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Allgemeine Zeitung. Nr. 3. München, 4. Januar 1924.

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Allgemeine Zeitung. Nr. 3 Freitag, 4. Januar 1924
[Spaltenumbruch] berechtigung auch der Abnehmer
(letzteres bei unbilligen Geschäftsbeding-
ungen) aussprechen kann.

Eingriffe in das Privatrecht von
größter Tragweite, und zwar durch eine
Verwaltungsbehörde bzw. durch
ein sondergerichtliches Institut! Die Durch-
brechung des alten demokratischen Postu-
lates (Scheidung von Justiz und Verwal-
tung) ist dadurch gemildert, daß der
Reichswirtschaftsminister wohl in erster
Linie von seiner Befugnis Gebrauch ma-
chen wird, die Streitfälle schon beste-
henden Organen der Selbst-
verwaltung
(Einigungsstellen) zu
überlassen.

Soviel zur rechtspolitischen Seite.

Politisch im weiteren Sinne, na-
mentlich handelspolitisch, wirkt
sich die Verordnung auch aus in den Kon-
sequenzen, die sich insofern ergeben, als
z. B. die Ausnützung wirtschaftlicher Mo-
nopolmacht einzelner Konzerne zu Lasten
einheimischer Konsumenten bei Aus-
fuhr
zu verbilligten Preisen künf-
tigen Schwierigkeiten begegnen dürfte.

Der Reichsverband der deut-
schen Industrie
hat in einer beson-
deren Kartelltagung zur Lage Stellung
genommen. Aufgabe der Publizistik ist es
nun auch ihrerseits, die neu geschaffene
Rechtsgrundlage auf ihre Auswirkungen
hin zu beobachten. Die bisher gehandhabte
Kartellpolitik war eine solche der Kartelle
unter Ausschluß der Oeffentlichkeit. Nun-
mehr setzt eine Kartellpolitik des Staates
ein zu Nutz und Frommen der Konsumen-
ten und des freien Wettbewerbs. Voraus-
sehbar ist, daß gegenüber den Macht-
faktoren der zusammengehallten Indu-
strie, der Kapitalanhäufung, der vertikalen
und horizontalen Gliederung, der bisheri-
gen Möglichkeit der Preisdiktatur, ein
Notgesetz keine organischen Aende-
rungen bringen kann. Erzieherisch
und vorbeugend,
heilend und gefahr-
drohend gegenüber Auswüchsen aber ist
die Verordnung. Möge sie auch aufklärend
für die breite Masse sein und wieder daran
erinnern, daß das wirtschaftliche Schicksal
der Einzelnen letzten Endes bedingt ist
nicht von eigenem Schaffen, sondern von
dem Zusammenhang des Volksgenossen
mit der ganzen Wirtschaft, daß die
Wirtschaft eines Volksganzen mit der
Staatspolitik und diese mit der Staats-
gesinnung
jedes einzelnen steht und
fällt.

So und nur so wird der Begriff der
Demokratie sein Recht erhalten, wenn der
Staatsbürger am Staatsleben auch inner-
lich teilnimmt, wenn er den Staat nicht
als Fremdkörper betrachtet, sich selbst
vielmehr als einen Teil des Ganzen und
aus der Hörigkeit des Obrigkeitsstaates
heraustritt als selbstverantwortliches Mit-
glied der Volksgemeinde.

[Spaltenumbruch]
Das Vorspiel zur
englischen Regierungsbildung.

Die Zeitungen berich-
ten, daß der Premierminister auf den Brief
des Vollzugsrats der Konservativen Ver-
einigung der Londoner City geantwortet
habe, in dem der Vorschlag gemacht wurde,
daß man sich Asquith nähern solle, um eine
Zusammenarbeit zwischen Libe-
ralen und Konservativen
zustande
zu bringen. Es verlautet, der Minister-
präsident habe in seinem Brief zu verstehen
gegeben, er würde mit seinen Kollegen
über diesen Vorschlag beraten.

"Evening Standard" erfährt amtlich, daß
der Ministerpräsident dem Führer der Libe-
ralen kein derartiges Anerbie-
ten
gemacht habe. Der Gedanke, daß die
Konservative Partei die Unterstützung der
Liberalen nachsuchen sollte, findet in der
[Spaltenumbruch] konservativen Presse wenig Unterstützung.

"Morning Post" fordert die Konservativen
auf, sich um ihre Führer zu scharren, ihre
alten Grundsätze zu vertreten und unab-
hängig
zu bleiben.

Die ungar. Bombenverschwörungen.

Die Untersuchung
in den verschiedenen Bombenanschlä-
gen
hat zu neuerlichen Verhaftungen
geführt. Aus den Aussagen einzelner Zeu-
gen wurde bekannt, daß in Czengrad sich
noch eine geheime Organisation befindet,
die mit den Zentralen in Keeskomet und
Budapest in Verbindung steht.

Der Anstifter des Szegediner Bomben-
attentats, Oberleutnant Piraska, be-
streitet aufs entschiedenste die Aussagen,
welche die Mitverhafteten bisher gemacht
haben. Er wurde nach Budapest gebracht,
während die übrigen Verhafteten in Szege-
din verblieben.

Dr. Heim wollte das Reich zerreißen.

Neues authentisches Material aus den Mitteilungen der amerikanischen Friedens-
delegation.

[Spaltenumbruch]

Ueber den Verhandlungen, die Dr. Heim
im Jahre 1919 mit französischen Offizieren
im besetzten Gebiet gepflogen hat, liegt be-
kanntlich noch immer ein wohltätiges
Dunkel. Dr. Heim hat zwar zu seiner Ent-
lastung nachgewiesen, daß die Reichsregie-
rung von seiner Zusammenkunft mit den
Franzosen Kenntnis gehabt hat. Aber daß
sie den Inhalt der Besprechungen ge-
kannt habe, hat er nicht zu beweisen ver-
mocht. Das ist auch vollkommen ausge-
schlossen.

Denn was hat Dr. Heim eigentlich
mit den Reichsfeinden geredet?

Hat man das bisher noch nicht mit Sicher-
heit gewußt, so erfährt man es jetzt genau
und vollkommen authentisch. Im zweiten
Band seiner "Memoiren und Dokumente
über den Vertrag zu Versailles" erzählt
der damalige Pressechef der ameri-
kanischen Friedensdelegation

R. St. Baker folgendes:

"Am 19. Mai 1919 berichtete Foch dem
Rat der Vier über eine andere Intrigue.
Es handelt sich um das Ersuchen Dr. Heims
aus Bayern, der in Wiesbaden mit den
rheinischen Verschwörern zusammen war,
um eine Unterredung mit verschiedenen
französischen Vertretern wegen einer neuen
separatistischen Bewegung dortselbst. Ob-
wohl Foch über diese Angelegenheit einen
Bericht erstattete, hatte er doch bereits die
Verantwortlichkeit auf sich genommen, Ge-
neral Desticker abzukommandieren, diese
präsumptiven Revolutionäre
anzuhören und auszufragen; diese Unter-
haltung fand am gleichen Tage, als Foch
davon Mitteilung machte, in Luxemburg
statt, worüber dem Rat am 23. berichtet
wurde.

Heim sprach zuversichtlich von der
Loslösung sämtlicher andern bedeuten-
[Spaltenumbruch] den deutschen Staaten von Preußen
und über die Bildung einer neuen
Konföderation mit Einschluß Deutsch-
Oesterreichs unter einem "Protektorat"
der Entente, hauptsächlich in wirtschaft-
licher Beziehung.

Er betonte, daß ein derartiger katho-
lischer
und konservativer "Block"
eine wirksamere Barriere gegen den Bol-
schewismus bilden würde, als es ein ver-
preußtes Deutschland je vermöchte. Die
Franzosen widersprachen der Einbeziehung
Oesterreichs und kannten auch hinsichtlich
der Bezahlung der Reparationen keine be-
friedigende Zusicherung abgeben.

Die Unlust Frankreichs, in dieser Hinsicht
auf irgend etwas zu verzichten, bildete das
Haupthindernis zur wirklichen Ermutigung
separatistischer Bewegungen".

Also nur daran, daß Frankreich alles
haben und auf gar nichts verzichten wollte,
scheiterten die Heimschen Separationsbe-
stredungen. Baker erzählt dann weiter,
daß auch Lloyd George den Fochschen
Ideen nicht günstig gegenüberstand. Immer-
hin wurden sie nicht schlechthin ver-
worfen.

Der Rat entschied, die endgültige Erledi-
gung in der Schwebe zu halten,

"bis man die bestimmte Zusicherung der
Deutschen in Händen hätte, ob sie unter-
zeichnen wollten oder nicht. Der Be-
schluß der Deutschen, den Friedensver-
trag wie er war zu unterzeichnen, ent-
hob die Alliierten der Notwendigkeit,
eine neue Politik ins Auge zu fassen."

Nicht also Milderung der Friedensbedin-
gungen, wie es die Nationalisten immer
behaupten, war zu erreichen, falls Deutsch-
land nicht unterzeichnete,
sondern dann war die Zerreißung des
Reiches sicher. Dr. Heim war bereit,
sie durchzuführen.

Herabsetzung der französischen
Heeresstärke.

Nach dem "New York
Herald" wird die französische Armee
am 10. Januar um 10 Divisionen ver-
mindert
werden, und zwar seien 39 In-
fanterieregimenter und 21 Kavallerieregi-
menter aufgelöst bzw. in der Auflösung be-
griffen.

Polen erkennt Sowjetrußland an.

Der Leiter des
polnischen Außenamtes teilte dem Sowjet-
gesandten mit, der Staatspräsident werde
dessen Beglaubigungsschreiben als Sowjet-
gesandter heute in Empfang nehmen. Gleich-
zeitig werde ein regelrechter Gesandter
Polens
ernannt werden.

Das bedeutet die Aufnahme der normalen
diplomatischen Beziehungen und die Aner-
kennung der Sowjetrepublik in aller Form.

Tschechische Beruhigungsstimmen zum
Vertrag mit Frankreich.

Gegenüber den Vermutungen
englischer Blätter, daß der tschechische Außen-
minister im Januar nach London komme, um der
englischen Regierung den Abschluß des franzö-
sisch-tschechischen Vertrags
zu er-
klären, wird hier Wert auf die Feststellung gelegt,
daß die Reise des Herrn Dr. Benesch nach
London schon im September in Paris im
Rate des Völkerbundes beschlossen wurde, weil
das ungarische Komitee die Angelegenheit der
ungarischen Auslandsanleihe und des Sanie-
rungsproblems in London verhandeln werde. Die
Reise hänge also mit dem französischen Vertrag
nicht zusammen.

In einem offenbar von Benesch inspirierten
Artikel der "Prager Presse" heißt es über den
Vertrag: Die nüchterne Beurteilung in Wien.
Berlin und Budapest ist mit Dank zu verzeichnen.
Dort überwiegt also der Eindruck, daß es sich um
einen Vertrag handelt, der tatsächlich fried-
lichen Interessen
dient. Diese Erwartung
wird nicht getäuscht werden. Der Vertrag er-
scheint als ein vererbtes Glied künftiger euro-
päischer Politik und vielleicht wird ihm bald ein
ähnlicher zwischen Frankreich und England folgen
können. Das wäre dann ein Schritt zum
europäischen Garantiepakt nach Lloyd
Georges Anregung.

Die Zusammenkunft der Kleinen Entente.

Für die Konferenz der
Kleinen Entente in Belgrad ist folgendes Pro-
gramm vorgesehen:

Am 8. Januar abends trifft der rumäntsche Mi-
nister des Aeußern Duca in Belgrad ein, wäh-
rend die Ankunft des tschechoslowakischen Außen-
ministers Benesch am 9. Januar erfolgt. An
diesem Tage, vormittags 11 Uhr, findet die erste
Besprechung der Staatsmänner im Gebäude der
tschechoslowakischen Gesandtschaft statt, wobei der
jugoslawische Außenminister, Nintschitsch das
politische Programm der Konferenz vorlegen wird.

Die "Politika" schreibt anläßlich des bevorste-
henden Zusammentritts der Konferenz, der Zweck
derselben sei vor allem, die Bande der einzelnen
kleinen Ententestaaten untereinander fester zu
knüpfen, die sich im übrigen auch gelegentlich der
Frage des ungarischen Kredites als fest erwiesen
haben. Es sei notwendig, Ungarn stets wachsam
zu beobachten, damit es nicht abermals ein den
europäischen Frieden störendes Element werde.
Ebenso müsse die Kleine Entente die nichtverbün-
deten Balkanstaaten stets im Auge behalten. Die
Frage der Aufnahme Griechenlands in die Kleine
Entente werde nicht beraten werden.

[Spaltenumbruch]
Bayerische Postkutsche!

Von Regen nach Bodenmais geht keine Eisen-
bahn, kein Autobus, kein Luftschiff: es geht die
Postkutsche.

Die Postkutsche ist ein kanariengelber vier-
eckiger Kasten mit zwei kleinen Gucklöchern zu
beiden Seiten und zwei mageren Rossen. Im
Sommer geht die Postkutsche auf vier gelben
Rädern, jetzt, im Winter, auf Schlittenkufen, wie
eine richtige russische "Kibitke".

Die Postkutsche geht nachmittags halb drei Uhr
vom Marktplatz in Regen ab. Wann sie in Boden-
mais ankommt, weiß keiner, nicht einmal der
Postillion. Es kann um fünf sein, es kann sechs
sein, sieben sein, und es kann auch acht werden.
Es ist also eine richtige Postkutsche, bei der es
weder auf Minuten, noch Stunden ankommt.

Ich steige in aller Gemütsruhe ein, setze mich
auf den blauen Polstersitz, und da noch ver-
schiedene Weihnachtspakete verladen werden, habe
ich alle Zeit, durch das eine Guckfenster mir den
Marktflecken Regen aus der Postkutschperspektive
anzuschaun.

Regen ist ein idyllischer Ort von etwa zwei-
einhalbtausend Einwohnern und achtund-
zwanzig Gastwirtschaften. Jedes zweite Haus ist
ein Eckhaus, und jedes dritte Haus eine Wirt-
schaft. Schon um den breiten Marktplatz mit den
raten, grünen und gelben Häusern grüßt dich die
"Neue Post", der "Passauer Hof", der "Bauern-
wirt", und gleich dahinter das "Wurstgköckl", das
"Bürgerliche Bräuhaus", der "Moitzerlitzerhof" --
Wirtschaft neben Wirtschaft. Und fast jeder Gast-
[Spaltenumbruch] hof hat seine eigene Metzgerei: nirgends hängen
die Würste in so stattlichen Reihen und so prall
neben einander, wie in Regen.

Und was nicht Wirtschaft ist, das ist Bäckerei,
Lebzelterei oder Spezereiwarengeschäft. In einem
Schaufenster gibt es sogar Bücher: Koch- und
Gebetbücher. Und trotzdem: die geistigen Inter-
essen sind nicht gering. Der kleine Ort unterhält
zwei Zeitungen: den schwarzen "Waldler" und
den fortschrittlichen "Waldboten", -- und da
spricht man noch von der "Not der Presse"! Zwei
Gesangvereine, ein Bühnenverein und ein Zither-
klub sorgen für die Befriedigung künstlerischer
Bedürfnisse. Seit einem Jahr, als die "Nasch-
hofs" hier aufgeführt wurden, spricht der fort-
schrittliche "Waldbote" sogar von "unserer
Sudermanngemeinde", -- wir sind also hier im
Walde nicht ganz zurückgeblieben!

Die Päckchen sind verladen, der Postillion
schwingt sich auf den Bock, die Peitsche knallt, und
die beiden mageren Rosse ziehen an. Im letzten
Augenblick springen noch zwei baumlange Bur-
schen zu mir herein, jeder raucht einen kräftigen
Knafter. Der vierte Platz, mir gegenüber,
bleibt leer.

Die letzte Wirtschaft, das letzte Eckhaus ist
passiert. Die Kutsche steigt langsam an. Wir
überholen eine Bauerndirn, die einen großen
grauen Sack schleppt.

"Jesses, die Zenzerl! Gruaß Gott, Zenzerl!"

Die beiden Burschen winken zum Guckfenster
hinaus. Zenzerl bleibt stehen, sieht sich um und
lacht. Die beiden Burschen springen in den
Schnee hinaus, hinter der Postkutsche hört man
nur ein Kichern. Bald darauf wird die Tür
wieder aufgerissen, Zenzerl mit dem großen
[Spaltenumbruch] grauen Sack kommt hereingeflogen, grade auf
den Platz mir gegenüber, und hinter ihr springen
die beiden Burschen wieder ein.

Zenzerl ist eine richtige Waldlerin, mit großen
stumpfen Kuhaugen, wulstigen Lippen, breiten
Schultern und starken Knochen. Sie sitzt da, hält
den grauen Sack zwischen ihren festen Beinen,
lacht vor sich hin und sagt zuweilen "Uoa!"

Die beiden Burschen sind höchst manierlich. Nur
ganz verstohlen kneift einer sie in die Seite. Aber
auch Zenzerl ist sittsam und verschanzt sich immer
unangreifbarer hinter ihren grauen Sack.

Und der graue Sack bewegt sich: das ist un-
heimlich. Wir haben also noch einen Unbekannten
unter uns. "Hühner? Gänse? Tauben?" rate
ich, aber das alles ist viel zu klein. Ein Rebus, --
oder ein Vexierbild. Ich denke angestrengt nach.

Schon sind wir im tiefverschneiten Hochwald,
zwischen Schneemauern und Schneeschluchten
geht es unter den dunklen Zweigen. Rosse, groß
und breit wie Elefanten, tauchen dann und
wann gespensterhaft auf, ungeheure Stämme und
vermummte Gestalten ziehen geräuschlos vorüber.
Beim Ausbiegen streift zuweilen ein Zweig seine
Schneelast ins Fenster herein. Blaue Winter-
dämmerung kriecht zwischen den Bäumen.

Die beiden Burschen fangen an zu singen, ein
richtiges Volkslied, und wenn auch kein Eichen-
dorff, so scheint es mir heute gerade deswegen
umso echter und ursprünglicher, Sie singen:

"Wir ham uns z'sammeng'funden

Auf der Landstraß draus,

Wo wir gehn, wo wir stehn,

Da san wir z'haus.

Wir zahlen 'ß ganze Jahr koa Steu'r,

Han nix vorn, nix hint',

[Spaltenumbruch]

Weil wir echte, echte, echte Hupfer-Zupfer sind!

Wir zupfen, zupfen, zupfen,

Wir schnupfen, schnupfen, schnupfen,

Wir zupfen alles z'samm', --

Solang wir was zum Zupfen ham!"

"Wir zahlen 's ganze Jahr koa Steuer" -- in
diesen poesievollen Worten liegt für uns heute
mehr Romantik und Schwärmerei, als in allen
Mondscheingesängen. Und kann man unsere,
Deutschlands Lage besser und treffender charak-
terisieren, als in diesen zwei bitterlustigen
Zeilen:

"Wir zupfen alles z'samm', --
Solang wir was zum Zupfen ham!"

Schen blitzen die Lichter von Bodenmais auf.
Zenzerl will hinaus, die beiden Burschen helfen
ihr. Auch der Unbekannte im grauen Sack ver-
läßt uns. Im letzten Augenblick -- grunzt er
heftig auf: das Rätsel ist gelöst! In Regen gab
es heute Ferkelmarkt.

Die Postkutsche hält. Wir sind in Bodenmais.
Nur ungern erheb ich mich vom blauen Polster-
sitz.

Da sausen die Menschen in D-Zügen, Autos
und Flugmaschinen, schauen immer auf den
Sekundenzeiger, und schlagen einen Rekord nach
dem andern.

Wenn ich Kaiser (ach, nein), wenn ich Präsident
(nein, lieber auch nicht!), -- wenn ich der liebe
Gott wäre, dann würde ich alle Menschen ein
Jahr lang nur in der Postkutsche fahren lassen, --
und es stände besser um uns.

"Zeit ist Geld", -- das ist wahr. Aber wir
haben ja bei dieser Methode weder Zeit, noch
Geld.

In der Postkutsche hätten wir wenigstens etwas
Zeit: über uns nachzudenken. --

Allgemeine Zeitung. Nr. 3 Freitag, 4. Januar 1924
[Spaltenumbruch] berechtigung auch der Abnehmer
(letzteres bei unbilligen Geſchäftsbeding-
ungen) ausſprechen kann.

Eingriffe in das Privatrecht von
größter Tragweite, und zwar durch eine
Verwaltungsbehörde bzw. durch
ein ſondergerichtliches Inſtitut! Die Durch-
brechung des alten demokratiſchen Poſtu-
lates (Scheidung von Juſtiz und Verwal-
tung) iſt dadurch gemildert, daß der
Reichswirtſchaftsminiſter wohl in erſter
Linie von ſeiner Befugnis Gebrauch ma-
chen wird, die Streitfälle ſchon beſte-
henden Organen der Selbſt-
verwaltung
(Einigungsſtellen) zu
überlaſſen.

Soviel zur rechtspolitiſchen Seite.

Politiſch im weiteren Sinne, na-
mentlich handelspolitiſch, wirkt
ſich die Verordnung auch aus in den Kon-
ſequenzen, die ſich inſofern ergeben, als
z. B. die Ausnützung wirtſchaftlicher Mo-
nopolmacht einzelner Konzerne zu Laſten
einheimiſcher Konſumenten bei Aus-
fuhr
zu verbilligten Preiſen künf-
tigen Schwierigkeiten begegnen dürfte.

Der Reichsverband der deut-
ſchen Induſtrie
hat in einer beſon-
deren Kartelltagung zur Lage Stellung
genommen. Aufgabe der Publiziſtik iſt es
nun auch ihrerſeits, die neu geſchaffene
Rechtsgrundlage auf ihre Auswirkungen
hin zu beobachten. Die bisher gehandhabte
Kartellpolitik war eine ſolche der Kartelle
unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit. Nun-
mehr ſetzt eine Kartellpolitik des Staates
ein zu Nutz und Frommen der Konſumen-
ten und des freien Wettbewerbs. Voraus-
ſehbar iſt, daß gegenüber den Macht-
faktoren der zuſammengehallten Indu-
ſtrie, der Kapitalanhäufung, der vertikalen
und horizontalen Gliederung, der bisheri-
gen Möglichkeit der Preisdiktatur, ein
Notgeſetz keine organiſchen Aende-
rungen bringen kann. Erzieheriſch
und vorbeugend,
heilend und gefahr-
drohend gegenüber Auswüchſen aber iſt
die Verordnung. Möge ſie auch aufklärend
für die breite Maſſe ſein und wieder daran
erinnern, daß das wirtſchaftliche Schickſal
der Einzelnen letzten Endes bedingt iſt
nicht von eigenem Schaffen, ſondern von
dem Zuſammenhang des Volksgenoſſen
mit der ganzen Wirtſchaft, daß die
Wirtſchaft eines Volksganzen mit der
Staatspolitik und dieſe mit der Staats-
geſinnung
jedes einzelnen ſteht und
fällt.

So und nur ſo wird der Begriff der
Demokratie ſein Recht erhalten, wenn der
Staatsbürger am Staatsleben auch inner-
lich teilnimmt, wenn er den Staat nicht
als Fremdkörper betrachtet, ſich ſelbſt
vielmehr als einen Teil des Ganzen und
aus der Hörigkeit des Obrigkeitsſtaates
heraustritt als ſelbſtverantwortliches Mit-
glied der Volksgemeinde.

[Spaltenumbruch]
Das Vorſpiel zur
engliſchen Regierungsbildung.

Die Zeitungen berich-
ten, daß der Premierminiſter auf den Brief
des Vollzugsrats der Konſervativen Ver-
einigung der Londoner City geantwortet
habe, in dem der Vorſchlag gemacht wurde,
daß man ſich Asquith nähern ſolle, um eine
Zuſammenarbeit zwiſchen Libe-
ralen und Konſervativen
zuſtande
zu bringen. Es verlautet, der Miniſter-
präſident habe in ſeinem Brief zu verſtehen
gegeben, er würde mit ſeinen Kollegen
über dieſen Vorſchlag beraten.

„Evening Standard“ erfährt amtlich, daß
der Miniſterpräſident dem Führer der Libe-
ralen kein derartiges Anerbie-
ten
gemacht habe. Der Gedanke, daß die
Konſervative Partei die Unterſtützung der
Liberalen nachſuchen ſollte, findet in der
[Spaltenumbruch] konſervativen Preſſe wenig Unterſtützung.

„Morning Poſt“ fordert die Konſervativen
auf, ſich um ihre Führer zu ſcharren, ihre
alten Grundſätze zu vertreten und unab-
hängig
zu bleiben.

Die ungar. Bombenverſchwörungen.

Die Unterſuchung
in den verſchiedenen Bombenanſchlä-
gen
hat zu neuerlichen Verhaftungen
geführt. Aus den Ausſagen einzelner Zeu-
gen wurde bekannt, daß in Czengrad ſich
noch eine geheime Organiſation befindet,
die mit den Zentralen in Keeskomet und
Budapeſt in Verbindung ſteht.

Der Anſtifter des Szegediner Bomben-
attentats, Oberleutnant Piraska, be-
ſtreitet aufs entſchiedenſte die Ausſagen,
welche die Mitverhafteten bisher gemacht
haben. Er wurde nach Budapeſt gebracht,
während die übrigen Verhafteten in Szege-
din verblieben.

Dr. Heim wollte das Reich zerreißen.

Neues authentiſches Material aus den Mitteilungen der amerikaniſchen Friedens-
delegation.

[Spaltenumbruch]

Ueber den Verhandlungen, die Dr. Heim
im Jahre 1919 mit franzöſiſchen Offizieren
im beſetzten Gebiet gepflogen hat, liegt be-
kanntlich noch immer ein wohltätiges
Dunkel. Dr. Heim hat zwar zu ſeiner Ent-
laſtung nachgewieſen, daß die Reichsregie-
rung von ſeiner Zuſammenkunft mit den
Franzoſen Kenntnis gehabt hat. Aber daß
ſie den Inhalt der Beſprechungen ge-
kannt habe, hat er nicht zu beweiſen ver-
mocht. Das iſt auch vollkommen ausge-
ſchloſſen.

Denn was hat Dr. Heim eigentlich
mit den Reichsfeinden geredet?

Hat man das bisher noch nicht mit Sicher-
heit gewußt, ſo erfährt man es jetzt genau
und vollkommen authentiſch. Im zweiten
Band ſeiner „Memoiren und Dokumente
über den Vertrag zu Verſailles“ erzählt
der damalige Preſſechef der ameri-
kaniſchen Friedensdelegation

R. St. Baker folgendes:

„Am 19. Mai 1919 berichtete Foch dem
Rat der Vier über eine andere Intrigue.
Es handelt ſich um das Erſuchen Dr. Heims
aus Bayern, der in Wiesbaden mit den
rheiniſchen Verſchwörern zuſammen war,
um eine Unterredung mit verſchiedenen
franzöſiſchen Vertretern wegen einer neuen
ſeparatiſtiſchen Bewegung dortſelbſt. Ob-
wohl Foch über dieſe Angelegenheit einen
Bericht erſtattete, hatte er doch bereits die
Verantwortlichkeit auf ſich genommen, Ge-
neral Deſticker abzukommandieren, dieſe
präſumptiven Revolutionäre
anzuhören und auszufragen; dieſe Unter-
haltung fand am gleichen Tage, als Foch
davon Mitteilung machte, in Luxemburg
ſtatt, worüber dem Rat am 23. berichtet
wurde.

Heim ſprach zuverſichtlich von der
Loslöſung ſämtlicher andern bedeuten-
[Spaltenumbruch] den deutſchen Staaten von Preußen
und über die Bildung einer neuen
Konföderation mit Einſchluß Deutſch-
Oeſterreichs unter einem „Protektorat“
der Entente, hauptſächlich in wirtſchaft-
licher Beziehung.

Er betonte, daß ein derartiger katho-
liſcher
und konſervativer „Block“
eine wirkſamere Barrière gegen den Bol-
ſchewismus bilden würde, als es ein ver-
preußtes Deutſchland je vermöchte. Die
Franzoſen widerſprachen der Einbeziehung
Oeſterreichs und kannten auch hinſichtlich
der Bezahlung der Reparationen keine be-
friedigende Zuſicherung abgeben.

Die Unluſt Frankreichs, in dieſer Hinſicht
auf irgend etwas zu verzichten, bildete das
Haupthindernis zur wirklichen Ermutigung
ſeparatiſtiſcher Bewegungen“.

Alſo nur daran, daß Frankreich alles
haben und auf gar nichts verzichten wollte,
ſcheiterten die Heimſchen Separationsbe-
ſtredungen. Baker erzählt dann weiter,
daß auch Lloyd George den Fochſchen
Ideen nicht günſtig gegenüberſtand. Immer-
hin wurden ſie nicht ſchlechthin ver-
worfen.

Der Rat entſchied, die endgültige Erledi-
gung in der Schwebe zu halten,

„bis man die beſtimmte Zuſicherung der
Deutſchen in Händen hätte, ob ſie unter-
zeichnen wollten oder nicht. Der Be-
ſchluß der Deutſchen, den Friedensver-
trag wie er war zu unterzeichnen, ent-
hob die Alliierten der Notwendigkeit,
eine neue Politik ins Auge zu faſſen.“

Nicht alſo Milderung der Friedensbedin-
gungen, wie es die Nationaliſten immer
behaupten, war zu erreichen, falls Deutſch-
land nicht unterzeichnete,
ſondern dann war die Zerreißung des
Reiches ſicher. Dr. Heim war bereit,
ſie durchzuführen.

Herabſetzung der franzöſiſchen
Heeresſtärke.

Nach dem „New York
Herald“ wird die franzöſiſche Armee
am 10. Januar um 10 Diviſionen ver-
mindert
werden, und zwar ſeien 39 In-
fanterieregimenter und 21 Kavallerieregi-
menter aufgelöſt bzw. in der Auflöſung be-
griffen.

Polen erkennt Sowjetrußland an.

Der Leiter des
polniſchen Außenamtes teilte dem Sowjet-
geſandten mit, der Staatspräſident werde
deſſen Beglaubigungsſchreiben als Sowjet-
geſandter heute in Empfang nehmen. Gleich-
zeitig werde ein regelrechter Geſandter
Polens
ernannt werden.

Das bedeutet die Aufnahme der normalen
diplomatiſchen Beziehungen und die Aner-
kennung der Sowjetrepublik in aller Form.

Tſchechiſche Beruhigungsſtimmen zum
Vertrag mit Frankreich.

Gegenüber den Vermutungen
engliſcher Blätter, daß der tſchechiſche Außen-
miniſter im Januar nach London komme, um der
engliſchen Regierung den Abſchluß des franzö-
ſiſch-tſchechiſchen Vertrags
zu er-
klären, wird hier Wert auf die Feſtſtellung gelegt,
daß die Reiſe des Herrn Dr. Beneſch nach
London ſchon im September in Paris im
Rate des Völkerbundes beſchloſſen wurde, weil
das ungariſche Komitee die Angelegenheit der
ungariſchen Auslandsanleihe und des Sanie-
rungsproblems in London verhandeln werde. Die
Reiſe hänge alſo mit dem franzöſiſchen Vertrag
nicht zuſammen.

In einem offenbar von Beneſch inſpirierten
Artikel der „Prager Preſſe“ heißt es über den
Vertrag: Die nüchterne Beurteilung in Wien.
Berlin und Budapeſt iſt mit Dank zu verzeichnen.
Dort überwiegt alſo der Eindruck, daß es ſich um
einen Vertrag handelt, der tatſächlich fried-
lichen Intereſſen
dient. Dieſe Erwartung
wird nicht getäuſcht werden. Der Vertrag er-
ſcheint als ein vererbtes Glied künftiger euro-
päiſcher Politik und vielleicht wird ihm bald ein
ähnlicher zwiſchen Frankreich und England folgen
können. Das wäre dann ein Schritt zum
europäiſchen Garantiepakt nach Lloyd
Georges Anregung.

Die Zuſammenkunft der Kleinen Entente.

Für die Konferenz der
Kleinen Entente in Belgrad iſt folgendes Pro-
gramm vorgeſehen:

Am 8. Januar abends trifft der rumäntſche Mi-
niſter des Aeußern Duca in Belgrad ein, wäh-
rend die Ankunft des tſchechoſlowakiſchen Außen-
miniſters Beneſch am 9. Januar erfolgt. An
dieſem Tage, vormittags 11 Uhr, findet die erſte
Beſprechung der Staatsmänner im Gebäude der
tſchechoſlowakiſchen Geſandtſchaft ſtatt, wobei der
jugoſlawiſche Außenminiſter, Nintſchitſch das
politiſche Programm der Konferenz vorlegen wird.

Die „Politika“ ſchreibt anläßlich des bevorſte-
henden Zuſammentritts der Konferenz, der Zweck
derſelben ſei vor allem, die Bande der einzelnen
kleinen Ententeſtaaten untereinander feſter zu
knüpfen, die ſich im übrigen auch gelegentlich der
Frage des ungariſchen Kredites als feſt erwieſen
haben. Es ſei notwendig, Ungarn ſtets wachſam
zu beobachten, damit es nicht abermals ein den
europäiſchen Frieden ſtörendes Element werde.
Ebenſo müſſe die Kleine Entente die nichtverbün-
deten Balkanſtaaten ſtets im Auge behalten. Die
Frage der Aufnahme Griechenlands in die Kleine
Entente werde nicht beraten werden.

[Spaltenumbruch]
Bayeriſche Poſtkutſche!

Von Regen nach Bodenmais geht keine Eiſen-
bahn, kein Autobus, kein Luftſchiff: es geht die
Poſtkutſche.

Die Poſtkutſche iſt ein kanariengelber vier-
eckiger Kaſten mit zwei kleinen Gucklöchern zu
beiden Seiten und zwei mageren Roſſen. Im
Sommer geht die Poſtkutſche auf vier gelben
Rädern, jetzt, im Winter, auf Schlittenkufen, wie
eine richtige ruſſiſche „Kibitke“.

Die Poſtkutſche geht nachmittags halb drei Uhr
vom Marktplatz in Regen ab. Wann ſie in Boden-
mais ankommt, weiß keiner, nicht einmal der
Poſtillion. Es kann um fünf ſein, es kann ſechs
ſein, ſieben ſein, und es kann auch acht werden.
Es iſt alſo eine richtige Poſtkutſche, bei der es
weder auf Minuten, noch Stunden ankommt.

Ich ſteige in aller Gemütsruhe ein, ſetze mich
auf den blauen Polſterſitz, und da noch ver-
ſchiedene Weihnachtspakete verladen werden, habe
ich alle Zeit, durch das eine Guckfenſter mir den
Marktflecken Regen aus der Poſtkutſchperſpektive
anzuſchaun.

Regen iſt ein idylliſcher Ort von etwa zwei-
einhalbtauſend Einwohnern und achtund-
zwanzig Gaſtwirtſchaften. Jedes zweite Haus iſt
ein Eckhaus, und jedes dritte Haus eine Wirt-
ſchaft. Schon um den breiten Marktplatz mit den
raten, grünen und gelben Häuſern grüßt dich die
„Neue Poſt“, der „Paſſauer Hof“, der „Bauern-
wirt“, und gleich dahinter das „Wurſtgköckl“, das
„Bürgerliche Bräuhaus“, der „Moitzerlitzerhof“ —
Wirtſchaft neben Wirtſchaft. Und faſt jeder Gaſt-
[Spaltenumbruch] hof hat ſeine eigene Metzgerei: nirgends hängen
die Würſte in ſo ſtattlichen Reihen und ſo prall
neben einander, wie in Regen.

Und was nicht Wirtſchaft iſt, das iſt Bäckerei,
Lebzelterei oder Spezereiwarengeſchäft. In einem
Schaufenſter gibt es ſogar Bücher: Koch- und
Gebetbücher. Und trotzdem: die geiſtigen Inter-
eſſen ſind nicht gering. Der kleine Ort unterhält
zwei Zeitungen: den ſchwarzen „Waldler“ und
den fortſchrittlichen „Waldboten“, — und da
ſpricht man noch von der „Not der Preſſe“! Zwei
Geſangvereine, ein Bühnenverein und ein Zither-
klub ſorgen für die Befriedigung künſtleriſcher
Bedürfniſſe. Seit einem Jahr, als die „Naſch-
hofs“ hier aufgeführt wurden, ſpricht der fort-
ſchrittliche „Waldbote“ ſogar von „unſerer
Sudermanngemeinde“, — wir ſind alſo hier im
Walde nicht ganz zurückgeblieben!

Die Päckchen ſind verladen, der Poſtillion
ſchwingt ſich auf den Bock, die Peitſche knallt, und
die beiden mageren Roſſe ziehen an. Im letzten
Augenblick ſpringen noch zwei baumlange Bur-
ſchen zu mir herein, jeder raucht einen kräftigen
Knafter. Der vierte Platz, mir gegenüber,
bleibt leer.

Die letzte Wirtſchaft, das letzte Eckhaus iſt
paſſiert. Die Kutſche ſteigt langſam an. Wir
überholen eine Bauerndirn, die einen großen
grauen Sack ſchleppt.

„Jeſſes, die Zenzerl! Gruaß Gott, Zenzerl!“

Die beiden Burſchen winken zum Guckfenſter
hinaus. Zenzerl bleibt ſtehen, ſieht ſich um und
lacht. Die beiden Burſchen ſpringen in den
Schnee hinaus, hinter der Poſtkutſche hört man
nur ein Kichern. Bald darauf wird die Tür
wieder aufgeriſſen, Zenzerl mit dem großen
[Spaltenumbruch] grauen Sack kommt hereingeflogen, grade auf
den Platz mir gegenüber, und hinter ihr ſpringen
die beiden Burſchen wieder ein.

Zenzerl iſt eine richtige Waldlerin, mit großen
ſtumpfen Kuhaugen, wulſtigen Lippen, breiten
Schultern und ſtarken Knochen. Sie ſitzt da, hält
den grauen Sack zwiſchen ihren feſten Beinen,
lacht vor ſich hin und ſagt zuweilen „Uoa!“

Die beiden Burſchen ſind höchſt manierlich. Nur
ganz verſtohlen kneift einer ſie in die Seite. Aber
auch Zenzerl iſt ſittſam und verſchanzt ſich immer
unangreifbarer hinter ihren grauen Sack.

Und der graue Sack bewegt ſich: das iſt un-
heimlich. Wir haben alſo noch einen Unbekannten
unter uns. „Hühner? Gänſe? Tauben?“ rate
ich, aber das alles iſt viel zu klein. Ein Rebus, —
oder ein Vexierbild. Ich denke angeſtrengt nach.

Schon ſind wir im tiefverſchneiten Hochwald,
zwiſchen Schneemauern und Schneeſchluchten
geht es unter den dunklen Zweigen. Roſſe, groß
und breit wie Elefanten, tauchen dann und
wann geſpenſterhaft auf, ungeheure Stämme und
vermummte Geſtalten ziehen geräuſchlos vorüber.
Beim Ausbiegen ſtreift zuweilen ein Zweig ſeine
Schneelaſt ins Fenſter herein. Blaue Winter-
dämmerung kriecht zwiſchen den Bäumen.

Die beiden Burſchen fangen an zu ſingen, ein
richtiges Volkslied, und wenn auch kein Eichen-
dorff, ſo ſcheint es mir heute gerade deswegen
umſo echter und urſprünglicher, Sie ſingen:

„Wir ham uns z’ſammeng’funden

Auf der Landſtraß draus,

Wo wir gehn, wo wir ſtehn,

Da ſan wir z’haus.

Wir zahlen 'ß ganze Jahr koa Steu’r,

Han nix vorn, nix hint’,

[Spaltenumbruch]

Weil wir echte, echte, echte Hupfer-Zupfer ſind!

Wir zupfen, zupfen, zupfen,

Wir ſchnupfen, ſchnupfen, ſchnupfen,

Wir zupfen alles z’ſamm’, —

Solang wir was zum Zupfen ham!“

„Wir zahlen ’s ganze Jahr koa Steuer“ — in
dieſen poeſievollen Worten liegt für uns heute
mehr Romantik und Schwärmerei, als in allen
Mondſcheingeſängen. Und kann man unſere,
Deutſchlands Lage beſſer und treffender charak-
teriſieren, als in dieſen zwei bitterluſtigen
Zeilen:

„Wir zupfen alles z’ſamm’, —
Solang wir was zum Zupfen ham!“

Schen blitzen die Lichter von Bodenmais auf.
Zenzerl will hinaus, die beiden Burſchen helfen
ihr. Auch der Unbekannte im grauen Sack ver-
läßt uns. Im letzten Augenblick — grunzt er
heftig auf: das Rätſel iſt gelöſt! In Regen gab
es heute Ferkelmarkt.

Die Poſtkutſche hält. Wir ſind in Bodenmais.
Nur ungern erheb ich mich vom blauen Polſter-
ſitz.

Da ſauſen die Menſchen in D-Zügen, Autos
und Flugmaſchinen, ſchauen immer auf den
Sekundenzeiger, und ſchlagen einen Rekord nach
dem andern.

Wenn ich Kaiſer (ach, nein), wenn ich Präſident
(nein, lieber auch nicht!), — wenn ich der liebe
Gott wäre, dann würde ich alle Menſchen ein
Jahr lang nur in der Poſtkutſche fahren laſſen, —
und es ſtände beſſer um uns.

„Zeit iſt Geld“, — das iſt wahr. Aber wir
haben ja bei dieſer Methode weder Zeit, noch
Geld.

In der Poſtkutſche hätten wir wenigſtens etwas
Zeit: über uns nachzudenken. —

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[2/0002] Allgemeine Zeitung. Nr. 3 Freitag, 4. Januar 1924 berechtigung auch der Abnehmer (letzteres bei unbilligen Geſchäftsbeding- ungen) ausſprechen kann. Eingriffe in das Privatrecht von größter Tragweite, und zwar durch eine Verwaltungsbehörde bzw. durch ein ſondergerichtliches Inſtitut! Die Durch- brechung des alten demokratiſchen Poſtu- lates (Scheidung von Juſtiz und Verwal- tung) iſt dadurch gemildert, daß der Reichswirtſchaftsminiſter wohl in erſter Linie von ſeiner Befugnis Gebrauch ma- chen wird, die Streitfälle ſchon beſte- henden Organen der Selbſt- verwaltung (Einigungsſtellen) zu überlaſſen. Soviel zur rechtspolitiſchen Seite. Politiſch im weiteren Sinne, na- mentlich handelspolitiſch, wirkt ſich die Verordnung auch aus in den Kon- ſequenzen, die ſich inſofern ergeben, als z. B. die Ausnützung wirtſchaftlicher Mo- nopolmacht einzelner Konzerne zu Laſten einheimiſcher Konſumenten bei Aus- fuhr zu verbilligten Preiſen künf- tigen Schwierigkeiten begegnen dürfte. Der Reichsverband der deut- ſchen Induſtrie hat in einer beſon- deren Kartelltagung zur Lage Stellung genommen. Aufgabe der Publiziſtik iſt es nun auch ihrerſeits, die neu geſchaffene Rechtsgrundlage auf ihre Auswirkungen hin zu beobachten. Die bisher gehandhabte Kartellpolitik war eine ſolche der Kartelle unter Ausſchluß der Oeffentlichkeit. Nun- mehr ſetzt eine Kartellpolitik des Staates ein zu Nutz und Frommen der Konſumen- ten und des freien Wettbewerbs. Voraus- ſehbar iſt, daß gegenüber den Macht- faktoren der zuſammengehallten Indu- ſtrie, der Kapitalanhäufung, der vertikalen und horizontalen Gliederung, der bisheri- gen Möglichkeit der Preisdiktatur, ein Notgeſetz keine organiſchen Aende- rungen bringen kann. Erzieheriſch und vorbeugend, heilend und gefahr- drohend gegenüber Auswüchſen aber iſt die Verordnung. Möge ſie auch aufklärend für die breite Maſſe ſein und wieder daran erinnern, daß das wirtſchaftliche Schickſal der Einzelnen letzten Endes bedingt iſt nicht von eigenem Schaffen, ſondern von dem Zuſammenhang des Volksgenoſſen mit der ganzen Wirtſchaft, daß die Wirtſchaft eines Volksganzen mit der Staatspolitik und dieſe mit der Staats- geſinnung jedes einzelnen ſteht und fällt. So und nur ſo wird der Begriff der Demokratie ſein Recht erhalten, wenn der Staatsbürger am Staatsleben auch inner- lich teilnimmt, wenn er den Staat nicht als Fremdkörper betrachtet, ſich ſelbſt vielmehr als einen Teil des Ganzen und aus der Hörigkeit des Obrigkeitsſtaates heraustritt als ſelbſtverantwortliches Mit- glied der Volksgemeinde. Dr. Michael Siegel, München. Das Vorſpiel zur engliſchen Regierungsbildung. London, 3. Jan. Die Zeitungen berich- ten, daß der Premierminiſter auf den Brief des Vollzugsrats der Konſervativen Ver- einigung der Londoner City geantwortet habe, in dem der Vorſchlag gemacht wurde, daß man ſich Asquith nähern ſolle, um eine Zuſammenarbeit zwiſchen Libe- ralen und Konſervativen zuſtande zu bringen. Es verlautet, der Miniſter- präſident habe in ſeinem Brief zu verſtehen gegeben, er würde mit ſeinen Kollegen über dieſen Vorſchlag beraten. „Evening Standard“ erfährt amtlich, daß der Miniſterpräſident dem Führer der Libe- ralen kein derartiges Anerbie- ten gemacht habe. Der Gedanke, daß die Konſervative Partei die Unterſtützung der Liberalen nachſuchen ſollte, findet in der konſervativen Preſſe wenig Unterſtützung. „Morning Poſt“ fordert die Konſervativen auf, ſich um ihre Führer zu ſcharren, ihre alten Grundſätze zu vertreten und unab- hängig zu bleiben. Die ungar. Bombenverſchwörungen. Budapeſt, 3. Jan. Die Unterſuchung in den verſchiedenen Bombenanſchlä- gen hat zu neuerlichen Verhaftungen geführt. Aus den Ausſagen einzelner Zeu- gen wurde bekannt, daß in Czengrad ſich noch eine geheime Organiſation befindet, die mit den Zentralen in Keeskomet und Budapeſt in Verbindung ſteht. Der Anſtifter des Szegediner Bomben- attentats, Oberleutnant Piraska, be- ſtreitet aufs entſchiedenſte die Ausſagen, welche die Mitverhafteten bisher gemacht haben. Er wurde nach Budapeſt gebracht, während die übrigen Verhafteten in Szege- din verblieben. Dr. Heim wollte das Reich zerreißen. Neues authentiſches Material aus den Mitteilungen der amerikaniſchen Friedens- delegation. Ueber den Verhandlungen, die Dr. Heim im Jahre 1919 mit franzöſiſchen Offizieren im beſetzten Gebiet gepflogen hat, liegt be- kanntlich noch immer ein wohltätiges Dunkel. Dr. Heim hat zwar zu ſeiner Ent- laſtung nachgewieſen, daß die Reichsregie- rung von ſeiner Zuſammenkunft mit den Franzoſen Kenntnis gehabt hat. Aber daß ſie den Inhalt der Beſprechungen ge- kannt habe, hat er nicht zu beweiſen ver- mocht. Das iſt auch vollkommen ausge- ſchloſſen. Denn was hat Dr. Heim eigentlich mit den Reichsfeinden geredet? Hat man das bisher noch nicht mit Sicher- heit gewußt, ſo erfährt man es jetzt genau und vollkommen authentiſch. Im zweiten Band ſeiner „Memoiren und Dokumente über den Vertrag zu Verſailles“ erzählt der damalige Preſſechef der ameri- kaniſchen Friedensdelegation R. St. Baker folgendes: „Am 19. Mai 1919 berichtete Foch dem Rat der Vier über eine andere Intrigue. Es handelt ſich um das Erſuchen Dr. Heims aus Bayern, der in Wiesbaden mit den rheiniſchen Verſchwörern zuſammen war, um eine Unterredung mit verſchiedenen franzöſiſchen Vertretern wegen einer neuen ſeparatiſtiſchen Bewegung dortſelbſt. Ob- wohl Foch über dieſe Angelegenheit einen Bericht erſtattete, hatte er doch bereits die Verantwortlichkeit auf ſich genommen, Ge- neral Deſticker abzukommandieren, dieſe präſumptiven Revolutionäre anzuhören und auszufragen; dieſe Unter- haltung fand am gleichen Tage, als Foch davon Mitteilung machte, in Luxemburg ſtatt, worüber dem Rat am 23. berichtet wurde. Heim ſprach zuverſichtlich von der Loslöſung ſämtlicher andern bedeuten- den deutſchen Staaten von Preußen und über die Bildung einer neuen Konföderation mit Einſchluß Deutſch- Oeſterreichs unter einem „Protektorat“ der Entente, hauptſächlich in wirtſchaft- licher Beziehung. Er betonte, daß ein derartiger katho- liſcher und konſervativer „Block“ eine wirkſamere Barrière gegen den Bol- ſchewismus bilden würde, als es ein ver- preußtes Deutſchland je vermöchte. Die Franzoſen widerſprachen der Einbeziehung Oeſterreichs und kannten auch hinſichtlich der Bezahlung der Reparationen keine be- friedigende Zuſicherung abgeben. Die Unluſt Frankreichs, in dieſer Hinſicht auf irgend etwas zu verzichten, bildete das Haupthindernis zur wirklichen Ermutigung ſeparatiſtiſcher Bewegungen“. Alſo nur daran, daß Frankreich alles haben und auf gar nichts verzichten wollte, ſcheiterten die Heimſchen Separationsbe- ſtredungen. Baker erzählt dann weiter, daß auch Lloyd George den Fochſchen Ideen nicht günſtig gegenüberſtand. Immer- hin wurden ſie nicht ſchlechthin ver- worfen. Der Rat entſchied, die endgültige Erledi- gung in der Schwebe zu halten, „bis man die beſtimmte Zuſicherung der Deutſchen in Händen hätte, ob ſie unter- zeichnen wollten oder nicht. Der Be- ſchluß der Deutſchen, den Friedensver- trag wie er war zu unterzeichnen, ent- hob die Alliierten der Notwendigkeit, eine neue Politik ins Auge zu faſſen.“ Nicht alſo Milderung der Friedensbedin- gungen, wie es die Nationaliſten immer behaupten, war zu erreichen, falls Deutſch- land nicht unterzeichnete, ſondern dann war die Zerreißung des Reiches ſicher. Dr. Heim war bereit, ſie durchzuführen. Herabſetzung der franzöſiſchen Heeresſtärke. Paris, 3. Jan. Nach dem „New York Herald“ wird die franzöſiſche Armee am 10. Januar um 10 Diviſionen ver- mindert werden, und zwar ſeien 39 In- fanterieregimenter und 21 Kavallerieregi- menter aufgelöſt bzw. in der Auflöſung be- griffen. Polen erkennt Sowjetrußland an. Warſchau, 3. Jan. Der Leiter des polniſchen Außenamtes teilte dem Sowjet- geſandten mit, der Staatspräſident werde deſſen Beglaubigungsſchreiben als Sowjet- geſandter heute in Empfang nehmen. Gleich- zeitig werde ein regelrechter Geſandter Polens ernannt werden. Das bedeutet die Aufnahme der normalen diplomatiſchen Beziehungen und die Aner- kennung der Sowjetrepublik in aller Form. Tſchechiſche Beruhigungsſtimmen zum Vertrag mit Frankreich. Prag, 3. Jan. Gegenüber den Vermutungen engliſcher Blätter, daß der tſchechiſche Außen- miniſter im Januar nach London komme, um der engliſchen Regierung den Abſchluß des franzö- ſiſch-tſchechiſchen Vertrags zu er- klären, wird hier Wert auf die Feſtſtellung gelegt, daß die Reiſe des Herrn Dr. Beneſch nach London ſchon im September in Paris im Rate des Völkerbundes beſchloſſen wurde, weil das ungariſche Komitee die Angelegenheit der ungariſchen Auslandsanleihe und des Sanie- rungsproblems in London verhandeln werde. Die Reiſe hänge alſo mit dem franzöſiſchen Vertrag nicht zuſammen. In einem offenbar von Beneſch inſpirierten Artikel der „Prager Preſſe“ heißt es über den Vertrag: Die nüchterne Beurteilung in Wien. Berlin und Budapeſt iſt mit Dank zu verzeichnen. Dort überwiegt alſo der Eindruck, daß es ſich um einen Vertrag handelt, der tatſächlich fried- lichen Intereſſen dient. Dieſe Erwartung wird nicht getäuſcht werden. Der Vertrag er- ſcheint als ein vererbtes Glied künftiger euro- päiſcher Politik und vielleicht wird ihm bald ein ähnlicher zwiſchen Frankreich und England folgen können. Das wäre dann ein Schritt zum europäiſchen Garantiepakt nach Lloyd Georges Anregung. Die Zuſammenkunft der Kleinen Entente. Belgrad, 2. Januar. Für die Konferenz der Kleinen Entente in Belgrad iſt folgendes Pro- gramm vorgeſehen: Am 8. Januar abends trifft der rumäntſche Mi- niſter des Aeußern Duca in Belgrad ein, wäh- rend die Ankunft des tſchechoſlowakiſchen Außen- miniſters Beneſch am 9. Januar erfolgt. An dieſem Tage, vormittags 11 Uhr, findet die erſte Beſprechung der Staatsmänner im Gebäude der tſchechoſlowakiſchen Geſandtſchaft ſtatt, wobei der jugoſlawiſche Außenminiſter, Nintſchitſch das politiſche Programm der Konferenz vorlegen wird. Die „Politika“ ſchreibt anläßlich des bevorſte- henden Zuſammentritts der Konferenz, der Zweck derſelben ſei vor allem, die Bande der einzelnen kleinen Ententeſtaaten untereinander feſter zu knüpfen, die ſich im übrigen auch gelegentlich der Frage des ungariſchen Kredites als feſt erwieſen haben. Es ſei notwendig, Ungarn ſtets wachſam zu beobachten, damit es nicht abermals ein den europäiſchen Frieden ſtörendes Element werde. Ebenſo müſſe die Kleine Entente die nichtverbün- deten Balkanſtaaten ſtets im Auge behalten. Die Frage der Aufnahme Griechenlands in die Kleine Entente werde nicht beraten werden. Bayeriſche Poſtkutſche! Von Siegtried von Vegesack. Von Regen nach Bodenmais geht keine Eiſen- bahn, kein Autobus, kein Luftſchiff: es geht die Poſtkutſche. Die Poſtkutſche iſt ein kanariengelber vier- eckiger Kaſten mit zwei kleinen Gucklöchern zu beiden Seiten und zwei mageren Roſſen. Im Sommer geht die Poſtkutſche auf vier gelben Rädern, jetzt, im Winter, auf Schlittenkufen, wie eine richtige ruſſiſche „Kibitke“. Die Poſtkutſche geht nachmittags halb drei Uhr vom Marktplatz in Regen ab. Wann ſie in Boden- mais ankommt, weiß keiner, nicht einmal der Poſtillion. Es kann um fünf ſein, es kann ſechs ſein, ſieben ſein, und es kann auch acht werden. Es iſt alſo eine richtige Poſtkutſche, bei der es weder auf Minuten, noch Stunden ankommt. Ich ſteige in aller Gemütsruhe ein, ſetze mich auf den blauen Polſterſitz, und da noch ver- ſchiedene Weihnachtspakete verladen werden, habe ich alle Zeit, durch das eine Guckfenſter mir den Marktflecken Regen aus der Poſtkutſchperſpektive anzuſchaun. Regen iſt ein idylliſcher Ort von etwa zwei- einhalbtauſend Einwohnern und achtund- zwanzig Gaſtwirtſchaften. Jedes zweite Haus iſt ein Eckhaus, und jedes dritte Haus eine Wirt- ſchaft. Schon um den breiten Marktplatz mit den raten, grünen und gelben Häuſern grüßt dich die „Neue Poſt“, der „Paſſauer Hof“, der „Bauern- wirt“, und gleich dahinter das „Wurſtgköckl“, das „Bürgerliche Bräuhaus“, der „Moitzerlitzerhof“ — Wirtſchaft neben Wirtſchaft. Und faſt jeder Gaſt- hof hat ſeine eigene Metzgerei: nirgends hängen die Würſte in ſo ſtattlichen Reihen und ſo prall neben einander, wie in Regen. Und was nicht Wirtſchaft iſt, das iſt Bäckerei, Lebzelterei oder Spezereiwarengeſchäft. In einem Schaufenſter gibt es ſogar Bücher: Koch- und Gebetbücher. Und trotzdem: die geiſtigen Inter- eſſen ſind nicht gering. Der kleine Ort unterhält zwei Zeitungen: den ſchwarzen „Waldler“ und den fortſchrittlichen „Waldboten“, — und da ſpricht man noch von der „Not der Preſſe“! Zwei Geſangvereine, ein Bühnenverein und ein Zither- klub ſorgen für die Befriedigung künſtleriſcher Bedürfniſſe. Seit einem Jahr, als die „Naſch- hofs“ hier aufgeführt wurden, ſpricht der fort- ſchrittliche „Waldbote“ ſogar von „unſerer Sudermanngemeinde“, — wir ſind alſo hier im Walde nicht ganz zurückgeblieben! Die Päckchen ſind verladen, der Poſtillion ſchwingt ſich auf den Bock, die Peitſche knallt, und die beiden mageren Roſſe ziehen an. Im letzten Augenblick ſpringen noch zwei baumlange Bur- ſchen zu mir herein, jeder raucht einen kräftigen Knafter. Der vierte Platz, mir gegenüber, bleibt leer. Die letzte Wirtſchaft, das letzte Eckhaus iſt paſſiert. Die Kutſche ſteigt langſam an. Wir überholen eine Bauerndirn, die einen großen grauen Sack ſchleppt. „Jeſſes, die Zenzerl! Gruaß Gott, Zenzerl!“ Die beiden Burſchen winken zum Guckfenſter hinaus. Zenzerl bleibt ſtehen, ſieht ſich um und lacht. Die beiden Burſchen ſpringen in den Schnee hinaus, hinter der Poſtkutſche hört man nur ein Kichern. Bald darauf wird die Tür wieder aufgeriſſen, Zenzerl mit dem großen grauen Sack kommt hereingeflogen, grade auf den Platz mir gegenüber, und hinter ihr ſpringen die beiden Burſchen wieder ein. Zenzerl iſt eine richtige Waldlerin, mit großen ſtumpfen Kuhaugen, wulſtigen Lippen, breiten Schultern und ſtarken Knochen. Sie ſitzt da, hält den grauen Sack zwiſchen ihren feſten Beinen, lacht vor ſich hin und ſagt zuweilen „Uoa!“ Die beiden Burſchen ſind höchſt manierlich. Nur ganz verſtohlen kneift einer ſie in die Seite. Aber auch Zenzerl iſt ſittſam und verſchanzt ſich immer unangreifbarer hinter ihren grauen Sack. Und der graue Sack bewegt ſich: das iſt un- heimlich. Wir haben alſo noch einen Unbekannten unter uns. „Hühner? Gänſe? Tauben?“ rate ich, aber das alles iſt viel zu klein. Ein Rebus, — oder ein Vexierbild. Ich denke angeſtrengt nach. Schon ſind wir im tiefverſchneiten Hochwald, zwiſchen Schneemauern und Schneeſchluchten geht es unter den dunklen Zweigen. Roſſe, groß und breit wie Elefanten, tauchen dann und wann geſpenſterhaft auf, ungeheure Stämme und vermummte Geſtalten ziehen geräuſchlos vorüber. Beim Ausbiegen ſtreift zuweilen ein Zweig ſeine Schneelaſt ins Fenſter herein. Blaue Winter- dämmerung kriecht zwiſchen den Bäumen. Die beiden Burſchen fangen an zu ſingen, ein richtiges Volkslied, und wenn auch kein Eichen- dorff, ſo ſcheint es mir heute gerade deswegen umſo echter und urſprünglicher, Sie ſingen: „Wir ham uns z’ſammeng’funden Auf der Landſtraß draus, Wo wir gehn, wo wir ſtehn, Da ſan wir z’haus. Wir zahlen 'ß ganze Jahr koa Steu’r, Han nix vorn, nix hint’, Weil wir echte, echte, echte Hupfer-Zupfer ſind! Wir zupfen, zupfen, zupfen, Wir ſchnupfen, ſchnupfen, ſchnupfen, Wir zupfen alles z’ſamm’, — Solang wir was zum Zupfen ham!“ „Wir zahlen ’s ganze Jahr koa Steuer“ — in dieſen poeſievollen Worten liegt für uns heute mehr Romantik und Schwärmerei, als in allen Mondſcheingeſängen. Und kann man unſere, Deutſchlands Lage beſſer und treffender charak- teriſieren, als in dieſen zwei bitterluſtigen Zeilen: „Wir zupfen alles z’ſamm’, — Solang wir was zum Zupfen ham!“ Schen blitzen die Lichter von Bodenmais auf. Zenzerl will hinaus, die beiden Burſchen helfen ihr. Auch der Unbekannte im grauen Sack ver- läßt uns. Im letzten Augenblick — grunzt er heftig auf: das Rätſel iſt gelöſt! In Regen gab es heute Ferkelmarkt. Die Poſtkutſche hält. Wir ſind in Bodenmais. Nur ungern erheb ich mich vom blauen Polſter- ſitz. Da ſauſen die Menſchen in D-Zügen, Autos und Flugmaſchinen, ſchauen immer auf den Sekundenzeiger, und ſchlagen einen Rekord nach dem andern. Wenn ich Kaiſer (ach, nein), wenn ich Präſident (nein, lieber auch nicht!), — wenn ich der liebe Gott wäre, dann würde ich alle Menſchen ein Jahr lang nur in der Poſtkutſche fahren laſſen, — und es ſtände beſſer um uns. „Zeit iſt Geld“, — das iſt wahr. Aber wir haben ja bei dieſer Methode weder Zeit, noch Geld. In der Poſtkutſche hätten wir wenigſtens etwas Zeit: über uns nachzudenken. —

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2021-09-13T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 3. München, 4. Januar 1924, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine03_1924/2>, abgerufen am 23.11.2024.