>
ganze Wichtigkeit er er&#x017F;t in der Folge &#x017F;pu&#x0364;rte.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Fu&#x0364;nf-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[206/0232] edelgeſinntes Gemuͤth beym Wohlthun empfindet, ſagte: „Loben Sie mich einer Kleinigkeit wegen nicht „allzuſehr. Jch habe nur eine ſehr gemeine Pflicht „beobachtet. Oder glauben Sie, daß eine weibliche „Seele nicht ſo leicht ſolcher Empfindungen faͤhig ſey, „die billig ein jeder Menſch haben ſollte. Jndem ſie dieſes ſagte, warf ſie, ohne es ſelbſt zu wiſſen, auf Saͤuglingen einen Blick, der ſeine ganze Seele traf. Diejenigen, auf die jemals ein ſolcher Blick geworfen worden, verſichern, daß er tief em- pfunden werde, aber daß ſich ſeine Wirkung nicht beſchreiben laſſe. Der ſel. Profeſſor Stiebritz wuͤrde ihn vielleicht folgendermaßen definirt haben: „Es ſey „ein Blick geweſen, durch welchen auf einmahl Saͤug- „lings ſymboliſche Kenntniß von Marianens Voll- „kommenheiten, anſchauend geworden ſey.‟ So viel iſt gewiß, daß von dieſem Augenblicke an, mit ſeiner Hochachtung fuͤr Marianen, eine wahre Freundſchaft verknuͤpft ward. Wann nun, wie man ſagt, die Freundſchaft zwiſchen Perſonen zweyerley Geſchlechts, ſehr bald einen viel zaͤrtlichern Namen zu verdienen pflegt, ſo ging in dieſem Augenblicke in Saͤuglings Herzen eine Veraͤnderung vor, deren ganze Wichtigkeit er erſt in der Folge ſpuͤrte. Fuͤnf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/232
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/232>, abgerufen am 14.05.2024.