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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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des Servius Tullius durch seine Königin ist. Wer dieses
alles umbildet wird die historischen Unmöglichkeiten weg-
schaffen: aber der Boden weicht dann ganz unter seinen
Füßen: er entsagt dem Besitz eines herrlichen Gedichts, und
tauscht inhaltsleere Willkührlichkeiten ein. Nach der Sitte
die alle römische Gebräuche auf bestimmte Männer als
ihre Urheber und bestimmte Veranlassungen zurückführt,
nennt die Sage einen Sohn des Tarquinius Priscus, der
weil er im Sabinerkriege als vierzehnjähriger Knabe einen
Feind erlegt hatte, von dem Vater öffentlich gelobt, mit
der goldnen Bulle und der Prätexta belohnt worden sey,
welche daher die Insignien der vornehmen, später aller
freygebohrnen Knaben wurden 14).

Servius Tullius, auf den die Späteren die politi-
schen, wie auf Numa die religiösen Einrichtungen als Ge-
setzgeber bezogen, gehört der Dichtung in der Geschichte
seiner Geburt und Abkunft, wahrscheinlich auch seines
Todes. Es könnte scheinen daß in jener herabwürdi-
gende Erdichtung der Patricier obwalte, die seine unad-
liche Geburt bis zum Sklavenstande erniedrigen gewollt;
vielleicht war es aber auch Gunst und Trotz der Plebejer,
die seine niedrige Geburt abzuläugnen weit entfernt wa-
ren, ihn aber dennoch als den ihrigen und ihren Wohlthä-
ter den Göttern verwandt priesen: das tragisch gräßliche
seines Todes mag Dichtung plebejisches und republikani-
sches Hasses gegen die Patricier und den letzten Tarqui-
nius seyn. Denn politischer Partheyhaß beruhigt sich

14) Plinius Historiae natur. XXXIII. c. 4. Macrobius Sa-
turn. I. c. 6.
Q 2

des Servius Tullius durch ſeine Koͤnigin iſt. Wer dieſes
alles umbildet wird die hiſtoriſchen Unmoͤglichkeiten weg-
ſchaffen: aber der Boden weicht dann ganz unter ſeinen
Fuͤßen: er entſagt dem Beſitz eines herrlichen Gedichts, und
tauſcht inhaltsleere Willkuͤhrlichkeiten ein. Nach der Sitte
die alle roͤmiſche Gebraͤuche auf beſtimmte Maͤnner als
ihre Urheber und beſtimmte Veranlaſſungen zuruͤckfuͤhrt,
nennt die Sage einen Sohn des Tarquinius Priſcus, der
weil er im Sabinerkriege als vierzehnjaͤhriger Knabe einen
Feind erlegt hatte, von dem Vater oͤffentlich gelobt, mit
der goldnen Bulle und der Praͤtexta belohnt worden ſey,
welche daher die Inſignien der vornehmen, ſpaͤter aller
freygebohrnen Knaben wurden 14).

Servius Tullius, auf den die Spaͤteren die politi-
ſchen, wie auf Numa die religioͤſen Einrichtungen als Ge-
ſetzgeber bezogen, gehoͤrt der Dichtung in der Geſchichte
ſeiner Geburt und Abkunft, wahrſcheinlich auch ſeines
Todes. Es koͤnnte ſcheinen daß in jener herabwuͤrdi-
gende Erdichtung der Patricier obwalte, die ſeine unad-
liche Geburt bis zum Sklavenſtande erniedrigen gewollt;
vielleicht war es aber auch Gunſt und Trotz der Plebejer,
die ſeine niedrige Geburt abzulaͤugnen weit entfernt wa-
ren, ihn aber dennoch als den ihrigen und ihren Wohlthaͤ-
ter den Goͤttern verwandt prieſen: das tragiſch graͤßliche
ſeines Todes mag Dichtung plebejiſches und republikani-
ſches Haſſes gegen die Patricier und den letzten Tarqui-
nius ſeyn. Denn politiſcher Partheyhaß beruhigt ſich

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turn. I. c. 6.
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[243/0265] des Servius Tullius durch ſeine Koͤnigin iſt. Wer dieſes alles umbildet wird die hiſtoriſchen Unmoͤglichkeiten weg- ſchaffen: aber der Boden weicht dann ganz unter ſeinen Fuͤßen: er entſagt dem Beſitz eines herrlichen Gedichts, und tauſcht inhaltsleere Willkuͤhrlichkeiten ein. Nach der Sitte die alle roͤmiſche Gebraͤuche auf beſtimmte Maͤnner als ihre Urheber und beſtimmte Veranlaſſungen zuruͤckfuͤhrt, nennt die Sage einen Sohn des Tarquinius Priſcus, der weil er im Sabinerkriege als vierzehnjaͤhriger Knabe einen Feind erlegt hatte, von dem Vater oͤffentlich gelobt, mit der goldnen Bulle und der Praͤtexta belohnt worden ſey, welche daher die Inſignien der vornehmen, ſpaͤter aller freygebohrnen Knaben wurden 14). Servius Tullius, auf den die Spaͤteren die politi- ſchen, wie auf Numa die religioͤſen Einrichtungen als Ge- ſetzgeber bezogen, gehoͤrt der Dichtung in der Geſchichte ſeiner Geburt und Abkunft, wahrſcheinlich auch ſeines Todes. Es koͤnnte ſcheinen daß in jener herabwuͤrdi- gende Erdichtung der Patricier obwalte, die ſeine unad- liche Geburt bis zum Sklavenſtande erniedrigen gewollt; vielleicht war es aber auch Gunſt und Trotz der Plebejer, die ſeine niedrige Geburt abzulaͤugnen weit entfernt wa- ren, ihn aber dennoch als den ihrigen und ihren Wohlthaͤ- ter den Goͤttern verwandt prieſen: das tragiſch graͤßliche ſeines Todes mag Dichtung plebejiſches und republikani- ſches Haſſes gegen die Patricier und den letzten Tarqui- nius ſeyn. Denn politiſcher Partheyhaß beruhigt ſich 14) Plinius Historiae natur. XXXIII. c. 4. Macrobius Sa- turn. I. c. 6. Q 2

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/265>, abgerufen am 15.06.2024.