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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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aus zu saugen, und dies zurück zu lassen. Nur im-
mer die schwache Seite einer Sache, die entschiedne
Verdienste hat, hervorziehn, setzt Gleichgültigkeit ge-
gen sie selbst voraus.

Es ist überhaupt keine Sache in der Welt, am
wenigsten giebt es eine menschliche Einrichtung, die
nicht besser gedacht, oft auch besser ausgeführt wer-
den könnte. Wer, um das vorhandene Gute zu
nutzen, erst abwarten wollte, bis es vollkommen wür-
de, müßte oft sein ganzes Leben mit Warten zu-
bringen. Wenn wir nicht eher unsre kirchlichen Ver-
sammlungen besuchen, oder für nützlich in Absicht
auf uns halten wollen, als bis sie ganz die Form
und Einrichtung haben, die wir für die anständigste
und schicklichste halten, so kann es leicht geschehen,
daß wir eine der wohlthätigsten Gelegenheiten, an
Erkenntniß, Tugend und Frömmigkeit zuzunehmen,
ganz ungenutzt lassen.

Und sind nicht auch vielleicht unsre Forderun-
gen übertrieben, und ihre Befriedigung unmöglich?
Oder ist nicht oft unser Geschmack und Urtheil ein-
seitig? Wenn wir bey einer Sache duldsam in un-
serm Urtheil seyn, uns in die Lage andrer versetzen,
die Bedürfnisse unsrer schwächern Mitchristen in Rech-
nung bringen, mit einem Wort, uns der uneigen-

nützigsten

aus zu ſaugen, und dies zurück zu laſſen. Nur im-
mer die ſchwache Seite einer Sache, die entſchiedne
Verdienſte hat, hervorziehn, ſetzt Gleichgültigkeit ge-
gen ſie ſelbſt voraus.

Es iſt überhaupt keine Sache in der Welt, am
wenigſten giebt es eine menſchliche Einrichtung, die
nicht beſſer gedacht, oft auch beſſer ausgeführt wer-
den könnte. Wer, um das vorhandene Gute zu
nutzen, erſt abwarten wollte, bis es vollkommen wür-
de, müßte oft ſein ganzes Leben mit Warten zu-
bringen. Wenn wir nicht eher unſre kirchlichen Ver-
ſammlungen beſuchen, oder für nützlich in Abſicht
auf uns halten wollen, als bis ſie ganz die Form
und Einrichtung haben, die wir für die anſtändigſte
und ſchicklichſte halten, ſo kann es leicht geſchehen,
daß wir eine der wohlthätigſten Gelegenheiten, an
Erkenntniß, Tugend und Frömmigkeit zuzunehmen,
ganz ungenutzt laſſen.

Und ſind nicht auch vielleicht unſre Forderun-
gen übertrieben, und ihre Befriedigung unmöglich?
Oder iſt nicht oft unſer Geſchmack und Urtheil ein-
ſeitig? Wenn wir bey einer Sache duldſam in un-
ſerm Urtheil ſeyn, uns in die Lage andrer verſetzen,
die Bedürfniſſe unſrer ſchwächern Mitchriſten in Rech-
nung bringen, mit einem Wort, uns der uneigen-

nützigſten
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[22[34]/0038] aus zu ſaugen, und dies zurück zu laſſen. Nur im- mer die ſchwache Seite einer Sache, die entſchiedne Verdienſte hat, hervorziehn, ſetzt Gleichgültigkeit ge- gen ſie ſelbſt voraus. Es iſt überhaupt keine Sache in der Welt, am wenigſten giebt es eine menſchliche Einrichtung, die nicht beſſer gedacht, oft auch beſſer ausgeführt wer- den könnte. Wer, um das vorhandene Gute zu nutzen, erſt abwarten wollte, bis es vollkommen wür- de, müßte oft ſein ganzes Leben mit Warten zu- bringen. Wenn wir nicht eher unſre kirchlichen Ver- ſammlungen beſuchen, oder für nützlich in Abſicht auf uns halten wollen, als bis ſie ganz die Form und Einrichtung haben, die wir für die anſtändigſte und ſchicklichſte halten, ſo kann es leicht geſchehen, daß wir eine der wohlthätigſten Gelegenheiten, an Erkenntniß, Tugend und Frömmigkeit zuzunehmen, ganz ungenutzt laſſen. Und ſind nicht auch vielleicht unſre Forderun- gen übertrieben, und ihre Befriedigung unmöglich? Oder iſt nicht oft unſer Geſchmack und Urtheil ein- ſeitig? Wenn wir bey einer Sache duldſam in un- ſerm Urtheil ſeyn, uns in die Lage andrer verſetzen, die Bedürfniſſe unſrer ſchwächern Mitchriſten in Rech- nung bringen, mit einem Wort, uns der uneigen- nützigſten

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 22[34]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/38>, abgerufen am 21.11.2024.