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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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keineswegs wahrscheinlich daß die einfache Erzählung
einer Klage des gebeugten gewaltsamen Gemüths will-
kührlich gebildet sey: vielmehr ist es fast räthselhaft wie
sich ihr Andenken noch erhalten konnte seitdem es für
gewiß galt Coriolanus habe das aufgehobene Rache-
schwerdt freywillig zurückgezogen. Denn das hätten die
Volsker nie verzeihen können, und was in der That
Verrath an ihnen war würde ein italisches Volk schwer-
lich in großmüthigem Mitgefühl nicht als Verrath ge-
ahndet haben. Aber nicht unwahrscheinlicher als dieser
Edelmuth ist es daß sie dem Fremden gehorcht hätten,
wenn er den Rückzug befahl, da seine Siege sie dahin
geführt hatten wo auch ein geringerer Feldherr sie hätte
vollenden gekonnt.

Das ist historisch gewiß, denn die frühere Zeit und
die Folge beweisen es klar, daß grade damals Rom,
weit mehr aber Latium, von den Volskern tief gedemü-
thigt und geschwächt ward: diese Nation aber, und ihr
Brudervolk die Aequer sich zu einer Höhe erhoben wo-
rauf sie sich ein Jahrhundert behaupteten. Es mag seyn
daß C. Marcius ihre Fahnen begleitete: es ist sehr be-
greiflich daß der Nationalstolz die Schmach dieses Kriegs
dadurch zu mindern glaubte daß ein Römischer Ver-
bannter als Feldherr einen bey zahlreicher Volksmenge
sonst unbedeutenden Feind unwiderstehlich gemacht habe.
Diese Neigung aber, wenn sie sich auch den Glauben
der Nachwelt unterwarf, darf ihm doch nicht Gesetz
bleiben, wenn Zeugnisse der verhüllten Wahrheit erhal-
ten sind.


keineswegs wahrſcheinlich daß die einfache Erzaͤhlung
einer Klage des gebeugten gewaltſamen Gemuͤths will-
kuͤhrlich gebildet ſey: vielmehr iſt es faſt raͤthſelhaft wie
ſich ihr Andenken noch erhalten konnte ſeitdem es fuͤr
gewiß galt Coriolanus habe das aufgehobene Rache-
ſchwerdt freywillig zuruͤckgezogen. Denn das haͤtten die
Volsker nie verzeihen koͤnnen, und was in der That
Verrath an ihnen war wuͤrde ein italiſches Volk ſchwer-
lich in großmuͤthigem Mitgefuͤhl nicht als Verrath ge-
ahndet haben. Aber nicht unwahrſcheinlicher als dieſer
Edelmuth iſt es daß ſie dem Fremden gehorcht haͤtten,
wenn er den Ruͤckzug befahl, da ſeine Siege ſie dahin
gefuͤhrt hatten wo auch ein geringerer Feldherr ſie haͤtte
vollenden gekonnt.

Das iſt hiſtoriſch gewiß, denn die fruͤhere Zeit und
die Folge beweiſen es klar, daß grade damals Rom,
weit mehr aber Latium, von den Volskern tief gedemuͤ-
thigt und geſchwaͤcht ward: dieſe Nation aber, und ihr
Brudervolk die Aequer ſich zu einer Hoͤhe erhoben wo-
rauf ſie ſich ein Jahrhundert behaupteten. Es mag ſeyn
daß C. Marcius ihre Fahnen begleitete: es iſt ſehr be-
greiflich daß der Nationalſtolz die Schmach dieſes Kriegs
dadurch zu mindern glaubte daß ein Roͤmiſcher Ver-
bannter als Feldherr einen bey zahlreicher Volksmenge
ſonſt unbedeutenden Feind unwiderſtehlich gemacht habe.
Dieſe Neigung aber, wenn ſie ſich auch den Glauben
der Nachwelt unterwarf, darf ihm doch nicht Geſetz
bleiben, wenn Zeugniſſe der verhuͤllten Wahrheit erhal-
ten ſind.


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[441/0463] keineswegs wahrſcheinlich daß die einfache Erzaͤhlung einer Klage des gebeugten gewaltſamen Gemuͤths will- kuͤhrlich gebildet ſey: vielmehr iſt es faſt raͤthſelhaft wie ſich ihr Andenken noch erhalten konnte ſeitdem es fuͤr gewiß galt Coriolanus habe das aufgehobene Rache- ſchwerdt freywillig zuruͤckgezogen. Denn das haͤtten die Volsker nie verzeihen koͤnnen, und was in der That Verrath an ihnen war wuͤrde ein italiſches Volk ſchwer- lich in großmuͤthigem Mitgefuͤhl nicht als Verrath ge- ahndet haben. Aber nicht unwahrſcheinlicher als dieſer Edelmuth iſt es daß ſie dem Fremden gehorcht haͤtten, wenn er den Ruͤckzug befahl, da ſeine Siege ſie dahin gefuͤhrt hatten wo auch ein geringerer Feldherr ſie haͤtte vollenden gekonnt. Das iſt hiſtoriſch gewiß, denn die fruͤhere Zeit und die Folge beweiſen es klar, daß grade damals Rom, weit mehr aber Latium, von den Volskern tief gedemuͤ- thigt und geſchwaͤcht ward: dieſe Nation aber, und ihr Brudervolk die Aequer ſich zu einer Hoͤhe erhoben wo- rauf ſie ſich ein Jahrhundert behaupteten. Es mag ſeyn daß C. Marcius ihre Fahnen begleitete: es iſt ſehr be- greiflich daß der Nationalſtolz die Schmach dieſes Kriegs dadurch zu mindern glaubte daß ein Roͤmiſcher Ver- bannter als Feldherr einen bey zahlreicher Volksmenge ſonſt unbedeutenden Feind unwiderſtehlich gemacht habe. Dieſe Neigung aber, wenn ſie ſich auch den Glauben der Nachwelt unterwarf, darf ihm doch nicht Geſetz bleiben, wenn Zeugniſſe der verhuͤllten Wahrheit erhal- ten ſind.

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/463>, abgerufen am 21.11.2024.