Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

Bild:
<< vorherige Seite



kriechen; sich in einen Kasten sperren und zu ihr brin-
gen zu lassen; einen doppelten Schlüßel machen zu
laßen, um ihre Thüre zu öfnen; ja nicht einmahl die
einfältigen auch außer Romanen so oft ausgeübten
Mittel, das Kammermädchen zu bestechen, oder unter
dem Fenster der Schönen hin und her zu spazieren,
und so lange zu husten oder zu pfeifen, bis sie am Fen-
ster erscheine. Da ihm also gar kein Mittel in den
Sinn kommen wollte, so muste er mit schwerem Her-
zen abreisen, ohne seine Geliebte zu sehen und von ihr
Abschied zu nehmen.

Als er an den Ort seiner Bestimmung ankam,
nahm seine Traurigkeit sehr zu. Er wendete sich zu
seiner gewöhnlichen Zuflucht, der Dichtkunst, und schrieb
eine Heroide unter dem Namen des Leander an die
Hero, in welcher er seinen ganzen zärtlichen Schmerz
über die Abwesenheit seiner Geliebten auszudrücken
suchte. Nachdem er damit meist fertig war, fiel ihm
plötzlich der Gedanken ein, daß er nicht die geringste
Hofnung habe, diese Epistel seiner Geliebten in die
Hände zu bringen. Er ging mit dem Papier in der
Hand in seinem Zimmer so tiefsinnig auf und nieder
spatzieren, daß er seinen Hofmeister nicht eher erblickte,
als bis er vor ihm stand, ihm das Papier aus der
Hand uahm, und es lächelnd durchlas.

Säug-



kriechen; ſich in einen Kaſten ſperren und zu ihr brin-
gen zu laſſen; einen doppelten Schluͤßel machen zu
laßen, um ihre Thuͤre zu oͤfnen; ja nicht einmahl die
einfaͤltigen auch außer Romanen ſo oft ausgeuͤbten
Mittel, das Kammermaͤdchen zu beſtechen, oder unter
dem Fenſter der Schoͤnen hin und her zu ſpazieren,
und ſo lange zu huſten oder zu pfeifen, bis ſie am Fen-
ſter erſcheine. Da ihm alſo gar kein Mittel in den
Sinn kommen wollte, ſo muſte er mit ſchwerem Her-
zen abreiſen, ohne ſeine Geliebte zu ſehen und von ihr
Abſchied zu nehmen.

Als er an den Ort ſeiner Beſtimmung ankam,
nahm ſeine Traurigkeit ſehr zu. Er wendete ſich zu
ſeiner gewoͤhnlichen Zuflucht, der Dichtkunſt, und ſchrieb
eine Heroide unter dem Namen des Leander an die
Hero, in welcher er ſeinen ganzen zaͤrtlichen Schmerz
uͤber die Abweſenheit ſeiner Geliebten auszudruͤcken
ſuchte. Nachdem er damit meiſt fertig war, fiel ihm
ploͤtzlich der Gedanken ein, daß er nicht die geringſte
Hofnung habe, dieſe Epiſtel ſeiner Geliebten in die
Haͤnde zu bringen. Er ging mit dem Papier in der
Hand in ſeinem Zimmer ſo tiefſinnig auf und nieder
ſpatzieren, daß er ſeinen Hofmeiſter nicht eher erblickte,
als bis er vor ihm ſtand, ihm das Papier aus der
Hand uahm, und es laͤchelnd durchlas.

Saͤug-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0245" n="219"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
kriechen; &#x017F;ich in einen Ka&#x017F;ten &#x017F;perren und zu ihr brin-<lb/>
gen zu la&#x017F;&#x017F;en; einen doppelten Schlu&#x0364;ßel machen zu<lb/>
laßen, um ihre Thu&#x0364;re zu o&#x0364;fnen; ja nicht einmahl die<lb/>
einfa&#x0364;ltigen auch außer Romanen &#x017F;o oft ausgeu&#x0364;bten<lb/>
Mittel, das Kammerma&#x0364;dchen zu be&#x017F;techen, oder unter<lb/>
dem Fen&#x017F;ter der Scho&#x0364;nen hin und her zu &#x017F;pazieren,<lb/>
und &#x017F;o lange zu hu&#x017F;ten oder zu pfeifen, bis &#x017F;ie am Fen-<lb/>
&#x017F;ter er&#x017F;cheine. Da ihm al&#x017F;o gar kein Mittel in den<lb/>
Sinn kommen wollte, &#x017F;o mu&#x017F;te er mit &#x017F;chwerem Her-<lb/>
zen abrei&#x017F;en, ohne &#x017F;eine Geliebte zu &#x017F;ehen und von ihr<lb/>
Ab&#x017F;chied zu nehmen.</p><lb/>
          <p>Als er an den Ort &#x017F;einer Be&#x017F;timmung ankam,<lb/>
nahm &#x017F;eine Traurigkeit &#x017F;ehr zu. Er wendete &#x017F;ich zu<lb/>
&#x017F;einer gewo&#x0364;hnlichen Zuflucht, der Dichtkun&#x017F;t, und &#x017F;chrieb<lb/>
eine Heroide unter dem Namen des <hi rendition="#fr">Leander</hi> an die<lb/><hi rendition="#fr">Hero,</hi> in welcher er &#x017F;einen ganzen za&#x0364;rtlichen Schmerz<lb/>
u&#x0364;ber die Abwe&#x017F;enheit &#x017F;einer Geliebten auszudru&#x0364;cken<lb/>
&#x017F;uchte. Nachdem er damit mei&#x017F;t fertig war, fiel ihm<lb/>
plo&#x0364;tzlich der Gedanken ein, daß er nicht die gering&#x017F;te<lb/>
Hofnung habe, die&#x017F;e Epi&#x017F;tel &#x017F;einer Geliebten in die<lb/>
Ha&#x0364;nde zu bringen. Er ging mit dem Papier in der<lb/>
Hand in &#x017F;einem Zimmer &#x017F;o tief&#x017F;innig auf und nieder<lb/>
&#x017F;patzieren, daß er &#x017F;einen Hofmei&#x017F;ter nicht eher erblickte,<lb/>
als bis er vor ihm &#x017F;tand, ihm das Papier aus der<lb/>
Hand uahm, und es la&#x0364;chelnd durchlas.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#fr">Sa&#x0364;ug-</hi> </fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0245] kriechen; ſich in einen Kaſten ſperren und zu ihr brin- gen zu laſſen; einen doppelten Schluͤßel machen zu laßen, um ihre Thuͤre zu oͤfnen; ja nicht einmahl die einfaͤltigen auch außer Romanen ſo oft ausgeuͤbten Mittel, das Kammermaͤdchen zu beſtechen, oder unter dem Fenſter der Schoͤnen hin und her zu ſpazieren, und ſo lange zu huſten oder zu pfeifen, bis ſie am Fen- ſter erſcheine. Da ihm alſo gar kein Mittel in den Sinn kommen wollte, ſo muſte er mit ſchwerem Her- zen abreiſen, ohne ſeine Geliebte zu ſehen und von ihr Abſchied zu nehmen. Als er an den Ort ſeiner Beſtimmung ankam, nahm ſeine Traurigkeit ſehr zu. Er wendete ſich zu ſeiner gewoͤhnlichen Zuflucht, der Dichtkunſt, und ſchrieb eine Heroide unter dem Namen des Leander an die Hero, in welcher er ſeinen ganzen zaͤrtlichen Schmerz uͤber die Abweſenheit ſeiner Geliebten auszudruͤcken ſuchte. Nachdem er damit meiſt fertig war, fiel ihm ploͤtzlich der Gedanken ein, daß er nicht die geringſte Hofnung habe, dieſe Epiſtel ſeiner Geliebten in die Haͤnde zu bringen. Er ging mit dem Papier in der Hand in ſeinem Zimmer ſo tiefſinnig auf und nieder ſpatzieren, daß er ſeinen Hofmeiſter nicht eher erblickte, als bis er vor ihm ſtand, ihm das Papier aus der Hand uahm, und es laͤchelnd durchlas. Saͤug-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/245
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/245>, abgerufen am 21.11.2024.