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Allgemeine Zeitung, Nr. 6, vom 7. Januar 1924.

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Allgemeine Zeitung. Nr. 8. Montag, den 7. Januar 1924.

Lebensfreundlichkeit, unserem besseren Wis-
sen um Forderungen des Lebens. Daß diese
Forderungen deutschem Wesen zuwiderlie-
fen, ist nicht erwiesen und ist zu bestreiten.
Spielarten deutschen Volkstums, die, vom
Hauptstamm politisch frühzeitig getrennt,
seine geistigen, sittlichen Schicksale nur bis
zu einem gewissen Grade teilten -- ich denke
an die Schweiz und selbst an die Deutschen
Oesterreichs -- haben die Fühlung mit west-
europäischem Denken niemals, wie wir, ver-
loren und die Entartung des Romantismus,
die uns zu Einsamen und outlaws machte,
nicht miterlebt. Es fragt sich, ob wir sie dar-
um beneiden sollen. Das ist eine Krankheit,
die sie nicht gehabt haben, und ein wenig
tragen unsere Empfindungen für ihre be-
wahrte Tugend vielleicht den Akzent des
"Kinder, was wißt denn ihr!" Eines aber
jedenfalls kann ihr Anblick uns lehren:
Eine Stufe des deutschen Schicksalsganges,
die irrend zu überschreiten war, nicht mit
dem Deutschtum selbst -- und Selbstzucht
nicht mit Selbstaufgabe zu verwechseln.

Zur Ideen- und Idealwelt der naturrecht-
lich bestimmten europäischen Humanität ge-
hört der Gedanke der Menschheitsorganisa-
tion -- ein Gedanke, geboren ganz aus
jener schon stoisch-mittelalterlichen Verbin-
dung von Recht, Moral und Wohlfahrt, die
wir als utilitaristische Aufklärung so tief --
und mit ursprünglich zweifellos großem re-
volutionärem Recht so tief zu verachten ge-
lernt haben -- ein Gedanke, kompromit-
tiert und mißbraucht in aller Erfahrung.
verhöhnt und vorgeschützt von den Macht-
habern der Wirklichkeit -- und ein Gedanke
dennoch, der einen unverlierbaren Kern re-
gulativer Wahrheit, praktischer Vernunft-
forderung birgt, und dessen grundsätzlicher
Verleugnung kein Volk -- und sei es aus
den anfänglich geistigsten Gründen -- sich
schuldig machen kann, ohne an seinem
Menschentum nicht nur gesellschaftlich, son-
dern tiefinnerlich Schaden zu nehmen. Das
ist erwiesen. Wir sollen das arge Zucker-
brot, das jeder Erfahrungstag unserem
historischen Pessimismus anbietet, nicht gie-
rig schlingen, weil unser romantischer In-
stinkt an diesem Pessimismus hängt und
ihn nicht lassen will. Wir sollen angesichts
der Korruption des Gedankens den reinen
Gedanken hüten -- denn sogar deutscher
werden wir uns damit erweisen als durch
den verbissen rückwärts gewandten Kult
von Ideen, deren schließlich nicht minder
totale Entartung uns in ein Unglück ge-
stürzt hat, das würdelos wäre, wenn es uns
nicht zu bilden vermöchte.


Kabinettssitzung in Berlin.

Sonderdienst der Allgem. Zeitung.


Heute wird das
Reichskabinett vor-und nachmittags
Sitzungen
abhalten, an denen auch be-
reits der gestern von seiner Erholungs-
reise zurüchgekehrte Außenminister Dr.
Stresemann wieder teilnehmen wird. Ent-
gegen anderslautenden Meldungen wird
sich das Reichskabinett voraussichtlich heute
noch nicht mit den wichtigsten Fragen
(Hypothekenaufwertung, bayerische Denk-
[Spaltenumbruch] schrift) beschäftigen, sondern nur kleinere
Vorlagen beraten, damit die in den letzten
Tagen von Berlin abwesenden Minister
Gelegenheit haben, sich vorher in ihre
Ressorts wieder einzuarbeiten.

Die Rückkehr Stresemanns.

Sonderdienst der Allgem. Zeitung.


Reichsaußenminister
Dr. Stresemann ist am Samstag Morgen, nach-
dem er nochmals den deutschen Gesandten in
Bern, Dr. Müller, empfangen hatte, von Lu-
gano über Zürich nach Berlin zurückgereist, wo
er heute Vormittag eintraf. Er hat die Leitung
der Geschäfte des Außenministeriums bereits wie-
der übernommen.

Um den Pariser Botschafterposten.

Eigener Drahtbericht.


Französische Blätter mel-
den, daß die Ernennung des deutschen Geschäfts-
trägers v. Hoesch zum Botschafter in Paris er-
folgt sei. Dagegen kann darauf hingewiesen wer-
den, daß die Ernennung des deutschen Botschaf-
ters für Paris selbstverständlich erst nach der
Rückkehr des Außenministers Dr. Stresemann
erfolgen wird. Herr v. Hoesch ist allerdings
der aussichtsreichste Kandidat für den
Posten.

Hoesch in Berlin.

Eigener Drahtbericht.


Der deutsche Geschäfts-
träger in Paris von Hoesch wird bis Dienstag
oder Mittwoch dieser Woche nach Berlin kommen,
um mit dem Außenminister Dr. Stresemann
zu konferieren. Man nimmt an, daß während
seiner Anwesenheit seine Ernennung zum
Botschafter
erfolgen wird. Die Berliner Be-
sprechung wird sich nicht nur auf die aktuellen
Fragen der deutsch-französischen Ruhrverhandlun-
gen erstrecken, sondern in erster Linie eine Klä-
rung darüber bringen, welche Bedeutung den
französischen Versöhnungsversu-
chen
beizumessen ist. In Pariser politischen
Kreisen bezeichnet man es als nicht ausgeschlos-
sen, daß Deutschland jetzt in der einen oder
anderen Form in das System der französi-
schen Kontinentalpolitik
eingespannt
werden kann.

Frankreichs Antwort auf die deutschen
Vorschläge.

Die französische Antwort auf die deut-
schen Rhein- und Ruhrvorschläge ist am
Samstag der belgischen Regierung
überreicht
worden, nachdem Poincare
telephonisch vom Meuse-Departement aus
seine Zustimmung gegeben hatte. Der Ent-
wurf ist vom Quai d'Orsai in Gemeinschaft
mit Degoutte und Tirard ausgearbei-
tet worden. Ueber den Inhalt wird offiziell
erklärt, die Antwort sei im Ton versöhnlich,
aber durchaus fest bei der Behandlung der
entscheidenden Frage. Unterrichtete Kreise
erläutern diese Information dahin, daß sie
äußerlich konziliant, aber für Deutsch-
land unbefriedigend
gehalten sei.
Von offizieller französischer Seite wird noch
erklärt, es werde der französischen Regie-
rung nicht schwer sein, der Reichsregierung
ihren guten Willen zu beweisen, da die Be-
satzungsbehörde schon vor dem Eintreffen
des deutschen Memorandums Maßnahmen
ergriffen hätte, welche eine Wiederher-
stellung des Wirtschaftslebens

[Spaltenumbruch] zum Ziele hätten. In einer ganzen Reihe
von Fragen könnten allerdings Zugeständ-
nisse noch nicht gemacht werden, wenn nicht
der Wert des Ruhrpfandes geschädigt wer-
den soll. Im April (!) werde man über
weitere Erleichterungen reden können, weil
dann die Beratungen der Reparationskom-
mission so weit fortgeschritten sein würden,
daß eine Erörterung des Gesamtkomplexes
möglich sei.

Wie nunmehr feststeht, wird die Note am
Dienstag überreicht werden. Es scheint, daß
von belgischer Seite Bemühungen im Gange
sind, die Antwort gleichzeitig mit der fran-
zösischen so zu gestalten, daß die Verhand-
lungen nicht abgebrochen werden
müssen. Es ist dabei der Wunsch maßgebend,
der Aufrechterhaltung der Entente mit Eng-
land Rechnung zu tragen.

Die Deutschen Ruhrgefangenen.

Nach dem letzten authen-
tischen Bericht werden in Gefängnissen des be-
setzten Gebietes über 2000 deutsche Staats-
bürger
aus politischen Gründen festgehalten.
Bei dieser Ziffer sind bereits die nach französischen
Angaben in den letzten Wochen erfolgten 300
Amnestierungen in Abzug gebracht.

Nach deutschen Feststellungen ist die Zahl der
Amnestierungen nicht einmal so hoch. Die fran-
zösischen Quellen geben die Zahl der politisch In-
haftierten im besetzten Gebiet wesentlich niedriger
an, da sie zwischen politischen und kriminellen
Inhaftierten unterscheiden und zu den letzteren
auch die rechnen, die nach deutscher Auffassung
nur wegen politischer Mißhelligkeiten verurteilt
worden sind.

Nach den hier vorliegenden Informationen be-
findet sich immer noch eine ansehnliche Zahl
von Deutschen in französischen Gefäng-
nissen,
z.B. in Nancy 5, in Pas de Ca-
lais
3, in Endersheim bei Mühlhausen 1
und in Marseille 10.

Der neue Reichskommissar für Reparations-
leistungen.

Anstelle des bisheri-
gen Reichskommissars für Reparationslei-
stungen, Generaldirektor Lob, der auf sei-
nen Antrag von seinem Amte enthoben wor-
den ist, ist mit der Führung der Geschäfte
des Reichskommissars der Abteilungsleiter
im Reichsministerium für Wiederaufbau,
Ministerialrat Dr. Guntze, beauftragt
worden.

Der thüringische Skandal.

Wie die "Weimarer Zei-
tung" hört, ist durch Verfügung des Militär-
befehlshabers die vorläufige Amtsenthebung der
Kreisdelegierten Rennert-Meiningen und
Hönschelmann-Eisenach verfügt worden. Es
wird gegen die Obengenannten der Verdacht aus-
gesprochen, sich möglicherweise an den Urkun-
denfälschungen
insofern beteiligt zu haben,
als sie ein Protokoll über die erdliche Verpflichtung
eines Beamten aufgenommen haben, in dem das
Datum falsch angegeben ist. Die Staats-
anwaltschaft in Weimar will sich die Ausdehnung
der gerichtlichen Untersuchung vorbehalten.

Die Untersuchung.

Die thüringifchen Staats-
minister Frölich, Hartmann und Greil
hatten Samstag mittag in einer Sitzung in der
Reichskanzlei unter dem Vorsitz des Reichskanz-
lers Marx Gelegenheit, sich ohne Rücksicht auf
die Feststellungen, die von den Reichsbeauftragten
in Thüringen getroffen worden sind, zu äußern.
Das Reichskabinett wird sich nunmehr mit den
[Spaltenumbruch] Ergebnissen der vorgenommenen Untersuchung be-
fassen. Voraussichtlich findet die Kabinettssitzung
über die Vorgänge in Thüringen am Montag
vormittag statt. Für nachmittag 3 Uhr sind die
thüringischen Staatsminister wiederum zu Be-
sprechungen in die Reichskanzkei geladen.

Ende des Berliner Metall-
arbeiterstreiks.

Nach zehn-
stündigen Verhandlungen wurde am Sams-
tag abend im Lohnkampf der Berliner
Metallindustrie eine Verständigung
erzielt, ohne daß das von dem Schlich-
tungstag für Großberlin bestellten Reichs-
tagsabgeordneten Wissel berufene
Schiedsgericht in Tätigkeit zu treten
brauchte.

Das Abkommen fand gestern die Bil-
ligung der Betriebsräte.
Die
Unternehmer werden sich heute entscheiden.
An ihrer Zustimmung ist jedoch nicht zu
zweifeln.

Der vereinbarte Stundenlohn beträgt in
Klasse I 48 Pfg. gegen 40 Pfg. nach dem
Angebot der Arbeitgeber und gegen 50 Pfg.
nach den bis zum 1. Juli gültigen Sätzen,
in Klasse V 38 Pfg. gegen 30 Pfg. nach
dem Angebot und 41 Pfg. seither. Die
Frauen- und Kinderzulagen bleiben, wie
sie vor dem 1. Januar bestanden.

Wichtiger als die Regelung der Lohn-
frage erscheint jedoch die Bestimmung, daß,
sobald genügend Aufträge vorliegen, der
Neunstundentag, und mit Zustim-
mung des Betriebsrates der betr. Werke
auch der Zehnstundentag eingeführt
werden kann, wobei Ueberstunden-
zuschläge nur für die zehnte,

nicht auch schon für die neunte Arbeits-
stunde
zu bezahlen sind.

Gegen den Bankwucher!

Seitens der Staats-
anwaltschaft ist ein Verfahren gegen ver-
schiedene Banken wegen zu hoher Zinsfor-
derungen eingeleitet worden.

Wie die "Telegraphen-Union" hierzu er-
fährt, sind durch diese, besonders im No-
vember und anfangs Dezember 1923 erho-
benen zu hohen Zinsforderungen der Ban-
ken zahlreiche Firmen, und zwar nicht nur
der Nahrungsmittelbranche, in Schwie-
rigkeitengeraten.
Zwischen der Ab-
teilung V des Polizeipräsidiums und dem
Reichswirtschaftsministerium haben übri-
gens wiederholt bis in die letzten Tage hin-
ein Verhandlungen stattgefunden, deren
Zweck eine Einwirkung auf die Banken
war, ihre Zinsforderungen herabzu-
setzen,
was auch zum Teil geschehen ist.
Die bereits eingeleiteten staatsanwaltschaft-
lichen Verfahren bleiben jedoch hiervon un-
berührt

Zeitungsverbote.

Der Inhaber der vollziehen-
den Gewalt, General v. Serckt, hat auf Grund
des § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten
vom 26. September den Vertrieb der Noten
Fahne,
Wien, des Basler Vorwärts und
der Internationalen Pressekorre-
spondenz
(Inprekorr.). Wien, für das Reichs-
gebiet verboten.



Georg Kaiser: Nebeneinander.

Kammerspiele.

Zwischen Glauben und Sehnen -- Glaube an
die (alte) Menschheit und Sehnsucht nach dem
(neuen) Menschen -- schwingt das europäische
Drama. In diesem Rahmen ist Raum für die
höchste Meinung von Gott und für die niedrigste
vom Menschen und umgekehrt. Wenn sich nur
über den beiden Polen der Regenbogen einer
Idee spannt, in dessen Farben Menschheit, Gott
und Mensch sich spiegeln ...

Klage über das neueste Drama: es ersetzt die
Idee durch den Einfall; Glaube wird zum Pro-
gramm; Sehnsucht zur Tendenz; es fehlt ihm also
die hohe Spannung. Der Gegensatz regiert, un-
gelöst, die dramatische Welt. Er setzt sich über die
Rampe hinüber fort und wird Gegensatz zwischen
dem Dramatiker und dem vom Drama erregten
Zuschauer-Menschen. Darum herrscht kein Ein-
klang und überhaupt wenig Klang im Thea er
der Modernen. Sie tun, als ob sie beten. Sie
beten vielleicht sogar wirklich. Aber es fehlt der
kosmische Chor. Die Sphäre der Welt bleibt
stumm. Solch Gebet wird nicht erhört. Das
Drama mithin verharrt, erstarrt, entleibt sich in
inbrünstiger Deklamation, in Uebung der Worte
und des Willens zur Aussage.

Georg Kaiser nun, diese gezackteste Erscheinung
unter den heutigen Dramatikern, hingenommen
vom Kitsch wie von einer verzehrenden Flamme,
in der er erglüht, rast als Flüchtling neben dem
Kreis der Idee von Menschheit, Gott und Mensch
und sucht diesen Kreis durch den motorischen An-
trieb eines Einfalls von außen her in Bewegung
zu setzen. Immer hängt über seinem dichterischen
Tun die bleierne Wolke des Mißtrauens, ob denn,
bei seiner Finger- und Handfertigkeit, die Linke
auch weiß, was die Rechte tut, das Herz auch
fühlt, was die Stimme spricht. Ist es denn wahr,
daß dieser beflissene Flegellaut, indem er sich in
seinen Gestalten peinigt, die Schmerzen der
[Spaltenumbruch] Geißelung leidet und also das leidvolle Gesicht,
das er uns zeigt, keine Grimasse und keine Maske
ist? Wenn nur der Wald seiner Worte nicht gar
so dicht, wenn nur mehr Lichtung und Licht um
seine Gestalten wäre! Wenn nur das Phone-
tische im Drama, das wir von der Antike und von
Schiller her so vertrauensvoll lieben, bei ihm
nicht so grammophonetisch klänge! Die Walze
hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

Vielleicht ist es an dem, daß Georg Kaiser mit
sich selbst um den Glauben an den Kreis, an des-
sen Peripherie er steht, schmerzlich ringt, -- ein
Skeptiker, der glauben möchte, ein Weltmensch,
den es in die Einsamkeit zieht, ein Einsiedler, der
das Gebrause des Lebens nicht vergessen kann.
Soviel ist gewiß: irgend etwas stimmt an diesem
Kaiser nicht. Irgendwie wuchert sein Talent ins
Ungefähre, in den Effekt, in den trüben Schwall.
Er macht eine ansehnliche Figur, aber sie hat für
unverblendete Augen einen Buckel. Wo und wie,
muß man halt durch Beklopfen eruieren.

Seinen Helden wählt Kaiser aus seinem eige-
nen Organismus heraus: meist irgend einen
kleinen, verkümmerten Schößling unseres Ge-
schlechts, durch Beruf und Neigung verkrümmt (wie
der Dichter?!), einen Bankkassier oder Pfand-
verleiher, immer irgend einen Klein- und Kleinst-
bürger oder, geradezu, eine Karikatur. Und
dann heftet er dem Leben solcher Kreatur einen
Einfall an, von außen her, und bohrt und bohrt
und schürft halt ein Schicksal zutage, das groß
wäre, wenn es nicht mit dem Einfall fallen
könnte.

In seinem Volksstück "Nebeneinander" ist ein
Pfandverleiher der besagte Held. Zuerst knöpft
er einer armen Frau ihr Bett um zu billiges
Geld ab -- wie häßlich! Dann jagt er einem
Schieber den Frack ab -- zu beiderseitiger Zufrie-
denheit. Und endlich wird sein Herz erst einer
armen Frau gegenüber weich, der er für eine
Pfeife mehr gibt, als er dürfte. Insgesamt also:
Der Beruf hat ihn mit Schmutz umkrustet. Er
[Spaltenumbruch] muß erst in dem Frack einen Absagebrief an ein
zum Selbstmord bereites liebendes Mädchen fin-
den, um seine eigene Seele und ihre Erbarmungs-
fähigkeit zu entdecken. Nun will er den Brief
an seine Adresse bringen, um nicht an einem
Mord mitschuldig, um nicht, nach seiner durch die-
sen einen Funken überhitzten Vorstellung, Mör-
der zu werden.

Man könnte die Möglichkeit, Wahrscheinlich-
keit, Armseligkeit dieses Zufalls der Dichtung und
Einfalls des Dichters zerpflücken. Es bliebe nichts
davon übrig. Um nur das Platteste zu sagen:
Der Pfandverleiher findet den Brief beim Rei-
nigen des Rockes. Was hat denn ein Pfandver-
leiher einen Rock zu reinigen, der morgen viel-
leicht schon wieder abgeholt wird? Hier schon
buckelt sich etwas, in der platten Wahrscheinlich-
keit schon. Nur sowas nicht unterschätzen! Zu-
mal in einem Volksstück.

Gleichviel: Der Pfandverleiher macht sich mit
seiner übrigens ausdrücklich buckeligen Tochter
auf die Suche nach ihm, der den Brief geschrieben
hat, und nach ihr, die ihn empfangen sollte. Eine
Seele (von einem Menschen) also sucht nach einem
Leib, den sie retten will. Retten? Von wegen
dem bißchen Leben? Ein Kümmerlicher traktiert
Kümmerliches. Der Einfall setzt mit seiner über-
spitzten Nadel eine Platte in Bewegung, auf der
die Idee spielt. Die Melodie lullt nur arme
Leute ein. Ach, wir Armen!

Nun aber streckt sich der Einfall zum Drama.
Er wird dramaturgisch. Und da fingert unser
Kaiser etwas, wovor man grenzenlosen Respekt
haben muß. Er läßt nämlich das äußere Schick-
sal des Schiebers, der den Brief geschrieben hat,
und des Mädchens, das ihn empfangen sollte, in
kurzen Film [verlorenes Material - fehlt]
Nebeneinander. Der inbrünstig gesuchte Schieber
wird Filmunternehmer, klein erst, immer größer
und zuletzt, in Keßheit starrend, ein Mann von
abenteuerlichem Gewicht. Scheingroße Welt!
Und das Mädchen eilt zu seiner Schwester, der
Frau eines Deichhauptmanns von Sudermanns
[Spaltenumbruch] Gnaden, und findet da in einem gartenlaubisch
blühenden Ingenieur ihr kleines Glück. In
Summa: das Leben hilft sich selbst und produ-
ziert Schicksal als Alltagsware. Wen's trifft, der
wird reich und mächtig, und wen's anders trifft,
der wird glücklich im Winkel. Dort Schieber, hier
Mädchen!

Der Pfandverleiher aber, Schicksal spielend,
was er nicht kann, erleidet das Los des Dilettan-
ten. Er trommelt nach jenen beiden. Schließ-
lich bekleidet er sich mit Frack und Pelzmantel
aus seiner Pfandleihe, um in einer Bar (Einfall,
o Einfalt!) nach den Gesuchten zu suchen. Der
Pelzmantel aber war gestohlen, der Bestohlene
entdeckt ihn in der Garderobe der Bar, der Pfand-
verleiher wird als Dieb zur Polizei gebracht und
schließlich des unrechtmäßigen Gebrauchs von
Pfandstücken überführt. Man entzieht ihm seine
Konzession, also sein äußeres Leben. Er tötet
sich nebst dem Hascherl von Tochter mit Gas.

Helfen wollte er andern und sich selbst verdarb
er. Seele des Menschen, wie gleichst du ....
wem? Dem Zufall, dem Einfall! Mehr kommt
dabei nicht heraus. Trotzdem: ein virtuoses,
buntes, fesselndes Stück! Ein großartiger Drama-
rurg, dem Szenisches nur so einfällt, nur so zu-
fällt, hat es gemacht, ein mittlerer Dramatiker
hat es nicht gekonnt. Nebeneinander -- rotieren
die Kreise, gefüllt mit Blitzlicht, dazwischen klafft,
was Idee heißen und bedeuten müßte. Ein auf-
geregt mattes Stück, mit Glanz poliert. Und
doch ist es von allerhand Schönheit umgeistert,
von menschlichem Atem beflügelt. Es greift an
eine Totalität, aber es hat sie nicht.

Die Kammerspiele haben das Stück mit Aech-
zen und Stöhnen aufgeführt. Ihre kleine Bühne,
dreigeteilt für das Nebeneinander, gab zu wenig
Raum für die Sinnfälligkeit der Szene, der Re-
gisseur Bernhard Reich nicht genug Phantasie für
die Pointierung der drei Milieus her. In un-
quemem Trippelbett wälzte sich die Aufführung

Allgemeine Zeitung. Nr. 8. Montag, den 7. Januar 1924.

Lebensfreundlichkeit, unſerem beſſeren Wiſ-
ſen um Forderungen des Lebens. Daß dieſe
Forderungen deutſchem Weſen zuwiderlie-
fen, iſt nicht erwieſen und iſt zu beſtreiten.
Spielarten deutſchen Volkstums, die, vom
Hauptſtamm politiſch frühzeitig getrennt,
ſeine geiſtigen, ſittlichen Schickſale nur bis
zu einem gewiſſen Grade teilten — ich denke
an die Schweiz und ſelbſt an die Deutſchen
Oeſterreichs — haben die Fühlung mit weſt-
europäiſchem Denken niemals, wie wir, ver-
loren und die Entartung des Romantismus,
die uns zu Einſamen und outlaws machte,
nicht miterlebt. Es fragt ſich, ob wir ſie dar-
um beneiden ſollen. Das iſt eine Krankheit,
die ſie nicht gehabt haben, und ein wenig
tragen unſere Empfindungen für ihre be-
wahrte Tugend vielleicht den Akzent des
„Kinder, was wißt denn ihr!“ Eines aber
jedenfalls kann ihr Anblick uns lehren:
Eine Stufe des deutſchen Schickſalsganges,
die irrend zu überſchreiten war, nicht mit
dem Deutſchtum ſelbſt — und Selbſtzucht
nicht mit Selbſtaufgabe zu verwechſeln.

Zur Ideen- und Idealwelt der naturrecht-
lich beſtimmten europäiſchen Humanität ge-
hört der Gedanke der Menſchheitsorganiſa-
tion — ein Gedanke, geboren ganz aus
jener ſchon ſtoiſch-mittelalterlichen Verbin-
dung von Recht, Moral und Wohlfahrt, die
wir als utilitariſtiſche Aufklärung ſo tief —
und mit urſprünglich zweifellos großem re-
volutionärem Recht ſo tief zu verachten ge-
lernt haben — ein Gedanke, kompromit-
tiert und mißbraucht in aller Erfahrung.
verhöhnt und vorgeſchützt von den Macht-
habern der Wirklichkeit — und ein Gedanke
dennoch, der einen unverlierbaren Kern re-
gulativer Wahrheit, praktiſcher Vernunft-
forderung birgt, und deſſen grundſätzlicher
Verleugnung kein Volk — und ſei es aus
den anfänglich geiſtigſten Gründen — ſich
ſchuldig machen kann, ohne an ſeinem
Menſchentum nicht nur geſellſchaftlich, ſon-
dern tiefinnerlich Schaden zu nehmen. Das
iſt erwieſen. Wir ſollen das arge Zucker-
brot, das jeder Erfahrungstag unſerem
hiſtoriſchen Peſſimismus anbietet, nicht gie-
rig ſchlingen, weil unſer romantiſcher In-
ſtinkt an dieſem Peſſimismus hängt und
ihn nicht laſſen will. Wir ſollen angeſichts
der Korruption des Gedankens den reinen
Gedanken hüten — denn ſogar deutſcher
werden wir uns damit erweiſen als durch
den verbiſſen rückwärts gewandten Kult
von Ideen, deren ſchließlich nicht minder
totale Entartung uns in ein Unglück ge-
ſtürzt hat, das würdelos wäre, wenn es uns
nicht zu bilden vermöchte.


Kabinettsſitzung in Berlin.

Sonderdienſt der Allgem. Zeitung.


Heute wird das
Reichskabinett vor-und nachmittags
Sitzungen
abhalten, an denen auch be-
reits der geſtern von ſeiner Erholungs-
reiſe zurüchgekehrte Außenminiſter Dr.
Streſemann wieder teilnehmen wird. Ent-
gegen anderslautenden Meldungen wird
ſich das Reichskabinett vorausſichtlich heute
noch nicht mit den wichtigſten Fragen
(Hypothekenaufwertung, bayeriſche Denk-
[Spaltenumbruch] ſchrift) beſchäftigen, ſondern nur kleinere
Vorlagen beraten, damit die in den letzten
Tagen von Berlin abweſenden Miniſter
Gelegenheit haben, ſich vorher in ihre
Reſſorts wieder einzuarbeiten.

Die Rückkehr Streſemanns.

Sonderdienſt der Allgem. Zeitung.


Reichsaußenminiſter
Dr. Streſemann iſt am Samstag Morgen, nach-
dem er nochmals den deutſchen Geſandten in
Bern, Dr. Müller, empfangen hatte, von Lu-
gano über Zürich nach Berlin zurückgereiſt, wo
er heute Vormittag eintraf. Er hat die Leitung
der Geſchäfte des Außenminiſteriums bereits wie-
der übernommen.

Um den Pariſer Botſchafterpoſten.

Eigener Drahtbericht.


Franzöſiſche Blätter mel-
den, daß die Ernennung des deutſchen Geſchäfts-
trägers v. Hoeſch zum Botſchafter in Paris er-
folgt ſei. Dagegen kann darauf hingewieſen wer-
den, daß die Ernennung des deutſchen Botſchaf-
ters für Paris ſelbſtverſtändlich erſt nach der
Rückkehr des Außenminiſters Dr. Streſemann
erfolgen wird. Herr v. Hoeſch iſt allerdings
der ausſichtsreichſte Kandidat für den
Poſten.

Hoeſch in Berlin.

Eigener Drahtbericht.


Der deutſche Geſchäfts-
träger in Paris von Hoeſch wird bis Dienstag
oder Mittwoch dieſer Woche nach Berlin kommen,
um mit dem Außenminiſter Dr. Streſemann
zu konferieren. Man nimmt an, daß während
ſeiner Anweſenheit ſeine Ernennung zum
Botſchafter
erfolgen wird. Die Berliner Be-
ſprechung wird ſich nicht nur auf die aktuellen
Fragen der deutſch-franzöſiſchen Ruhrverhandlun-
gen erſtrecken, ſondern in erſter Linie eine Klä-
rung darüber bringen, welche Bedeutung den
franzöſiſchen Verſöhnungsverſu-
chen
beizumeſſen iſt. In Pariſer politiſchen
Kreiſen bezeichnet man es als nicht ausgeſchloſ-
ſen, daß Deutſchland jetzt in der einen oder
anderen Form in das Syſtem der franzöſi-
ſchen Kontinentalpolitik
eingeſpannt
werden kann.

Frankreichs Antwort auf die deutſchen
Vorſchläge.

Die franzöſiſche Antwort auf die deut-
ſchen Rhein- und Ruhrvorſchläge iſt am
Samstag der belgiſchen Regierung
überreicht
worden, nachdem Poincaré
telephoniſch vom Meuſe-Departement aus
ſeine Zuſtimmung gegeben hatte. Der Ent-
wurf iſt vom Quai d’Orſai in Gemeinſchaft
mit Degoutte und Tirard ausgearbei-
tet worden. Ueber den Inhalt wird offiziell
erklärt, die Antwort ſei im Ton verſöhnlich,
aber durchaus feſt bei der Behandlung der
entſcheidenden Frage. Unterrichtete Kreiſe
erläutern dieſe Information dahin, daß ſie
äußerlich konziliant, aber für Deutſch-
land unbefriedigend
gehalten ſei.
Von offizieller franzöſiſcher Seite wird noch
erklärt, es werde der franzöſiſchen Regie-
rung nicht ſchwer ſein, der Reichsregierung
ihren guten Willen zu beweiſen, da die Be-
ſatzungsbehörde ſchon vor dem Eintreffen
des deutſchen Memorandums Maßnahmen
ergriffen hätte, welche eine Wiederher-
ſtellung des Wirtſchaftslebens

[Spaltenumbruch] zum Ziele hätten. In einer ganzen Reihe
von Fragen könnten allerdings Zugeſtänd-
niſſe noch nicht gemacht werden, wenn nicht
der Wert des Ruhrpfandes geſchädigt wer-
den ſoll. Im April (!) werde man über
weitere Erleichterungen reden können, weil
dann die Beratungen der Reparationskom-
miſſion ſo weit fortgeſchritten ſein würden,
daß eine Erörterung des Geſamtkomplexes
möglich ſei.

Wie nunmehr feſtſteht, wird die Note am
Dienstag überreicht werden. Es ſcheint, daß
von belgiſcher Seite Bemühungen im Gange
ſind, die Antwort gleichzeitig mit der fran-
zöſiſchen ſo zu geſtalten, daß die Verhand-
lungen nicht abgebrochen werden
müſſen. Es iſt dabei der Wunſch maßgebend,
der Aufrechterhaltung der Entente mit Eng-
land Rechnung zu tragen.

Die Deutſchen Ruhrgefangenen.

Nach dem letzten authen-
tiſchen Bericht werden in Gefängniſſen des be-
ſetzten Gebietes über 2000 deutſche Staats-
bürger
aus politiſchen Gründen feſtgehalten.
Bei dieſer Ziffer ſind bereits die nach franzöſiſchen
Angaben in den letzten Wochen erfolgten 300
Amneſtierungen in Abzug gebracht.

Nach deutſchen Feſtſtellungen iſt die Zahl der
Amneſtierungen nicht einmal ſo hoch. Die fran-
zöſiſchen Quellen geben die Zahl der politiſch In-
haftierten im beſetzten Gebiet weſentlich niedriger
an, da ſie zwiſchen politiſchen und kriminellen
Inhaftierten unterſcheiden und zu den letzteren
auch die rechnen, die nach deutſcher Auffaſſung
nur wegen politiſcher Mißhelligkeiten verurteilt
worden ſind.

Nach den hier vorliegenden Informationen be-
findet ſich immer noch eine anſehnliche Zahl
von Deutſchen in franzöſiſchen Gefäng-
niſſen,
z.B. in Nancy 5, in Pas de Ca-
lais
3, in Endersheim bei Mühlhauſen 1
und in Marſeille 10.

Der neue Reichskommiſſar für Reparations-
leiſtungen.

Anſtelle des bisheri-
gen Reichskommiſſars für Reparationslei-
ſtungen, Generaldirektor Lob, der auf ſei-
nen Antrag von ſeinem Amte enthoben wor-
den iſt, iſt mit der Führung der Geſchäfte
des Reichskommiſſars der Abteilungsleiter
im Reichsminiſterium für Wiederaufbau,
Miniſterialrat Dr. Guntze, beauftragt
worden.

Der thüringiſche Skandal.

Wie die „Weimarer Zei-
tung“ hört, iſt durch Verfügung des Militär-
befehlshabers die vorläufige Amtsenthebung der
Kreisdelegierten Rennert-Meiningen und
Hönſchelmann-Eiſenach verfügt worden. Es
wird gegen die Obengenannten der Verdacht aus-
geſprochen, ſich möglicherweiſe an den Urkun-
denfälſchungen
inſofern beteiligt zu haben,
als ſie ein Protokoll über die erdliche Verpflichtung
eines Beamten aufgenommen haben, in dem das
Datum falſch angegeben iſt. Die Staats-
anwaltſchaft in Weimar will ſich die Ausdehnung
der gerichtlichen Unterſuchung vorbehalten.

Die Unterſuchung.

Die thüringifchen Staats-
miniſter Frölich, Hartmann und Greil
hatten Samstag mittag in einer Sitzung in der
Reichskanzlei unter dem Vorſitz des Reichskanz-
lers Marx Gelegenheit, ſich ohne Rückſicht auf
die Feſtſtellungen, die von den Reichsbeauftragten
in Thüringen getroffen worden ſind, zu äußern.
Das Reichskabinett wird ſich nunmehr mit den
[Spaltenumbruch] Ergebniſſen der vorgenommenen Unterſuchung be-
faſſen. Vorausſichtlich findet die Kabinettsſitzung
über die Vorgänge in Thüringen am Montag
vormittag ſtatt. Für nachmittag 3 Uhr ſind die
thüringiſchen Staatsminiſter wiederum zu Be-
ſprechungen in die Reichskanzkei geladen.

Ende des Berliner Metall-
arbeiterſtreiks.

Nach zehn-
ſtündigen Verhandlungen wurde am Sams-
tag abend im Lohnkampf der Berliner
Metallinduſtrie eine Verſtändigung
erzielt, ohne daß das von dem Schlich-
tungstag für Großberlin beſtellten Reichs-
tagsabgeordneten Wiſſel berufene
Schiedsgericht in Tätigkeit zu treten
brauchte.

Das Abkommen fand geſtern die Bil-
ligung der Betriebsräte.
Die
Unternehmer werden ſich heute entſcheiden.
An ihrer Zuſtimmung iſt jedoch nicht zu
zweifeln.

Der vereinbarte Stundenlohn beträgt in
Klaſſe I 48 Pfg. gegen 40 Pfg. nach dem
Angebot der Arbeitgeber und gegen 50 Pfg.
nach den bis zum 1. Juli gültigen Sätzen,
in Klaſſe V 38 Pfg. gegen 30 Pfg. nach
dem Angebot und 41 Pfg. ſeither. Die
Frauen- und Kinderzulagen bleiben, wie
ſie vor dem 1. Januar beſtanden.

Wichtiger als die Regelung der Lohn-
frage erſcheint jedoch die Beſtimmung, daß,
ſobald genügend Aufträge vorliegen, der
Neunſtundentag, und mit Zuſtim-
mung des Betriebsrates der betr. Werke
auch der Zehnſtundentag eingeführt
werden kann, wobei Ueberſtunden-
zuſchläge nur für die zehnte,

nicht auch ſchon für die neunte Arbeits-
ſtunde
zu bezahlen ſind.

Gegen den Bankwucher!

Seitens der Staats-
anwaltſchaft iſt ein Verfahren gegen ver-
ſchiedene Banken wegen zu hoher Zinsfor-
derungen eingeleitet worden.

Wie die „Telegraphen-Union“ hierzu er-
fährt, ſind durch dieſe, beſonders im No-
vember und anfangs Dezember 1923 erho-
benen zu hohen Zinsforderungen der Ban-
ken zahlreiche Firmen, und zwar nicht nur
der Nahrungsmittelbranche, in Schwie-
rigkeitengeraten.
Zwiſchen der Ab-
teilung V des Polizeipräſidiums und dem
Reichswirtſchaftsminiſterium haben übri-
gens wiederholt bis in die letzten Tage hin-
ein Verhandlungen ſtattgefunden, deren
Zweck eine Einwirkung auf die Banken
war, ihre Zinsforderungen herabzu-
ſetzen,
was auch zum Teil geſchehen iſt.
Die bereits eingeleiteten ſtaatsanwaltſchaft-
lichen Verfahren bleiben jedoch hiervon un-
berührt

Zeitungsverbote.

Der Inhaber der vollziehen-
den Gewalt, General v. Serckt, hat auf Grund
des § 1 der Verordnung des Reichspräſidenten
vom 26. September den Vertrieb der Noten
Fahne,
Wien, des Baſler Vorwärts und
der Internationalen Preſſekorre-
ſpondenz
(Inprekorr.). Wien, für das Reichs-
gebiet verboten.



Georg Kaiſer: Nebeneinander.

Kammerſpiele.

Zwiſchen Glauben und Sehnen — Glaube an
die (alte) Menſchheit und Sehnſucht nach dem
(neuen) Menſchen — ſchwingt das europäiſche
Drama. In dieſem Rahmen iſt Raum für die
höchſte Meinung von Gott und für die niedrigſte
vom Menſchen und umgekehrt. Wenn ſich nur
über den beiden Polen der Regenbogen einer
Idee ſpannt, in deſſen Farben Menſchheit, Gott
und Menſch ſich ſpiegeln ...

Klage über das neueſte Drama: es erſetzt die
Idee durch den Einfall; Glaube wird zum Pro-
gramm; Sehnſucht zur Tendenz; es fehlt ihm alſo
die hohe Spannung. Der Gegenſatz regiert, un-
gelöſt, die dramatiſche Welt. Er ſetzt ſich über die
Rampe hinüber fort und wird Gegenſatz zwiſchen
dem Dramatiker und dem vom Drama erregten
Zuſchauer-Menſchen. Darum herrſcht kein Ein-
klang und überhaupt wenig Klang im Thea er
der Modernen. Sie tun, als ob ſie beten. Sie
beten vielleicht ſogar wirklich. Aber es fehlt der
kosmiſche Chor. Die Sphäre der Welt bleibt
ſtumm. Solch Gebet wird nicht erhört. Das
Drama mithin verharrt, erſtarrt, entleibt ſich in
inbrünſtiger Deklamation, in Uebung der Worte
und des Willens zur Ausſage.

Georg Kaiſer nun, dieſe gezackteſte Erſcheinung
unter den heutigen Dramatikern, hingenommen
vom Kitſch wie von einer verzehrenden Flamme,
in der er erglüht, raſt als Flüchtling neben dem
Kreis der Idee von Menſchheit, Gott und Menſch
und ſucht dieſen Kreis durch den motoriſchen An-
trieb eines Einfalls von außen her in Bewegung
zu ſetzen. Immer hängt über ſeinem dichteriſchen
Tun die bleierne Wolke des Mißtrauens, ob denn,
bei ſeiner Finger- und Handfertigkeit, die Linke
auch weiß, was die Rechte tut, das Herz auch
fühlt, was die Stimme ſpricht. Iſt es denn wahr,
daß dieſer befliſſene Flegellaut, indem er ſich in
ſeinen Geſtalten peinigt, die Schmerzen der
[Spaltenumbruch] Geißelung leidet und alſo das leidvolle Geſicht,
das er uns zeigt, keine Grimaſſe und keine Maske
iſt? Wenn nur der Wald ſeiner Worte nicht gar
ſo dicht, wenn nur mehr Lichtung und Licht um
ſeine Geſtalten wäre! Wenn nur das Phone-
tiſche im Drama, das wir von der Antike und von
Schiller her ſo vertrauensvoll lieben, bei ihm
nicht ſo grammophonetiſch klänge! Die Walze
hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

Vielleicht iſt es an dem, daß Georg Kaiſer mit
ſich ſelbſt um den Glauben an den Kreis, an deſ-
ſen Peripherie er ſteht, ſchmerzlich ringt, — ein
Skeptiker, der glauben möchte, ein Weltmenſch,
den es in die Einſamkeit zieht, ein Einſiedler, der
das Gebrauſe des Lebens nicht vergeſſen kann.
Soviel iſt gewiß: irgend etwas ſtimmt an dieſem
Kaiſer nicht. Irgendwie wuchert ſein Talent ins
Ungefähre, in den Effekt, in den trüben Schwall.
Er macht eine anſehnliche Figur, aber ſie hat für
unverblendete Augen einen Buckel. Wo und wie,
muß man halt durch Beklopfen eruieren.

Seinen Helden wählt Kaiſer aus ſeinem eige-
nen Organismus heraus: meiſt irgend einen
kleinen, verkümmerten Schößling unſeres Ge-
ſchlechts, durch Beruf und Neigung verkrümmt (wie
der Dichter?!), einen Bankkaſſier oder Pfand-
verleiher, immer irgend einen Klein- und Kleinſt-
bürger oder, geradezu, eine Karikatur. Und
dann heftet er dem Leben ſolcher Kreatur einen
Einfall an, von außen her, und bohrt und bohrt
und ſchürft halt ein Schickſal zutage, das groß
wäre, wenn es nicht mit dem Einfall fallen
könnte.

In ſeinem Volksſtück „Nebeneinander“ iſt ein
Pfandverleiher der beſagte Held. Zuerſt knöpft
er einer armen Frau ihr Bett um zu billiges
Geld ab — wie häßlich! Dann jagt er einem
Schieber den Frack ab — zu beiderſeitiger Zufrie-
denheit. Und endlich wird ſein Herz erſt einer
armen Frau gegenüber weich, der er für eine
Pfeife mehr gibt, als er dürfte. Insgeſamt alſo:
Der Beruf hat ihn mit Schmutz umkruſtet. Er
[Spaltenumbruch] muß erſt in dem Frack einen Abſagebrief an ein
zum Selbſtmord bereites liebendes Mädchen fin-
den, um ſeine eigene Seele und ihre Erbarmungs-
fähigkeit zu entdecken. Nun will er den Brief
an ſeine Adreſſe bringen, um nicht an einem
Mord mitſchuldig, um nicht, nach ſeiner durch die-
ſen einen Funken überhitzten Vorſtellung, Mör-
der zu werden.

Man könnte die Möglichkeit, Wahrſcheinlich-
keit, Armſeligkeit dieſes Zufalls der Dichtung und
Einfalls des Dichters zerpflücken. Es bliebe nichts
davon übrig. Um nur das Platteſte zu ſagen:
Der Pfandverleiher findet den Brief beim Rei-
nigen des Rockes. Was hat denn ein Pfandver-
leiher einen Rock zu reinigen, der morgen viel-
leicht ſchon wieder abgeholt wird? Hier ſchon
buckelt ſich etwas, in der platten Wahrſcheinlich-
keit ſchon. Nur ſowas nicht unterſchätzen! Zu-
mal in einem Volksſtück.

Gleichviel: Der Pfandverleiher macht ſich mit
ſeiner übrigens ausdrücklich buckeligen Tochter
auf die Suche nach ihm, der den Brief geſchrieben
hat, und nach ihr, die ihn empfangen ſollte. Eine
Seele (von einem Menſchen) alſo ſucht nach einem
Leib, den ſie retten will. Retten? Von wegen
dem bißchen Leben? Ein Kümmerlicher traktiert
Kümmerliches. Der Einfall ſetzt mit ſeiner über-
ſpitzten Nadel eine Platte in Bewegung, auf der
die Idee ſpielt. Die Melodie lullt nur arme
Leute ein. Ach, wir Armen!

Nun aber ſtreckt ſich der Einfall zum Drama.
Er wird dramaturgiſch. Und da fingert unſer
Kaiſer etwas, wovor man grenzenloſen Reſpekt
haben muß. Er läßt nämlich das äußere Schick-
ſal des Schiebers, der den Brief geſchrieben hat,
und des Mädchens, das ihn empfangen ſollte, in
kurzen Film [verlorenes Material – fehlt]
Nebeneinander. Der inbrünſtig geſuchte Schieber
wird Filmunternehmer, klein erſt, immer größer
und zuletzt, in Keßheit ſtarrend, ein Mann von
abenteuerlichem Gewicht. Scheingroße Welt!
Und das Mädchen eilt zu ſeiner Schweſter, der
Frau eines Deichhauptmanns von Sudermanns
[Spaltenumbruch] Gnaden, und findet da in einem gartenlaubiſch
blühenden Ingenieur ihr kleines Glück. In
Summa: das Leben hilft ſich ſelbſt und produ-
ziert Schickſal als Alltagsware. Wen’s trifft, der
wird reich und mächtig, und wen’s anders trifft,
der wird glücklich im Winkel. Dort Schieber, hier
Mädchen!

Der Pfandverleiher aber, Schickſal ſpielend,
was er nicht kann, erleidet das Los des Dilettan-
ten. Er trommelt nach jenen beiden. Schließ-
lich bekleidet er ſich mit Frack und Pelzmantel
aus ſeiner Pfandleihe, um in einer Bar (Einfall,
o Einfalt!) nach den Geſuchten zu ſuchen. Der
Pelzmantel aber war geſtohlen, der Beſtohlene
entdeckt ihn in der Garderobe der Bar, der Pfand-
verleiher wird als Dieb zur Polizei gebracht und
ſchließlich des unrechtmäßigen Gebrauchs von
Pfandſtücken überführt. Man entzieht ihm ſeine
Konzeſſion, alſo ſein äußeres Leben. Er tötet
ſich nebſt dem Haſcherl von Tochter mit Gas.

Helfen wollte er andern und ſich ſelbſt verdarb
er. Seele des Menſchen, wie gleichſt du ....
wem? Dem Zufall, dem Einfall! Mehr kommt
dabei nicht heraus. Trotzdem: ein virtuoſes,
buntes, feſſelndes Stück! Ein großartiger Drama-
rurg, dem Szeniſches nur ſo einfällt, nur ſo zu-
fällt, hat es gemacht, ein mittlerer Dramatiker
hat es nicht gekonnt. Nebeneinander — rotieren
die Kreiſe, gefüllt mit Blitzlicht, dazwiſchen klafft,
was Idee heißen und bedeuten müßte. Ein auf-
geregt mattes Stück, mit Glanz poliert. Und
doch iſt es von allerhand Schönheit umgeiſtert,
von menſchlichem Atem beflügelt. Es greift an
eine Totalität, aber es hat ſie nicht.

Die Kammerſpiele haben das Stück mit Aech-
zen und Stöhnen aufgeführt. Ihre kleine Bühne,
dreigeteilt für das Nebeneinander, gab zu wenig
Raum für die Sinnfälligkeit der Szene, der Re-
giſſeur Bernhard Reich nicht genug Phantaſie für
die Pointierung der drei Milieus her. In un-
quemem Trippelbett wälzte ſich die Aufführung

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[2/0002] Allgemeine Zeitung. Nr. 8. Montag, den 7. Januar 1924. Lebensfreundlichkeit, unſerem beſſeren Wiſ- ſen um Forderungen des Lebens. Daß dieſe Forderungen deutſchem Weſen zuwiderlie- fen, iſt nicht erwieſen und iſt zu beſtreiten. Spielarten deutſchen Volkstums, die, vom Hauptſtamm politiſch frühzeitig getrennt, ſeine geiſtigen, ſittlichen Schickſale nur bis zu einem gewiſſen Grade teilten — ich denke an die Schweiz und ſelbſt an die Deutſchen Oeſterreichs — haben die Fühlung mit weſt- europäiſchem Denken niemals, wie wir, ver- loren und die Entartung des Romantismus, die uns zu Einſamen und outlaws machte, nicht miterlebt. Es fragt ſich, ob wir ſie dar- um beneiden ſollen. Das iſt eine Krankheit, die ſie nicht gehabt haben, und ein wenig tragen unſere Empfindungen für ihre be- wahrte Tugend vielleicht den Akzent des „Kinder, was wißt denn ihr!“ Eines aber jedenfalls kann ihr Anblick uns lehren: Eine Stufe des deutſchen Schickſalsganges, die irrend zu überſchreiten war, nicht mit dem Deutſchtum ſelbſt — und Selbſtzucht nicht mit Selbſtaufgabe zu verwechſeln. Zur Ideen- und Idealwelt der naturrecht- lich beſtimmten europäiſchen Humanität ge- hört der Gedanke der Menſchheitsorganiſa- tion — ein Gedanke, geboren ganz aus jener ſchon ſtoiſch-mittelalterlichen Verbin- dung von Recht, Moral und Wohlfahrt, die wir als utilitariſtiſche Aufklärung ſo tief — und mit urſprünglich zweifellos großem re- volutionärem Recht ſo tief zu verachten ge- lernt haben — ein Gedanke, kompromit- tiert und mißbraucht in aller Erfahrung. verhöhnt und vorgeſchützt von den Macht- habern der Wirklichkeit — und ein Gedanke dennoch, der einen unverlierbaren Kern re- gulativer Wahrheit, praktiſcher Vernunft- forderung birgt, und deſſen grundſätzlicher Verleugnung kein Volk — und ſei es aus den anfänglich geiſtigſten Gründen — ſich ſchuldig machen kann, ohne an ſeinem Menſchentum nicht nur geſellſchaftlich, ſon- dern tiefinnerlich Schaden zu nehmen. Das iſt erwieſen. Wir ſollen das arge Zucker- brot, das jeder Erfahrungstag unſerem hiſtoriſchen Peſſimismus anbietet, nicht gie- rig ſchlingen, weil unſer romantiſcher In- ſtinkt an dieſem Peſſimismus hängt und ihn nicht laſſen will. Wir ſollen angeſichts der Korruption des Gedankens den reinen Gedanken hüten — denn ſogar deutſcher werden wir uns damit erweiſen als durch den verbiſſen rückwärts gewandten Kult von Ideen, deren ſchließlich nicht minder totale Entartung uns in ein Unglück ge- ſtürzt hat, das würdelos wäre, wenn es uns nicht zu bilden vermöchte. Kabinettsſitzung in Berlin. Sonderdienſt der Allgem. Zeitung. * Berlin 7. Jan. Heute wird das Reichskabinett vor-und nachmittags Sitzungen abhalten, an denen auch be- reits der geſtern von ſeiner Erholungs- reiſe zurüchgekehrte Außenminiſter Dr. Streſemann wieder teilnehmen wird. Ent- gegen anderslautenden Meldungen wird ſich das Reichskabinett vorausſichtlich heute noch nicht mit den wichtigſten Fragen (Hypothekenaufwertung, bayeriſche Denk- ſchrift) beſchäftigen, ſondern nur kleinere Vorlagen beraten, damit die in den letzten Tagen von Berlin abweſenden Miniſter Gelegenheit haben, ſich vorher in ihre Reſſorts wieder einzuarbeiten. Die Rückkehr Streſemanns. Sonderdienſt der Allgem. Zeitung. ** Berlin, 6. Januar. Reichsaußenminiſter Dr. Streſemann iſt am Samstag Morgen, nach- dem er nochmals den deutſchen Geſandten in Bern, Dr. Müller, empfangen hatte, von Lu- gano über Zürich nach Berlin zurückgereiſt, wo er heute Vormittag eintraf. Er hat die Leitung der Geſchäfte des Außenminiſteriums bereits wie- der übernommen. Um den Pariſer Botſchafterpoſten. Eigener Drahtbericht. ** Berlin, 6. Jan. Franzöſiſche Blätter mel- den, daß die Ernennung des deutſchen Geſchäfts- trägers v. Hoeſch zum Botſchafter in Paris er- folgt ſei. Dagegen kann darauf hingewieſen wer- den, daß die Ernennung des deutſchen Botſchaf- ters für Paris ſelbſtverſtändlich erſt nach der Rückkehr des Außenminiſters Dr. Streſemann erfolgen wird. Herr v. Hoeſch iſt allerdings der ausſichtsreichſte Kandidat für den Poſten. Hoeſch in Berlin. Eigener Drahtbericht. ** Berlin, 7. Jan. Der deutſche Geſchäfts- träger in Paris von Hoeſch wird bis Dienstag oder Mittwoch dieſer Woche nach Berlin kommen, um mit dem Außenminiſter Dr. Streſemann zu konferieren. Man nimmt an, daß während ſeiner Anweſenheit ſeine Ernennung zum Botſchafter erfolgen wird. Die Berliner Be- ſprechung wird ſich nicht nur auf die aktuellen Fragen der deutſch-franzöſiſchen Ruhrverhandlun- gen erſtrecken, ſondern in erſter Linie eine Klä- rung darüber bringen, welche Bedeutung den franzöſiſchen Verſöhnungsverſu- chen beizumeſſen iſt. In Pariſer politiſchen Kreiſen bezeichnet man es als nicht ausgeſchloſ- ſen, daß Deutſchland jetzt in der einen oder anderen Form in das Syſtem der franzöſi- ſchen Kontinentalpolitik eingeſpannt werden kann. Frankreichs Antwort auf die deutſchen Vorſchläge. Paris, 7. Januar. Die franzöſiſche Antwort auf die deut- ſchen Rhein- und Ruhrvorſchläge iſt am Samstag der belgiſchen Regierung überreicht worden, nachdem Poincaré telephoniſch vom Meuſe-Departement aus ſeine Zuſtimmung gegeben hatte. Der Ent- wurf iſt vom Quai d’Orſai in Gemeinſchaft mit Degoutte und Tirard ausgearbei- tet worden. Ueber den Inhalt wird offiziell erklärt, die Antwort ſei im Ton verſöhnlich, aber durchaus feſt bei der Behandlung der entſcheidenden Frage. Unterrichtete Kreiſe erläutern dieſe Information dahin, daß ſie äußerlich konziliant, aber für Deutſch- land unbefriedigend gehalten ſei. Von offizieller franzöſiſcher Seite wird noch erklärt, es werde der franzöſiſchen Regie- rung nicht ſchwer ſein, der Reichsregierung ihren guten Willen zu beweiſen, da die Be- ſatzungsbehörde ſchon vor dem Eintreffen des deutſchen Memorandums Maßnahmen ergriffen hätte, welche eine Wiederher- ſtellung des Wirtſchaftslebens zum Ziele hätten. In einer ganzen Reihe von Fragen könnten allerdings Zugeſtänd- niſſe noch nicht gemacht werden, wenn nicht der Wert des Ruhrpfandes geſchädigt wer- den ſoll. Im April (!) werde man über weitere Erleichterungen reden können, weil dann die Beratungen der Reparationskom- miſſion ſo weit fortgeſchritten ſein würden, daß eine Erörterung des Geſamtkomplexes möglich ſei. Wie nunmehr feſtſteht, wird die Note am Dienstag überreicht werden. Es ſcheint, daß von belgiſcher Seite Bemühungen im Gange ſind, die Antwort gleichzeitig mit der fran- zöſiſchen ſo zu geſtalten, daß die Verhand- lungen nicht abgebrochen werden müſſen. Es iſt dabei der Wunſch maßgebend, der Aufrechterhaltung der Entente mit Eng- land Rechnung zu tragen. Die Deutſchen Ruhrgefangenen. * Berlin, 6. Jan. Nach dem letzten authen- tiſchen Bericht werden in Gefängniſſen des be- ſetzten Gebietes über 2000 deutſche Staats- bürger aus politiſchen Gründen feſtgehalten. Bei dieſer Ziffer ſind bereits die nach franzöſiſchen Angaben in den letzten Wochen erfolgten 300 Amneſtierungen in Abzug gebracht. Nach deutſchen Feſtſtellungen iſt die Zahl der Amneſtierungen nicht einmal ſo hoch. Die fran- zöſiſchen Quellen geben die Zahl der politiſch In- haftierten im beſetzten Gebiet weſentlich niedriger an, da ſie zwiſchen politiſchen und kriminellen Inhaftierten unterſcheiden und zu den letzteren auch die rechnen, die nach deutſcher Auffaſſung nur wegen politiſcher Mißhelligkeiten verurteilt worden ſind. Nach den hier vorliegenden Informationen be- findet ſich immer noch eine anſehnliche Zahl von Deutſchen in franzöſiſchen Gefäng- niſſen, z.B. in Nancy 5, in Pas de Ca- lais 3, in Endersheim bei Mühlhauſen 1 und in Marſeille 10. Der neue Reichskommiſſar für Reparations- leiſtungen. * Berlin, 6. Januar. Anſtelle des bisheri- gen Reichskommiſſars für Reparationslei- ſtungen, Generaldirektor Lob, der auf ſei- nen Antrag von ſeinem Amte enthoben wor- den iſt, iſt mit der Führung der Geſchäfte des Reichskommiſſars der Abteilungsleiter im Reichsminiſterium für Wiederaufbau, Miniſterialrat Dr. Guntze, beauftragt worden. Der thüringiſche Skandal. * Weimar, 6. Jan. Wie die „Weimarer Zei- tung“ hört, iſt durch Verfügung des Militär- befehlshabers die vorläufige Amtsenthebung der Kreisdelegierten Rennert-Meiningen und Hönſchelmann-Eiſenach verfügt worden. Es wird gegen die Obengenannten der Verdacht aus- geſprochen, ſich möglicherweiſe an den Urkun- denfälſchungen inſofern beteiligt zu haben, als ſie ein Protokoll über die erdliche Verpflichtung eines Beamten aufgenommen haben, in dem das Datum falſch angegeben iſt. Die Staats- anwaltſchaft in Weimar will ſich die Ausdehnung der gerichtlichen Unterſuchung vorbehalten. Die Unterſuchung. * Berlin, 6. Jan. Die thüringifchen Staats- miniſter Frölich, Hartmann und Greil hatten Samstag mittag in einer Sitzung in der Reichskanzlei unter dem Vorſitz des Reichskanz- lers Marx Gelegenheit, ſich ohne Rückſicht auf die Feſtſtellungen, die von den Reichsbeauftragten in Thüringen getroffen worden ſind, zu äußern. Das Reichskabinett wird ſich nunmehr mit den Ergebniſſen der vorgenommenen Unterſuchung be- faſſen. Vorausſichtlich findet die Kabinettsſitzung über die Vorgänge in Thüringen am Montag vormittag ſtatt. Für nachmittag 3 Uhr ſind die thüringiſchen Staatsminiſter wiederum zu Be- ſprechungen in die Reichskanzkei geladen. Ende des Berliner Metall- arbeiterſtreiks. ** Berlin, 7. Jan. Nach zehn- ſtündigen Verhandlungen wurde am Sams- tag abend im Lohnkampf der Berliner Metallinduſtrie eine Verſtändigung erzielt, ohne daß das von dem Schlich- tungstag für Großberlin beſtellten Reichs- tagsabgeordneten Wiſſel berufene Schiedsgericht in Tätigkeit zu treten brauchte. Das Abkommen fand geſtern die Bil- ligung der Betriebsräte. Die Unternehmer werden ſich heute entſcheiden. An ihrer Zuſtimmung iſt jedoch nicht zu zweifeln. Der vereinbarte Stundenlohn beträgt in Klaſſe I 48 Pfg. gegen 40 Pfg. nach dem Angebot der Arbeitgeber und gegen 50 Pfg. nach den bis zum 1. Juli gültigen Sätzen, in Klaſſe V 38 Pfg. gegen 30 Pfg. nach dem Angebot und 41 Pfg. ſeither. Die Frauen- und Kinderzulagen bleiben, wie ſie vor dem 1. Januar beſtanden. Wichtiger als die Regelung der Lohn- frage erſcheint jedoch die Beſtimmung, daß, ſobald genügend Aufträge vorliegen, der Neunſtundentag, und mit Zuſtim- mung des Betriebsrates der betr. Werke auch der Zehnſtundentag eingeführt werden kann, wobei Ueberſtunden- zuſchläge nur für die zehnte, nicht auch ſchon für die neunte Arbeits- ſtunde zu bezahlen ſind. Gegen den Bankwucher! * Berlin, 6. Januar. Seitens der Staats- anwaltſchaft iſt ein Verfahren gegen ver- ſchiedene Banken wegen zu hoher Zinsfor- derungen eingeleitet worden. Wie die „Telegraphen-Union“ hierzu er- fährt, ſind durch dieſe, beſonders im No- vember und anfangs Dezember 1923 erho- benen zu hohen Zinsforderungen der Ban- ken zahlreiche Firmen, und zwar nicht nur der Nahrungsmittelbranche, in Schwie- rigkeitengeraten. Zwiſchen der Ab- teilung V des Polizeipräſidiums und dem Reichswirtſchaftsminiſterium haben übri- gens wiederholt bis in die letzten Tage hin- ein Verhandlungen ſtattgefunden, deren Zweck eine Einwirkung auf die Banken war, ihre Zinsforderungen herabzu- ſetzen, was auch zum Teil geſchehen iſt. Die bereits eingeleiteten ſtaatsanwaltſchaft- lichen Verfahren bleiben jedoch hiervon un- berührt Zeitungsverbote. Berlin, 6. Jan. Der Inhaber der vollziehen- den Gewalt, General v. Serckt, hat auf Grund des § 1 der Verordnung des Reichspräſidenten vom 26. September den Vertrieb der Noten Fahne, Wien, des Baſler Vorwärts und der Internationalen Preſſekorre- ſpondenz (Inprekorr.). Wien, für das Reichs- gebiet verboten. Georg Kaiſer: Nebeneinander. Kammerſpiele. Zwiſchen Glauben und Sehnen — Glaube an die (alte) Menſchheit und Sehnſucht nach dem (neuen) Menſchen — ſchwingt das europäiſche Drama. In dieſem Rahmen iſt Raum für die höchſte Meinung von Gott und für die niedrigſte vom Menſchen und umgekehrt. Wenn ſich nur über den beiden Polen der Regenbogen einer Idee ſpannt, in deſſen Farben Menſchheit, Gott und Menſch ſich ſpiegeln ... Klage über das neueſte Drama: es erſetzt die Idee durch den Einfall; Glaube wird zum Pro- gramm; Sehnſucht zur Tendenz; es fehlt ihm alſo die hohe Spannung. Der Gegenſatz regiert, un- gelöſt, die dramatiſche Welt. Er ſetzt ſich über die Rampe hinüber fort und wird Gegenſatz zwiſchen dem Dramatiker und dem vom Drama erregten Zuſchauer-Menſchen. Darum herrſcht kein Ein- klang und überhaupt wenig Klang im Thea er der Modernen. Sie tun, als ob ſie beten. Sie beten vielleicht ſogar wirklich. Aber es fehlt der kosmiſche Chor. Die Sphäre der Welt bleibt ſtumm. Solch Gebet wird nicht erhört. Das Drama mithin verharrt, erſtarrt, entleibt ſich in inbrünſtiger Deklamation, in Uebung der Worte und des Willens zur Ausſage. Georg Kaiſer nun, dieſe gezackteſte Erſcheinung unter den heutigen Dramatikern, hingenommen vom Kitſch wie von einer verzehrenden Flamme, in der er erglüht, raſt als Flüchtling neben dem Kreis der Idee von Menſchheit, Gott und Menſch und ſucht dieſen Kreis durch den motoriſchen An- trieb eines Einfalls von außen her in Bewegung zu ſetzen. Immer hängt über ſeinem dichteriſchen Tun die bleierne Wolke des Mißtrauens, ob denn, bei ſeiner Finger- und Handfertigkeit, die Linke auch weiß, was die Rechte tut, das Herz auch fühlt, was die Stimme ſpricht. Iſt es denn wahr, daß dieſer befliſſene Flegellaut, indem er ſich in ſeinen Geſtalten peinigt, die Schmerzen der Geißelung leidet und alſo das leidvolle Geſicht, das er uns zeigt, keine Grimaſſe und keine Maske iſt? Wenn nur der Wald ſeiner Worte nicht gar ſo dicht, wenn nur mehr Lichtung und Licht um ſeine Geſtalten wäre! Wenn nur das Phone- tiſche im Drama, das wir von der Antike und von Schiller her ſo vertrauensvoll lieben, bei ihm nicht ſo grammophonetiſch klänge! Die Walze hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Vielleicht iſt es an dem, daß Georg Kaiſer mit ſich ſelbſt um den Glauben an den Kreis, an deſ- ſen Peripherie er ſteht, ſchmerzlich ringt, — ein Skeptiker, der glauben möchte, ein Weltmenſch, den es in die Einſamkeit zieht, ein Einſiedler, der das Gebrauſe des Lebens nicht vergeſſen kann. Soviel iſt gewiß: irgend etwas ſtimmt an dieſem Kaiſer nicht. Irgendwie wuchert ſein Talent ins Ungefähre, in den Effekt, in den trüben Schwall. Er macht eine anſehnliche Figur, aber ſie hat für unverblendete Augen einen Buckel. Wo und wie, muß man halt durch Beklopfen eruieren. Seinen Helden wählt Kaiſer aus ſeinem eige- nen Organismus heraus: meiſt irgend einen kleinen, verkümmerten Schößling unſeres Ge- ſchlechts, durch Beruf und Neigung verkrümmt (wie der Dichter?!), einen Bankkaſſier oder Pfand- verleiher, immer irgend einen Klein- und Kleinſt- bürger oder, geradezu, eine Karikatur. Und dann heftet er dem Leben ſolcher Kreatur einen Einfall an, von außen her, und bohrt und bohrt und ſchürft halt ein Schickſal zutage, das groß wäre, wenn es nicht mit dem Einfall fallen könnte. In ſeinem Volksſtück „Nebeneinander“ iſt ein Pfandverleiher der beſagte Held. Zuerſt knöpft er einer armen Frau ihr Bett um zu billiges Geld ab — wie häßlich! Dann jagt er einem Schieber den Frack ab — zu beiderſeitiger Zufrie- denheit. Und endlich wird ſein Herz erſt einer armen Frau gegenüber weich, der er für eine Pfeife mehr gibt, als er dürfte. Insgeſamt alſo: Der Beruf hat ihn mit Schmutz umkruſtet. Er muß erſt in dem Frack einen Abſagebrief an ein zum Selbſtmord bereites liebendes Mädchen fin- den, um ſeine eigene Seele und ihre Erbarmungs- fähigkeit zu entdecken. Nun will er den Brief an ſeine Adreſſe bringen, um nicht an einem Mord mitſchuldig, um nicht, nach ſeiner durch die- ſen einen Funken überhitzten Vorſtellung, Mör- der zu werden. Man könnte die Möglichkeit, Wahrſcheinlich- keit, Armſeligkeit dieſes Zufalls der Dichtung und Einfalls des Dichters zerpflücken. Es bliebe nichts davon übrig. Um nur das Platteſte zu ſagen: Der Pfandverleiher findet den Brief beim Rei- nigen des Rockes. Was hat denn ein Pfandver- leiher einen Rock zu reinigen, der morgen viel- leicht ſchon wieder abgeholt wird? Hier ſchon buckelt ſich etwas, in der platten Wahrſcheinlich- keit ſchon. Nur ſowas nicht unterſchätzen! Zu- mal in einem Volksſtück. Gleichviel: Der Pfandverleiher macht ſich mit ſeiner übrigens ausdrücklich buckeligen Tochter auf die Suche nach ihm, der den Brief geſchrieben hat, und nach ihr, die ihn empfangen ſollte. Eine Seele (von einem Menſchen) alſo ſucht nach einem Leib, den ſie retten will. Retten? Von wegen dem bißchen Leben? Ein Kümmerlicher traktiert Kümmerliches. Der Einfall ſetzt mit ſeiner über- ſpitzten Nadel eine Platte in Bewegung, auf der die Idee ſpielt. Die Melodie lullt nur arme Leute ein. Ach, wir Armen! Nun aber ſtreckt ſich der Einfall zum Drama. Er wird dramaturgiſch. Und da fingert unſer Kaiſer etwas, wovor man grenzenloſen Reſpekt haben muß. Er läßt nämlich das äußere Schick- ſal des Schiebers, der den Brief geſchrieben hat, und des Mädchens, das ihn empfangen ſollte, in kurzen Film _ Nebeneinander. Der inbrünſtig geſuchte Schieber wird Filmunternehmer, klein erſt, immer größer und zuletzt, in Keßheit ſtarrend, ein Mann von abenteuerlichem Gewicht. Scheingroße Welt! Und das Mädchen eilt zu ſeiner Schweſter, der Frau eines Deichhauptmanns von Sudermanns Gnaden, und findet da in einem gartenlaubiſch blühenden Ingenieur ihr kleines Glück. In Summa: das Leben hilft ſich ſelbſt und produ- ziert Schickſal als Alltagsware. Wen’s trifft, der wird reich und mächtig, und wen’s anders trifft, der wird glücklich im Winkel. Dort Schieber, hier Mädchen! Der Pfandverleiher aber, Schickſal ſpielend, was er nicht kann, erleidet das Los des Dilettan- ten. Er trommelt nach jenen beiden. Schließ- lich bekleidet er ſich mit Frack und Pelzmantel aus ſeiner Pfandleihe, um in einer Bar (Einfall, o Einfalt!) nach den Geſuchten zu ſuchen. Der Pelzmantel aber war geſtohlen, der Beſtohlene entdeckt ihn in der Garderobe der Bar, der Pfand- verleiher wird als Dieb zur Polizei gebracht und ſchließlich des unrechtmäßigen Gebrauchs von Pfandſtücken überführt. Man entzieht ihm ſeine Konzeſſion, alſo ſein äußeres Leben. Er tötet ſich nebſt dem Haſcherl von Tochter mit Gas. Helfen wollte er andern und ſich ſelbſt verdarb er. Seele des Menſchen, wie gleichſt du .... wem? Dem Zufall, dem Einfall! Mehr kommt dabei nicht heraus. Trotzdem: ein virtuoſes, buntes, feſſelndes Stück! Ein großartiger Drama- rurg, dem Szeniſches nur ſo einfällt, nur ſo zu- fällt, hat es gemacht, ein mittlerer Dramatiker hat es nicht gekonnt. Nebeneinander — rotieren die Kreiſe, gefüllt mit Blitzlicht, dazwiſchen klafft, was Idee heißen und bedeuten müßte. Ein auf- geregt mattes Stück, mit Glanz poliert. Und doch iſt es von allerhand Schönheit umgeiſtert, von menſchlichem Atem beflügelt. Es greift an eine Totalität, aber es hat ſie nicht. Die Kammerſpiele haben das Stück mit Aech- zen und Stöhnen aufgeführt. Ihre kleine Bühne, dreigeteilt für das Nebeneinander, gab zu wenig Raum für die Sinnfälligkeit der Szene, der Re- giſſeur Bernhard Reich nicht genug Phantaſie für die Pointierung der drei Milieus her. In un- quemem Trippelbett wälzte ſich die Aufführung

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-12-19T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 6, vom 7. Januar 1924, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine06_1924/2>, abgerufen am 21.11.2024.