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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773.

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gemeiniglich zu eben der Zeit über ein Gesicht aus der
Apocalypse geschwitzt hatte, so schmeckte er entweder
den Fehler der Speise nicht, oder nahm ihn ganz gut-
herzig auf sich, weil er glaubte, er habe auf sich allzu-
lange warten laßen. So gebiert das Bewustseyn
eigener Schwachheiten Toleranz, und Toleranz ge-
biert Liebe.

Jm Anfange freilich verursachten, die sich gerade
entgegen gesetzten gelehrten Meinungen beider Ehe-
leute, unter ihnen manchen heftigen Zwist, so bald aber
nur die beiderseitige Zuneigung stärker geworden war,
so konten die verschiedenen Meinungen nicht mehr
den Wachsthum ihrer Liebe hindern. Auf die Phi-
losophie, über die sie sich so oft ohne Erfolg gestritten
hatten, liessen sie sich ferner gar nicht ein. Hingegen
ließ sich Sebaldus zuweilen gefallen, von Wilhel-
minen
ein Stück aus einem neuen deutschen Schrift-
steller vorlesen zu hören, (denn wider die französischen
Schriften hatte er sich allzudeutlich erkläret, als
daß sie sich derselben zu erwähnen getrauet hätte,)
Wilhelmine war auch zuweilen so gefällig, von ihrem
Manne ein Stück seiner neuen Erklärung der Apoca-
lypse mit Parallelstellen aus P. Daniels Geschichte
bestärkt, sich vorlesen zu lassen. Sie rief wohl zuwei-
len aus: "sinnreich! wirklich sehr sinnreich!" Mit

diesem



gemeiniglich zu eben der Zeit uͤber ein Geſicht aus der
Apocalypſe geſchwitzt hatte, ſo ſchmeckte er entweder
den Fehler der Speiſe nicht, oder nahm ihn ganz gut-
herzig auf ſich, weil er glaubte, er habe auf ſich allzu-
lange warten laßen. So gebiert das Bewuſtſeyn
eigener Schwachheiten Toleranz, und Toleranz ge-
biert Liebe.

Jm Anfange freilich verurſachten, die ſich gerade
entgegen geſetzten gelehrten Meinungen beider Ehe-
leute, unter ihnen manchen heftigen Zwiſt, ſo bald aber
nur die beiderſeitige Zuneigung ſtaͤrker geworden war,
ſo konten die verſchiedenen Meinungen nicht mehr
den Wachsthum ihrer Liebe hindern. Auf die Phi-
loſophie, uͤber die ſie ſich ſo oft ohne Erfolg geſtritten
hatten, lieſſen ſie ſich ferner gar nicht ein. Hingegen
ließ ſich Sebaldus zuweilen gefallen, von Wilhel-
minen
ein Stuͤck aus einem neuen deutſchen Schrift-
ſteller vorleſen zu hoͤren, (denn wider die franzoͤſiſchen
Schriften hatte er ſich allzudeutlich erklaͤret, als
daß ſie ſich derſelben zu erwaͤhnen getrauet haͤtte,)
Wilhelmine war auch zuweilen ſo gefaͤllig, von ihrem
Manne ein Stuͤck ſeiner neuen Erklaͤrung der Apoca-
lypſe mit Parallelſtellen aus P. Daniels Geſchichte
beſtaͤrkt, ſich vorleſen zu laſſen. Sie rief wohl zuwei-
len aus: „ſinnreich! wirklich ſehr ſinnreich!‟ Mit

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[14/0034] gemeiniglich zu eben der Zeit uͤber ein Geſicht aus der Apocalypſe geſchwitzt hatte, ſo ſchmeckte er entweder den Fehler der Speiſe nicht, oder nahm ihn ganz gut- herzig auf ſich, weil er glaubte, er habe auf ſich allzu- lange warten laßen. So gebiert das Bewuſtſeyn eigener Schwachheiten Toleranz, und Toleranz ge- biert Liebe. Jm Anfange freilich verurſachten, die ſich gerade entgegen geſetzten gelehrten Meinungen beider Ehe- leute, unter ihnen manchen heftigen Zwiſt, ſo bald aber nur die beiderſeitige Zuneigung ſtaͤrker geworden war, ſo konten die verſchiedenen Meinungen nicht mehr den Wachsthum ihrer Liebe hindern. Auf die Phi- loſophie, uͤber die ſie ſich ſo oft ohne Erfolg geſtritten hatten, lieſſen ſie ſich ferner gar nicht ein. Hingegen ließ ſich Sebaldus zuweilen gefallen, von Wilhel- minen ein Stuͤck aus einem neuen deutſchen Schrift- ſteller vorleſen zu hoͤren, (denn wider die franzoͤſiſchen Schriften hatte er ſich allzudeutlich erklaͤret, als daß ſie ſich derſelben zu erwaͤhnen getrauet haͤtte,) Wilhelmine war auch zuweilen ſo gefaͤllig, von ihrem Manne ein Stuͤck ſeiner neuen Erklaͤrung der Apoca- lypſe mit Parallelſtellen aus P. Daniels Geſchichte beſtaͤrkt, ſich vorleſen zu laſſen. Sie rief wohl zuwei- len aus: „ſinnreich! wirklich ſehr ſinnreich!‟ Mit dieſem

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 1. Berlin u. a., 1773, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker01_1773/34>, abgerufen am 28.04.2024.