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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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ginus 47) kann gar nichts gelten; und das alte Bündniß
der Herniker mit den Latinern, ihre ewige Feindschaft ge-
gen die benachbarten Ausoner (die Volsker und Aequer),
beweisen nicht für Stammverwandtschaft und Verschieden-
heit, wie denn auch dorische und böotische Städte mit den
Atheniensern gegen die ihrigen verbündet waren. Riesen-
mauern haben ihre Städte mit dem latinischen Präneste,
mit volskischen, und dem marsischen Alba gemein: alle
diese Stämme bewohnten einen Bau älterer Vorzeit, den
sie aufzuführen nicht vermocht hätten.

Die Aboriginer werden von Sallust und Virgil als
Wilde geschildert, welche in Horden, ohne Gesetz, ohne
Ackerbau, von der Jagd und wilden Früchten lebten.
Dies scheint aber nichts anderes als eine Speculation über
den Fortgang der Menschen aus thierischer Rohheit zur
Cultur zu seyn, dergleichen in dem letztverflossenen halben
Jahrhundert, ohne den Zustand thierischer Sprachlosig-
keit zu vergessen, unter dem angeblichen Nahmen philoso-
phischer Geschichte, doch vorzüglich im Ausland, bis zum
Ekel wiederholt worden sind. Es wimmelt von Citaten
aus Reisebeschreibungen bey diesen vorgeblichen beobach-
tenden Philosophen: aber das haben sie übersehen, daß
kein einziges Beyspiel von einem wirklich wilden Volk auf-
zuweisen ist welches frey zur Cultur übergegangen wäre,
und daß, wo die Cultur von außen aufgedrängt ward,
physisches Absterben des Stamms die Folge gewesen ist,
wie bey den Natticks, den Guaranis, den Stämmen in
Neu-Californien, und den Missionshottentotten. Denn

47) Macrobius, Saturnal. V. c. 18.

ginus 47) kann gar nichts gelten; und das alte Buͤndniß
der Herniker mit den Latinern, ihre ewige Feindſchaft ge-
gen die benachbarten Auſoner (die Volsker und Aequer),
beweiſen nicht fuͤr Stammverwandtſchaft und Verſchieden-
heit, wie denn auch doriſche und boͤotiſche Staͤdte mit den
Athenienſern gegen die ihrigen verbuͤndet waren. Rieſen-
mauern haben ihre Staͤdte mit dem latiniſchen Praͤneſte,
mit volskiſchen, und dem marſiſchen Alba gemein: alle
dieſe Staͤmme bewohnten einen Bau aͤlterer Vorzeit, den
ſie aufzufuͤhren nicht vermocht haͤtten.

Die Aboriginer werden von Salluſt und Virgil als
Wilde geſchildert, welche in Horden, ohne Geſetz, ohne
Ackerbau, von der Jagd und wilden Fruͤchten lebten.
Dies ſcheint aber nichts anderes als eine Speculation uͤber
den Fortgang der Menſchen aus thieriſcher Rohheit zur
Cultur zu ſeyn, dergleichen in dem letztverfloſſenen halben
Jahrhundert, ohne den Zuſtand thieriſcher Sprachloſig-
keit zu vergeſſen, unter dem angeblichen Nahmen philoſo-
phiſcher Geſchichte, doch vorzuͤglich im Ausland, bis zum
Ekel wiederholt worden ſind. Es wimmelt von Citaten
aus Reiſebeſchreibungen bey dieſen vorgeblichen beobach-
tenden Philoſophen: aber das haben ſie uͤberſehen, daß
kein einziges Beyſpiel von einem wirklich wilden Volk auf-
zuweiſen iſt welches frey zur Cultur uͤbergegangen waͤre,
und daß, wo die Cultur von außen aufgedraͤngt ward,
phyſiſches Abſterben des Stamms die Folge geweſen iſt,
wie bey den Natticks, den Guaranis, den Staͤmmen in
Neu-Californien, und den Miſſionshottentotten. Denn

47) Macrobius, Saturnal. V. c. 18.
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[121/0143] ginus 47) kann gar nichts gelten; und das alte Buͤndniß der Herniker mit den Latinern, ihre ewige Feindſchaft ge- gen die benachbarten Auſoner (die Volsker und Aequer), beweiſen nicht fuͤr Stammverwandtſchaft und Verſchieden- heit, wie denn auch doriſche und boͤotiſche Staͤdte mit den Athenienſern gegen die ihrigen verbuͤndet waren. Rieſen- mauern haben ihre Staͤdte mit dem latiniſchen Praͤneſte, mit volskiſchen, und dem marſiſchen Alba gemein: alle dieſe Staͤmme bewohnten einen Bau aͤlterer Vorzeit, den ſie aufzufuͤhren nicht vermocht haͤtten. Die Aboriginer werden von Salluſt und Virgil als Wilde geſchildert, welche in Horden, ohne Geſetz, ohne Ackerbau, von der Jagd und wilden Fruͤchten lebten. Dies ſcheint aber nichts anderes als eine Speculation uͤber den Fortgang der Menſchen aus thieriſcher Rohheit zur Cultur zu ſeyn, dergleichen in dem letztverfloſſenen halben Jahrhundert, ohne den Zuſtand thieriſcher Sprachloſig- keit zu vergeſſen, unter dem angeblichen Nahmen philoſo- phiſcher Geſchichte, doch vorzuͤglich im Ausland, bis zum Ekel wiederholt worden ſind. Es wimmelt von Citaten aus Reiſebeſchreibungen bey dieſen vorgeblichen beobach- tenden Philoſophen: aber das haben ſie uͤberſehen, daß kein einziges Beyſpiel von einem wirklich wilden Volk auf- zuweiſen iſt welches frey zur Cultur uͤbergegangen waͤre, und daß, wo die Cultur von außen aufgedraͤngt ward, phyſiſches Abſterben des Stamms die Folge geweſen iſt, wie bey den Natticks, den Guaranis, den Staͤmmen in Neu-Californien, und den Miſſionshottentotten. Denn 47) Macrobius, Saturnal. V. c. 18.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/143>, abgerufen am 24.11.2024.