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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

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gung gegen ein gemeines Mädchen. Der armen
Mariane aber machte sie die bittersten Vorwürfe,
daß sie einen jungen Menschen von Stande ver-
führen wollte, welchen Ausdruck sie oft wiederholte.
Sie verbot ihr aufs nachdrücklichste, ihren Neffen je
wieder allein zu sehen, und ließ sie auch von der Zeit
an nicht einen Augenblick aus den Augen.

Jndeßen würde ihr freilich diese genaue Aufsicht
auf zwey Liebende bald sehr beschwerlich geworden seyn,
wenn nicht zween Tage darauf Hr. Rambold, der
Hofmeister den der alte Säugling seinem Sohn
sendete, angelanget wäre. Sie säumte also nicht, son-
dern schickte beide nach ein paar Tagen, auf die Uni-
versität wohin sie bestimmt waren, und empfahl
dem Hofmeister, auf Säuglings Aufführung ein
wachsames Auge zu haben.

Der verliebte Säugling war trostlos. Seine
Seele schmolz von Zärtlichkeit, aber war auch von
Zärtlichkeit so voll, daß kein einziger Gedanken, wie
es möglich seyn sollte, sie zu sehen, darin Platz fin-
den konnte. Je mehr er daran dachte, desto unmög-
licher schien es ihm. Jhm fiel keines von den sinn-
reichen Mitteln ein, die die Romanenschreiber unse-
rer lehrbegierigen Jugend so freigebig an die Hand
geben. Z. B. auf einer Strickleiter ins Fenster zu

kriechen;



gung gegen ein gemeines Maͤdchen. Der armen
Mariane aber machte ſie die bitterſten Vorwuͤrfe,
daß ſie einen jungen Menſchen von Stande ver-
fuͤhren wollte, welchen Ausdruck ſie oft wiederholte.
Sie verbot ihr aufs nachdruͤcklichſte, ihren Neffen je
wieder allein zu ſehen, und ließ ſie auch von der Zeit
an nicht einen Augenblick aus den Augen.

Jndeßen wuͤrde ihr freilich dieſe genaue Aufſicht
auf zwey Liebende bald ſehr beſchwerlich geworden ſeyn,
wenn nicht zween Tage darauf Hr. Rambold, der
Hofmeiſter den der alte Saͤugling ſeinem Sohn
ſendete, angelanget waͤre. Sie ſaͤumte alſo nicht, ſon-
dern ſchickte beide nach ein paar Tagen, auf die Uni-
verſitaͤt wohin ſie beſtimmt waren, und empfahl
dem Hofmeiſter, auf Saͤuglings Auffuͤhrung ein
wachſames Auge zu haben.

Der verliebte Saͤugling war troſtlos. Seine
Seele ſchmolz von Zaͤrtlichkeit, aber war auch von
Zaͤrtlichkeit ſo voll, daß kein einziger Gedanken, wie
es moͤglich ſeyn ſollte, ſie zu ſehen, darin Platz fin-
den konnte. Je mehr er daran dachte, deſto unmoͤg-
licher ſchien es ihm. Jhm fiel keines von den ſinn-
reichen Mitteln ein, die die Romanenſchreiber unſe-
rer lehrbegierigen Jugend ſo freigebig an die Hand
geben. Z. B. auf einer Strickleiter ins Fenſter zu

kriechen;
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[218/0244] gung gegen ein gemeines Maͤdchen. Der armen Mariane aber machte ſie die bitterſten Vorwuͤrfe, daß ſie einen jungen Menſchen von Stande ver- fuͤhren wollte, welchen Ausdruck ſie oft wiederholte. Sie verbot ihr aufs nachdruͤcklichſte, ihren Neffen je wieder allein zu ſehen, und ließ ſie auch von der Zeit an nicht einen Augenblick aus den Augen. Jndeßen wuͤrde ihr freilich dieſe genaue Aufſicht auf zwey Liebende bald ſehr beſchwerlich geworden ſeyn, wenn nicht zween Tage darauf Hr. Rambold, der Hofmeiſter den der alte Saͤugling ſeinem Sohn ſendete, angelanget waͤre. Sie ſaͤumte alſo nicht, ſon- dern ſchickte beide nach ein paar Tagen, auf die Uni- verſitaͤt wohin ſie beſtimmt waren, und empfahl dem Hofmeiſter, auf Saͤuglings Auffuͤhrung ein wachſames Auge zu haben. Der verliebte Saͤugling war troſtlos. Seine Seele ſchmolz von Zaͤrtlichkeit, aber war auch von Zaͤrtlichkeit ſo voll, daß kein einziger Gedanken, wie es moͤglich ſeyn ſollte, ſie zu ſehen, darin Platz fin- den konnte. Je mehr er daran dachte, deſto unmoͤg- licher ſchien es ihm. Jhm fiel keines von den ſinn- reichen Mitteln ein, die die Romanenſchreiber unſe- rer lehrbegierigen Jugend ſo freigebig an die Hand geben. Z. B. auf einer Strickleiter ins Fenſter zu kriechen;

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/244>, abgerufen am 24.11.2024.