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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

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heelen dürfen. Sie erröthete und erschrack vor sich
selbst. Je mehr sie, in den süßen Vorstellungen ihrer
Einbildungskraft, eine Gelegenheit gewünscht hatte
die Feder ansetzen zu können, um ihre innerste Nei-
gungen auszudrücken, desto mehr sank sie ihr nieder
so bald sie sie wirklich ansetzen wolte, und je öfter sie
es versuchte, desto mehr verlohr sie den Muth es zu
wagen. Auch half es nichts, daß das Kammermäd-
gen ihr öfters zuredete, ihr auf den Brief eine Ant-
wort zu geben. Vielmehr da das dienstwillige Mäd-
chen, der die feinen Scrupel die Marianens Ge-
müth beunruhigten in ihrem Leben nie in den Sinn
gekommen waren, die ganze Sache sehr auf die leichte
Achsel nahm; so konnte dies vielleicht einige widrige
Wirkung thun, indem Marianens Delicatesse be-
wogen ward diese Sache von einer Seite zu betrach-
ten, von der sie bald den Blick wegwandte, aus Furcht
allzusehr darüber nachzudenken.

Sechster Abschnitt.

Säugling war von allem Troste verlassen, als er
erfuhr, daß Mariane weder seine Poesie noch
seine Prose einer Antwort würdigen wollte. Er hielt
sich für den unglücklichsten unter allen Menschen, und

wuste



heelen duͤrfen. Sie erroͤthete und erſchrack vor ſich
ſelbſt. Je mehr ſie, in den ſuͤßen Vorſtellungen ihrer
Einbildungskraft, eine Gelegenheit gewuͤnſcht hatte
die Feder anſetzen zu koͤnnen, um ihre innerſte Nei-
gungen auszudruͤcken, deſto mehr ſank ſie ihr nieder
ſo bald ſie ſie wirklich anſetzen wolte, und je oͤfter ſie
es verſuchte, deſto mehr verlohr ſie den Muth es zu
wagen. Auch half es nichts, daß das Kammermaͤd-
gen ihr oͤfters zuredete, ihr auf den Brief eine Ant-
wort zu geben. Vielmehr da das dienſtwillige Maͤd-
chen, der die feinen Scrupel die Marianens Ge-
muͤth beunruhigten in ihrem Leben nie in den Sinn
gekommen waren, die ganze Sache ſehr auf die leichte
Achſel nahm; ſo konnte dies vielleicht einige widrige
Wirkung thun, indem Marianens Delicateſſe be-
wogen ward dieſe Sache von einer Seite zu betrach-
ten, von der ſie bald den Blick wegwandte, aus Furcht
allzuſehr daruͤber nachzudenken.

Sechster Abſchnitt.

Saͤugling war von allem Troſte verlaſſen, als er
erfuhr, daß Mariane weder ſeine Poeſie noch
ſeine Proſe einer Antwort wuͤrdigen wollte. Er hielt
ſich fuͤr den ungluͤcklichſten unter allen Menſchen, und

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[224/0250] heelen duͤrfen. Sie erroͤthete und erſchrack vor ſich ſelbſt. Je mehr ſie, in den ſuͤßen Vorſtellungen ihrer Einbildungskraft, eine Gelegenheit gewuͤnſcht hatte die Feder anſetzen zu koͤnnen, um ihre innerſte Nei- gungen auszudruͤcken, deſto mehr ſank ſie ihr nieder ſo bald ſie ſie wirklich anſetzen wolte, und je oͤfter ſie es verſuchte, deſto mehr verlohr ſie den Muth es zu wagen. Auch half es nichts, daß das Kammermaͤd- gen ihr oͤfters zuredete, ihr auf den Brief eine Ant- wort zu geben. Vielmehr da das dienſtwillige Maͤd- chen, der die feinen Scrupel die Marianens Ge- muͤth beunruhigten in ihrem Leben nie in den Sinn gekommen waren, die ganze Sache ſehr auf die leichte Achſel nahm; ſo konnte dies vielleicht einige widrige Wirkung thun, indem Marianens Delicateſſe be- wogen ward dieſe Sache von einer Seite zu betrach- ten, von der ſie bald den Blick wegwandte, aus Furcht allzuſehr daruͤber nachzudenken. Sechster Abſchnitt. Saͤugling war von allem Troſte verlaſſen, als er erfuhr, daß Mariane weder ſeine Poeſie noch ſeine Proſe einer Antwort wuͤrdigen wollte. Er hielt ſich fuͤr den ungluͤcklichſten unter allen Menſchen, und wuſte

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/250>, abgerufen am 21.11.2024.