Versandung aus den Wüsten, und Entblößung der Hö- hen und Flächen.
Man hat gesagt, es sey dem Menschengeschlecht na- türlich in geometrischer Progression anzuwachsen, und da sich die Production der Nahrungsmittel nur in arith- metischer vermehren lasse, entstehe so ein Conflict welcher es zur Pflicht mache dem Anwachs der Menschenzahl ent- gegen zu arbeiten. Die Voraussetzung ist factisch un- wahr. Ein Streben zur Vermehrung der Zahl ist freylich einerley mit dem Streben zur Erhaltung: aber dieses wird durch zwey Umstände regulirt, welche die allerverschieden- sten Resultate geben. Einmal durch die Menschenart, ja selbst durch die viel feineren Unterschiede der Volksstäm- me: und hier gewährt unter den edleren Menschenarten ein höherer Grad gesunder Belebung größere Fruchtbar- keit, wie im Gegentheil bey niedrigen Racen eine einigen eigenthümliche Prolificität erscheint, und die Chineser dar- in ihrem Lieblingshausthier gleichen. Zweitens dadurch, daß die Natur in dem Umfang eines bestimmten Bezirks nur einer gewissen Summe Menschenlebens, verschieden für verschiedene Arten und Stämme, fähig ist; dieses aber sich zu dieser Summe zu entwickeln strebt, wenn es nicht unterdrückt wird. Daher ist die Vermehrung in neu angebauten Ländern so reissend schnell, und nimmt ab in dem Verhältniß wie die Bevölkerungszahl des Flächen- inhalts zunimmt; ihr Gesetz ist das umgekehrte Verhält- niß der Volkszahl zur Quadratfläche, bis sie ein Maxi- mum erreicht, wo die Fortpflanzung selbst zur Erhaltung ungenügend wird.
Verſandung aus den Wuͤſten, und Entbloͤßung der Hoͤ- hen und Flaͤchen.
Man hat geſagt, es ſey dem Menſchengeſchlecht na- tuͤrlich in geometriſcher Progreſſion anzuwachſen, und da ſich die Production der Nahrungsmittel nur in arith- metiſcher vermehren laſſe, entſtehe ſo ein Conflict welcher es zur Pflicht mache dem Anwachs der Menſchenzahl ent- gegen zu arbeiten. Die Vorausſetzung iſt factiſch un- wahr. Ein Streben zur Vermehrung der Zahl iſt freylich einerley mit dem Streben zur Erhaltung: aber dieſes wird durch zwey Umſtaͤnde regulirt, welche die allerverſchieden- ſten Reſultate geben. Einmal durch die Menſchenart, ja ſelbſt durch die viel feineren Unterſchiede der Volksſtaͤm- me: und hier gewaͤhrt unter den edleren Menſchenarten ein hoͤherer Grad geſunder Belebung groͤßere Fruchtbar- keit, wie im Gegentheil bey niedrigen Racen eine einigen eigenthuͤmliche Prolificitaͤt erſcheint, und die Chineſer dar- in ihrem Lieblingshausthier gleichen. Zweitens dadurch, daß die Natur in dem Umfang eines beſtimmten Bezirks nur einer gewiſſen Summe Menſchenlebens, verſchieden fuͤr verſchiedene Arten und Staͤmme, faͤhig iſt; dieſes aber ſich zu dieſer Summe zu entwickeln ſtrebt, wenn es nicht unterdruͤckt wird. Daher iſt die Vermehrung in neu angebauten Laͤndern ſo reiſſend ſchnell, und nimmt ab in dem Verhaͤltniß wie die Bevoͤlkerungszahl des Flaͤchen- inhalts zunimmt; ihr Geſetz iſt das umgekehrte Verhaͤlt- niß der Volkszahl zur Quadratflaͤche, bis ſie ein Maxi- mum erreicht, wo die Fortpflanzung ſelbſt zur Erhaltung ungenuͤgend wird.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0121"n="105"/>
Verſandung aus den Wuͤſten, und Entbloͤßung der Hoͤ-<lb/>
hen und Flaͤchen.</p><lb/><p>Man hat geſagt, es ſey dem Menſchengeſchlecht na-<lb/>
tuͤrlich in geometriſcher Progreſſion anzuwachſen, und<lb/>
da ſich die Production der Nahrungsmittel nur in arith-<lb/>
metiſcher vermehren laſſe, entſtehe ſo ein Conflict welcher<lb/>
es zur Pflicht mache dem Anwachs der Menſchenzahl ent-<lb/>
gegen zu arbeiten. Die Vorausſetzung iſt factiſch un-<lb/>
wahr. Ein Streben zur Vermehrung der Zahl iſt freylich<lb/>
einerley mit dem Streben zur Erhaltung: aber dieſes wird<lb/>
durch zwey Umſtaͤnde regulirt, welche die allerverſchieden-<lb/>ſten Reſultate geben. Einmal durch die Menſchenart, ja<lb/>ſelbſt durch die viel feineren Unterſchiede der Volksſtaͤm-<lb/>
me: und hier gewaͤhrt unter den edleren Menſchenarten<lb/>
ein hoͤherer Grad geſunder Belebung groͤßere Fruchtbar-<lb/>
keit, wie im Gegentheil bey niedrigen Racen eine einigen<lb/>
eigenthuͤmliche Prolificitaͤt erſcheint, und die Chineſer dar-<lb/>
in ihrem Lieblingshausthier gleichen. Zweitens dadurch,<lb/>
daß die Natur in dem Umfang eines beſtimmten Bezirks<lb/>
nur einer gewiſſen Summe Menſchenlebens, verſchieden<lb/>
fuͤr verſchiedene Arten und Staͤmme, faͤhig iſt; dieſes<lb/>
aber ſich zu dieſer Summe zu entwickeln ſtrebt, wenn es<lb/>
nicht unterdruͤckt wird. Daher iſt die Vermehrung in<lb/>
neu angebauten Laͤndern ſo reiſſend ſchnell, und nimmt ab<lb/>
in dem Verhaͤltniß wie die Bevoͤlkerungszahl des Flaͤchen-<lb/>
inhalts zunimmt; ihr Geſetz iſt das umgekehrte Verhaͤlt-<lb/>
niß der Volkszahl zur Quadratflaͤche, bis ſie ein Maxi-<lb/>
mum erreicht, wo die Fortpflanzung ſelbſt zur Erhaltung<lb/>
ungenuͤgend wird.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[105/0121]
Verſandung aus den Wuͤſten, und Entbloͤßung der Hoͤ-
hen und Flaͤchen.
Man hat geſagt, es ſey dem Menſchengeſchlecht na-
tuͤrlich in geometriſcher Progreſſion anzuwachſen, und
da ſich die Production der Nahrungsmittel nur in arith-
metiſcher vermehren laſſe, entſtehe ſo ein Conflict welcher
es zur Pflicht mache dem Anwachs der Menſchenzahl ent-
gegen zu arbeiten. Die Vorausſetzung iſt factiſch un-
wahr. Ein Streben zur Vermehrung der Zahl iſt freylich
einerley mit dem Streben zur Erhaltung: aber dieſes wird
durch zwey Umſtaͤnde regulirt, welche die allerverſchieden-
ſten Reſultate geben. Einmal durch die Menſchenart, ja
ſelbſt durch die viel feineren Unterſchiede der Volksſtaͤm-
me: und hier gewaͤhrt unter den edleren Menſchenarten
ein hoͤherer Grad geſunder Belebung groͤßere Fruchtbar-
keit, wie im Gegentheil bey niedrigen Racen eine einigen
eigenthuͤmliche Prolificitaͤt erſcheint, und die Chineſer dar-
in ihrem Lieblingshausthier gleichen. Zweitens dadurch,
daß die Natur in dem Umfang eines beſtimmten Bezirks
nur einer gewiſſen Summe Menſchenlebens, verſchieden
fuͤr verſchiedene Arten und Staͤmme, faͤhig iſt; dieſes
aber ſich zu dieſer Summe zu entwickeln ſtrebt, wenn es
nicht unterdruͤckt wird. Daher iſt die Vermehrung in
neu angebauten Laͤndern ſo reiſſend ſchnell, und nimmt ab
in dem Verhaͤltniß wie die Bevoͤlkerungszahl des Flaͤchen-
inhalts zunimmt; ihr Geſetz iſt das umgekehrte Verhaͤlt-
niß der Volkszahl zur Quadratflaͤche, bis ſie ein Maxi-
mum erreicht, wo die Fortpflanzung ſelbſt zur Erhaltung
ungenuͤgend wird.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/121>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.