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Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 13. Januar 1924.

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Allgemeine Zeitung. Nr. 12 Sonntag, den 13. Januar 1924
[Spaltenumbruch]
Das europäische Fernkabelnetz.
[Spaltenumbruch]

Der Geheime Oberpostrat Dr. Craemer
vom Reichspostministerium hat im Elek-
trotechnischen Verein München

am 11. Jan. einen ungemein instiuktiven Vor-
trag über obiges Thema gehalten. Wir ent-
nehmen den für unser Verkehrs- und Wirt-
schaftsleben hochbedeutsamen Ausführungen
folgendes:

Ein Wirtschaftskörper kann nur gedeihen, wenn
sein Blutumlauf -- der Güteraustausch -- und sein
Nervensystem -- das Nachrichtennetz -- leistungs-
fähig sind. Für das kranke Europa handelt es sich
nicht nur darum, das, was vor dem Kriege war,
wieder herzustellen; die Nachrichtenmittel müssen
vielmehr neu aufgebaut werden in den vervollkomm-
neten Formen, in denen vom Kriege unberührte
Länder, vor allem die Vereinigten Staaten von
Amerika, ihr Leitungsnetz in den Kriegs- und Nach-
kriegsjahren entwickeln konnten.

Gewiß bot der Krieg, namentlich bei uns in
Deutschland, infolge der Verteilung der kämpfenden
Truppen über weite Gebiete Europas und bis nach
Asien hinein, Aufgaben die, als Vorarbeiten für ein
künftiges Friedensnetz zu verwerten sind; aber was
sich auf dem Gebiete des Fernsprechweitverkehrs
vor dem Kriege, wenn damals die Technik schon
vollkommen genug gewesen wäre, ohne große
Schwierigkeiten hätte erreichen lassen, wurde nach
dem Kriege sehr viel mühevoller, weil die von der
Entente beliebte Neuaufteilung Europas überall
die Nachrichtennetze zerrissen hat und weil die neu-
gebildeten Länder in der kurzen Zeit ihres Be-
stehens nur das Notdürftigste für den inneren Be-
darf haben schaffen können.

Es ist das unbestrittene Verdienst des Präsiden-
ten der Institution of Electrical Engineers in
London, Frank Gill, an der Hand seiner ame-
rikanischen Erfahrungen zuerst Wege gewiesen zu
haben, auf denen das europäische zwischenstaatliche
Fernsprechnetz technisch und organisatorisch verwirk-
licht werden könnte. Gill will dies mit den in Ame-
rika erprobten technischen Mitteln in der Weise er-
reichen, daß eine selbständige Privatgesellschaft, an
der sich auch die staatlichen Verwaltungen beteiligen
können, gebildet wird, die das zwischenstaatliche
Fernsprechnetz baut und betreibt.

Die französische Telegraphenverwaltung griff den
Gillschen Gedanken auf, und zwar, wie man wohl
sagen darf, mit einer gewissen Hast. Wenigstens
ließ der Unterstaatssekretär für Post, Herr La-
font,
in der französischen Presse erklären, es sei
keine Zeit zu verlieren, weil Deutschland im Begriff
sei, sich zum Mittelpunkt des künftigen europäischen
Fernsprechnetzes zu machen, während diese Vorzugs-
stellung unbedingt Frankreich, insbesondere Paris,
zukäme. Daß bei einer solchen Auffassung Deutsch-
land nicht zur Konferenz von Fernsprech-
technikern westeuropäischer Länder
in Paris
im März 1923 eingeladen wurde, kann
nicht weiter verwundern. Außer Deutschland, dessen
Fernsprechnetz in Europa nach der Dichtigkeit und
Ausdehnung der Linien an erster Stelle steht, fehlten
aber auch Holland und die nordischen Staaten, Län-
der also, deren vorbildliche Einrichtungen auf dem
Gebiete des Fernsprechverkehrs sie in erster Linie
befähigt hätten, auf der Konferenz nützliche Arbeit
zu leisten.

Die organisatorischen Vorschläge von Gill hat sich
die Pariser Konferenz nicht zu eigen gemacht, son-
dern sie hat sich darauf beschränkt, ein ständiges
Komitee
der auf der Konferenz vertretenen
westeuropäischen Verwaltungen mit dem Sitz in
Paris in Aussicht zu nehmen, das den Austausch
aller technischen Erfahrungen über den zwischenstaat-
lichen Fernsprechverkehr auf weite Entfernungen
vermitteln soll. Man versteht es, wenn auf die von
Gill befürwortete überstaatliche Privatgesellschaft in
engster Verbindung mit den einzelnen Verwaltun-
[Spaltenumbruch] gen der europäischen Länder die Konferenz nicht
eingegangen ist; Gill hat zu sehr die amerikanischen
Verhältnisse im Auge. In den Vereinigten Staaten
handelt es sich um ein politisch und wirtschaftlich
einheitliches Gebiet, das infolge der Vertrustung
aller wichtigen Betriebe eines gleichmäßig über das
ganze Land ausgedehnten Nachrichtennetzes bedarf.
In Europa bestehen bei aller Bedeutung der zwi-
schenstaatlichen Beziehungen viele von einander ge-
trennte, in sich mehr oder weniger geschlossene Wirt-
schaftsgebiete und Länder mit Eigenleben.

Gleichwohl können uns für die technische Aufgabe
der Schaffung eines europäischen Fernsprechnetzes
die amerikanischen Verhältnisse in
mancher Beziehung vorbildlich sein. Die Weit-
räumigkeit des Landes hat von vornherein die Tech-
niker Amerikas vor weit größere Aufgaben gestellt,
als sie in den einzelnen Ländern Europas zu lösen
waren. Wenn in Amerika ein Fernsprechverkehr
von Küste zu Küste durch den ganzen Kontinent
möglich ist, so kann für einen solchen Verkehr zwi-
schen den europäischen Hauptstädten ein technisches
Hindernis nicht bestehen.

Für die Schaffung eines europäischen Fernsprech-
netzes kann aber weder die amerikanische Überland-
linie nach San Franzisko, noch die indo-europäische
Telegraphenlinie vorbildlich sein. Die Frage, die
es heute zu lösen gilt, ist eine ganz andere. Es
handelt sich nicht mehr darum, auf einzelnen Haupt-
straßen des Verkehrs eine beschränkte Anzahl von
Leitungswegen für den Fernsprechverkehr zu schaf-
fen, sondern alle Gebiete Europas mit entwickelten
oder für die Entwicklung reifen Verkehrsbeziehungen
durch ein zusammenhängendes Fernsprechnetz mitein-
ander in Verbindung zu bringen, und zwar so, daß
sich die Möglichkeit bietet, dieses Netz planmäßig
immer weiter auszubauen, um nach und nach auch
die zunächst abseits gebliebenen Gebiete an den Seg-
nungen des Verkehrs teilhaftig zu machen.

Wie läßt sich diese Aufgabe für Europa lösen?
Zweifellos nicht durch ein oberirdisches Leitungs-
netz. Warum nicht? Die Gründe sind für das
zwischenstaatliche Netz die gleichen wie für die inner-
staatlichen Netze der einzelnen Länder, nur mit dem
Unterschiede, daß die zwischenstaatlichen Verbindun-
gen wegen ihrer größeren Länge noch weit mehr
unter den Nachteilen der oberirdischen Linienführung
zu leiden haben als die innerstaatlichen.

Nach angestellten Berechnungen stellen sich die
Kosten für ein Kabelgespräch bei einer Leitungslänge
von 500 Kilometer im Vergleich zu den Kosten für
ein Freileitungsgespräch wie 1 zu 1.5. Man kann
sagen, daß die Verkabelung der Freileitungsnetze
nicht nur wirtschaftlich gerechtfertigt ist, sondern das
einzig mögliche Mittel bildet, einen leistungsfähigen
und lohnenden Fernsprechverkehr zu erzielen.

In den Vereinigten Staaten und in vielen euro-
päischen Ländern sind umfangreiche Fernkabel-An-
lagen im Bau oder geplant, deren Vollendung nur
eine Frage der Zeit ist. Deutschland hatte schon vor
dem Kriege im Jahre 1913 mit dem Rheinland-
kabel
einen vielversprechenden Anfang gemacht.
Allerdings war dieses Kabel noch nicht für den Ver-
stärkerbetrieb gebaut, entspricht also nicht dem neue-
sten Stand der Technik. Es konnte infolge des Krie-
ges erst im Jahre 1921 vollendet werden und leistet
seit dieser Zeit vorzügliche Dienste, soweit nicht
neuerdings der Ruhreinbruch Hemmun-
gen
gebracht hat. Nach dem Rheinlandkabel sind
inzwischen in Deutschland noch einige andere Strecken
mit Kabeln neuer Bauart in Betrieb genommen
worden, einige weitere sind im Bau. Aber die
Schwierigkeiten sind so groß, daß nur ein langsames
Vorwärtskommen möglich ist, obgleich gerade in
Deutschland die Fernverkehrsverhältnisse schnelle
und durchgreifende Abhilfe erfordern, um unsere
Wirtschaft zu heben und das Defizit der Telegraphen-
verwaltung durch Herauswirtschaften von Erträgen
[Spaltenumbruch] zu beseitigen. Besonders schmerzlich empfinden wir,
daß es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelun-
gen ist, die Genehmigung der Besatzungsbehörde
dazu zu erlangen, die dringend notwendigen Kabel-
anlagen im Rheinland herzustellen. Die Pläne
waren schon im Frühjahr 1922 fertig. Die nach der
Rheinlandakte notwendige Genehmigung des inter-
alliierten Oberkommandos ist aber trotz immer wie-
derholter Vorstellungen der Verwaltung und der
davon betroffenen Wirtschaftskreise nicht erteilt
worden.

Für Deutschland handelt es sich bei der Planung
des Kabelnetzes aber nicht nur um die Bedürfnisse
des Fernsprechverkehrs, sondern auch des Tele-
grammverkehrs
. Deutschland besitzt seit Ende
der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
ein ausgedehntes Telegraphenkabelnetz, das bei einer
Gesamtlinienlänge von 5650 km die wichtigsten Orte
miteinander verbindet und das Rückgrat des Tele-
grammverkehrs bildet. Das nun fast 50 Jahre alte
Netz ist verbraucht und muß ersetzt werden.
Diese in den nächsten Jahren unabweisbare Erneue-
rung kann nur Hand in Hand gehen mit der Schaf-
fung des Fernkabelnetzes, und zwar ist keine Zeit
zu verlieren, weil sonst nicht nur der innerstaatliche,
sondern auch der zwischenstaatliche Telegrammver-
kehr, dem diese Kabel wegen ihrer Unabhängigkeit
von atmosphärischen Störungen in erster Linie
dienen, zum Erliegen kommen müßte, ganz abge-
sehen davon, daß es wirtschaftlich nicht zu recht-
fertigen wäre, die Erneuerung des deutschen Tele-
graphennetzes von dem Bau des Fernkabelnetzes
zu trennen. Es ist gelungen, beide Aufgaben auf
das glücklichste dadurch zu vereinigen, daß die Tele-
graphie zum Wechselstrombetrieb mit Spannungen
und Strömen von gleicher Größenordnung wie beim
Fernsprechbetrieb übergeht. Die Adern des Fern-
kabelnetzes können also nach Bedarf für beide
Zwecke verwendet werden. Hierdurch wird die wirt-
schaftliche Ausnutzung der Kabel bedeutend gesteigert.

Die wichtigsten europäischen Fernkabelwege
sind, soweit sich Verkehrsentwicklungen unter den
mißlichen Zuständen der Gegenwart überhaupt vor-
aussehen lassen, wohl die folgenden:

1. London -- Hamburg -- Petersburg,
3800 km.

Diese Linie folgt dem Schiffahrtsweg längs der
Nord- und Ostsee verbindet alle seine wichtigeren
Häfen und bildet gleichzeitig die Basis für den An-
schluß der nordischen Staaten.

2. London -- Berlin -- Konstantinopel,
4300 km.

Dieser Kabelweg verbindet England und die
Nordseehäfen auf dem Kontinent quer durch Deutsch-
land und die mitteleuropäischen Staaten hindurch
mit den Balkanstaaten und der Türkei.

3. London -- Amsterdam -- Rom,
2000 km.

Der Kabelweg über Holland, die Rheinlande und
durch die Schweiz bis zur Hauptstadt Italiens.

4. London -- Paris -- Madrid, 1700 km.

Die Westlinie zum Zusammenschluß des eng-
lischen, französischen und spanischen Kabelnetzes.

5. Frankfurt -- Nürnberg -- Wien --
Budapest,
950 km.

Der Kabelweg längs der in der Entstehung begrif-
fenen Rhein-Main-Donau-Wasserstraße mit Anschluß
an die Linien 2 und 3.

6. Paris -- Berlin -- Warschau, 1250 km.

Die Kabellinie quer durch Europa zur Verbindung
des Westens über Norddeutschland mit Polen und
später weiter mit Innenrußland.

7. Paris -- Prag -- Lemberg, 1400 km.

Der Kabelweg vom westlichen Europa durch Süd-
deutschland nach der Tschechoslowakei und dem süd-
lichen Polen mit späterer Fortsetzung nach dem süd-
lichen Rußland.

[Spaltenumbruch]

8. Christlania -- Hamburg -- Wien,
1800 km.

Die Linie von den norwegischen Häfen über
Hamburg und dann, dem Elblauf folgend, über
Prag nach Wien, die West-Ostverbindungen schnei-
dend.

9. Stockholm -- Berlin -- München --
Rom,
2600 km.

Die Verbindung von Schweden über Deutschland
und die Alpenländer nach Italien.

10. Ergänzungslinien, 4200 km.

Selbstverständlich handelt es sich bei der Auswahl
dieser Kabelwege nur um einen Versuch der Planung
eines europäischen Kabelnetzes, die in allen Einzel-
heiten der Berichtigung und Vervollständigung be-
darf. Namentlich wäre es eine notwendige und
reizvolle Aufgabe, den Entwurf des Fernkabelnetzes
in Verbindung zu bringen mit den
Plänen zur Ausbreitung des Luft-
fahrzeugverkehrs über den europä-
ischen Kontinent
.

Von der Gesamtlänge des europäischen Kabel-
netzes mit 24 000 km entfallen 6 650 km, also mehr
als 25 v. H. auf den deutschen Anteil. Dies erklärt
sich schon daraus, daß das Gebiet des Deutschen
Reiches das übrige Europa an Verkehrsdichte bei
weitem übertrifft. Die Lage Deutschlands in Europa
und die topographische Gestaltung unseres Erdteiles
bedingt es zudem, daß die meisten Hauptlinien des
zwischenstaatlichen Verkehrs den Weg über deutsches
Gebiet nehmen, daß unser Land im europäischen
Verkehrswesen und in der gesamten europäischen
Wirtschaft als Bindeglied zwischen Westen und
Osten, Süden und Norden immer eine unersetzbare
Stelle eingenommen hat und auch in Zukunft ein-
nehmen wird.

Von der baldigen Verwirklichung der deutschen
Planungen hängt das Zustandekommen und die Ent-
wicklung des europäischen Netzes in erster Linie mit
ab. Die nachgewiesene Ertragsfähigkeit des deutschen
Netzes wird durch die zwischenstaatlichen Verbin-
dungen noch erhöht und steht über allem Zweifel.

In den Ländern mit geringerer Verkehrsdichte
wird dagegen die Frage der Ertragsfähigkeit der
zwischenstaatlichen Kabelverbindungen nicht so leicht
befriedigend zu beantworten sein.

Für die Elektrotechnik bietet das in der
Entwicklung begriffene europäische Fernkabelnetz
ein Betätigungsfeld von außeror-
dentlicher Bedeutung
. Daß die deutsche
Elektrotechnik dem ihr zufallenden Anteil an dieser
Aufgabe gewachsen sein wird, daren besteht für den
Unterrichteten kein Zweifel. Außer der amerika-
nischen ist allein die deutsche elektro-
technische Industrie
imstande, aus eigener
Kraft Fernkabelanlagen mit allem Zubehör zu bauen.
Alle anderen Länder bedürfen dabei mehr oder
weniger fremder Unterstützung.

Für den Bau der deutschen Linien besteht seit April
1921 ein vom Reichspostministerium ins Leben ge-
rufenes gemischtwirtschaftliches Unternehmen, die
Deutsche Fernkabelgesellschaft, an der
die Telegraphenverwaltung und die Kabelwerke be-
teiligt sind. Durch diese Gesellschaft ist ein gedeih-
liches Hand-in-Hand-Arbeiten der Verwaltung mit
den technischen Kräften der Industrie unter gegen-
seitigem Austausch aller Erfahrungen gesichert. Die
deutsche Telegraphenverwaltung kann mit Befriedi-
gung feststellen, daß die bisher ausgeführten An-
lagen allen Anforderungen entsprochen haben, daß
in der Entwicklung kein Stillstand eingetreten ist,
sondern daß dauernd Fortschritte gemacht werden,
die uns mit vollem Vertrauen in die Zukunft blicken
lassen und uns die Gewißheit geben, daß das deut-
sche Kabelnetz ein leistungsfähiges Glied des großen
europäischen Fernsprechnetzes bilden wird.



[irrelevantes Material]
Allgemeine Zeitung. Nr. 12 Sonntag, den 13. Januar 1924
[Spaltenumbruch]
Das europäiſche Fernkabelnetz.
[Spaltenumbruch]

Der Geheime Oberpoſtrat Dr. Craemer
vom Reichspoſtminiſterium hat im Elek-
trotechniſchen Verein München

am 11. Jan. einen ungemein inſtiuktiven Vor-
trag über obiges Thema gehalten. Wir ent-
nehmen den für unſer Verkehrs- und Wirt-
ſchaftsleben hochbedeutſamen Ausführungen
folgendes:

Ein Wirtſchaftskörper kann nur gedeihen, wenn
ſein Blutumlauf — der Güteraustauſch — und ſein
Nervenſyſtem — das Nachrichtennetz — leiſtungs-
fähig ſind. Für das kranke Europa handelt es ſich
nicht nur darum, das, was vor dem Kriege war,
wieder herzuſtellen; die Nachrichtenmittel müſſen
vielmehr neu aufgebaut werden in den vervollkomm-
neten Formen, in denen vom Kriege unberührte
Länder, vor allem die Vereinigten Staaten von
Amerika, ihr Leitungsnetz in den Kriegs- und Nach-
kriegsjahren entwickeln konnten.

Gewiß bot der Krieg, namentlich bei uns in
Deutſchland, infolge der Verteilung der kämpfenden
Truppen über weite Gebiete Europas und bis nach
Aſien hinein, Aufgaben die, als Vorarbeiten für ein
künftiges Friedensnetz zu verwerten ſind; aber was
ſich auf dem Gebiete des Fernſprechweitverkehrs
vor dem Kriege, wenn damals die Technik ſchon
vollkommen genug geweſen wäre, ohne große
Schwierigkeiten hätte erreichen laſſen, wurde nach
dem Kriege ſehr viel mühevoller, weil die von der
Entente beliebte Neuaufteilung Europas überall
die Nachrichtennetze zerriſſen hat und weil die neu-
gebildeten Länder in der kurzen Zeit ihres Be-
ſtehens nur das Notdürftigſte für den inneren Be-
darf haben ſchaffen können.

Es iſt das unbeſtrittene Verdienſt des Präſiden-
ten der Inſtitution of Electrical Engineers in
London, Frank Gill, an der Hand ſeiner ame-
rikaniſchen Erfahrungen zuerſt Wege gewieſen zu
haben, auf denen das europäiſche zwiſchenſtaatliche
Fernſprechnetz techniſch und organiſatoriſch verwirk-
licht werden könnte. Gill will dies mit den in Ame-
rika erprobten techniſchen Mitteln in der Weiſe er-
reichen, daß eine ſelbſtändige Privatgeſellſchaft, an
der ſich auch die ſtaatlichen Verwaltungen beteiligen
können, gebildet wird, die das zwiſchenſtaatliche
Fernſprechnetz baut und betreibt.

Die franzöſiſche Telegraphenverwaltung griff den
Gillſchen Gedanken auf, und zwar, wie man wohl
ſagen darf, mit einer gewiſſen Haſt. Wenigſtens
ließ der Unterſtaatsſekretär für Poſt, Herr La-
font,
in der franzöſiſchen Preſſe erklären, es ſei
keine Zeit zu verlieren, weil Deutſchland im Begriff
ſei, ſich zum Mittelpunkt des künftigen europäiſchen
Fernſprechnetzes zu machen, während dieſe Vorzugs-
ſtellung unbedingt Frankreich, insbeſondere Paris,
zukäme. Daß bei einer ſolchen Auffaſſung Deutſch-
land nicht zur Konferenz von Fernſprech-
technikern weſteuropäiſcher Länder
in Paris
im März 1923 eingeladen wurde, kann
nicht weiter verwundern. Außer Deutſchland, deſſen
Fernſprechnetz in Europa nach der Dichtigkeit und
Ausdehnung der Linien an erſter Stelle ſteht, fehlten
aber auch Holland und die nordiſchen Staaten, Län-
der alſo, deren vorbildliche Einrichtungen auf dem
Gebiete des Fernſprechverkehrs ſie in erſter Linie
befähigt hätten, auf der Konferenz nützliche Arbeit
zu leiſten.

Die organiſatoriſchen Vorſchläge von Gill hat ſich
die Pariſer Konferenz nicht zu eigen gemacht, ſon-
dern ſie hat ſich darauf beſchränkt, ein ſtändiges
Komitee
der auf der Konferenz vertretenen
weſteuropäiſchen Verwaltungen mit dem Sitz in
Paris in Ausſicht zu nehmen, das den Austauſch
aller techniſchen Erfahrungen über den zwiſchenſtaat-
lichen Fernſprechverkehr auf weite Entfernungen
vermitteln ſoll. Man verſteht es, wenn auf die von
Gill befürwortete überſtaatliche Privatgeſellſchaft in
engſter Verbindung mit den einzelnen Verwaltun-
[Spaltenumbruch] gen der europäiſchen Länder die Konferenz nicht
eingegangen iſt; Gill hat zu ſehr die amerikaniſchen
Verhältniſſe im Auge. In den Vereinigten Staaten
handelt es ſich um ein politiſch und wirtſchaftlich
einheitliches Gebiet, das infolge der Vertruſtung
aller wichtigen Betriebe eines gleichmäßig über das
ganze Land ausgedehnten Nachrichtennetzes bedarf.
In Europa beſtehen bei aller Bedeutung der zwi-
ſchenſtaatlichen Beziehungen viele von einander ge-
trennte, in ſich mehr oder weniger geſchloſſene Wirt-
ſchaftsgebiete und Länder mit Eigenleben.

Gleichwohl können uns für die techniſche Aufgabe
der Schaffung eines europäiſchen Fernſprechnetzes
die amerikaniſchen Verhältniſſe in
mancher Beziehung vorbildlich ſein. Die Weit-
räumigkeit des Landes hat von vornherein die Tech-
niker Amerikas vor weit größere Aufgaben geſtellt,
als ſie in den einzelnen Ländern Europas zu löſen
waren. Wenn in Amerika ein Fernſprechverkehr
von Küſte zu Küſte durch den ganzen Kontinent
möglich iſt, ſo kann für einen ſolchen Verkehr zwi-
ſchen den europäiſchen Hauptſtädten ein techniſches
Hindernis nicht beſtehen.

Für die Schaffung eines europäiſchen Fernſprech-
netzes kann aber weder die amerikaniſche Überland-
linie nach San Franzisko, noch die indo-europäiſche
Telegraphenlinie vorbildlich ſein. Die Frage, die
es heute zu löſen gilt, iſt eine ganz andere. Es
handelt ſich nicht mehr darum, auf einzelnen Haupt-
ſtraßen des Verkehrs eine beſchränkte Anzahl von
Leitungswegen für den Fernſprechverkehr zu ſchaf-
fen, ſondern alle Gebiete Europas mit entwickelten
oder für die Entwicklung reifen Verkehrsbeziehungen
durch ein zuſammenhängendes Fernſprechnetz mitein-
ander in Verbindung zu bringen, und zwar ſo, daß
ſich die Möglichkeit bietet, dieſes Netz planmäßig
immer weiter auszubauen, um nach und nach auch
die zunächſt abſeits gebliebenen Gebiete an den Seg-
nungen des Verkehrs teilhaftig zu machen.

Wie läßt ſich dieſe Aufgabe für Europa löſen?
Zweifellos nicht durch ein oberirdiſches Leitungs-
netz. Warum nicht? Die Gründe ſind für das
zwiſchenſtaatliche Netz die gleichen wie für die inner-
ſtaatlichen Netze der einzelnen Länder, nur mit dem
Unterſchiede, daß die zwiſchenſtaatlichen Verbindun-
gen wegen ihrer größeren Länge noch weit mehr
unter den Nachteilen der oberirdiſchen Linienführung
zu leiden haben als die innerſtaatlichen.

Nach angeſtellten Berechnungen ſtellen ſich die
Koſten für ein Kabelgeſpräch bei einer Leitungslänge
von 500 Kilometer im Vergleich zu den Koſten für
ein Freileitungsgeſpräch wie 1 zu 1.5. Man kann
ſagen, daß die Verkabelung der Freileitungsnetze
nicht nur wirtſchaftlich gerechtfertigt iſt, ſondern das
einzig mögliche Mittel bildet, einen leiſtungsfähigen
und lohnenden Fernſprechverkehr zu erzielen.

In den Vereinigten Staaten und in vielen euro-
päiſchen Ländern ſind umfangreiche Fernkabel-An-
lagen im Bau oder geplant, deren Vollendung nur
eine Frage der Zeit iſt. Deutſchland hatte ſchon vor
dem Kriege im Jahre 1913 mit dem Rheinland-
kabel
einen vielverſprechenden Anfang gemacht.
Allerdings war dieſes Kabel noch nicht für den Ver-
ſtärkerbetrieb gebaut, entſpricht alſo nicht dem neue-
ſten Stand der Technik. Es konnte infolge des Krie-
ges erſt im Jahre 1921 vollendet werden und leiſtet
ſeit dieſer Zeit vorzügliche Dienſte, ſoweit nicht
neuerdings der Ruhreinbruch Hemmun-
gen
gebracht hat. Nach dem Rheinlandkabel ſind
inzwiſchen in Deutſchland noch einige andere Strecken
mit Kabeln neuer Bauart in Betrieb genommen
worden, einige weitere ſind im Bau. Aber die
Schwierigkeiten ſind ſo groß, daß nur ein langſames
Vorwärtskommen möglich iſt, obgleich gerade in
Deutſchland die Fernverkehrsverhältniſſe ſchnelle
und durchgreifende Abhilfe erfordern, um unſere
Wirtſchaft zu heben und das Defizit der Telegraphen-
verwaltung durch Herauswirtſchaften von Erträgen
[Spaltenumbruch] zu beſeitigen. Beſonders ſchmerzlich empfinden wir,
daß es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelun-
gen iſt, die Genehmigung der Beſatzungsbehörde
dazu zu erlangen, die dringend notwendigen Kabel-
anlagen im Rheinland herzuſtellen. Die Pläne
waren ſchon im Frühjahr 1922 fertig. Die nach der
Rheinlandakte notwendige Genehmigung des inter-
alliierten Oberkommandos iſt aber trotz immer wie-
derholter Vorſtellungen der Verwaltung und der
davon betroffenen Wirtſchaftskreiſe nicht erteilt
worden.

Für Deutſchland handelt es ſich bei der Planung
des Kabelnetzes aber nicht nur um die Bedürfniſſe
des Fernſprechverkehrs, ſondern auch des Tele-
grammverkehrs
. Deutſchland beſitzt ſeit Ende
der ſiebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts
ein ausgedehntes Telegraphenkabelnetz, das bei einer
Geſamtlinienlänge von 5650 km die wichtigſten Orte
miteinander verbindet und das Rückgrat des Tele-
grammverkehrs bildet. Das nun faſt 50 Jahre alte
Netz iſt verbraucht und muß erſetzt werden.
Dieſe in den nächſten Jahren unabweisbare Erneue-
rung kann nur Hand in Hand gehen mit der Schaf-
fung des Fernkabelnetzes, und zwar iſt keine Zeit
zu verlieren, weil ſonſt nicht nur der innerſtaatliche,
ſondern auch der zwiſchenſtaatliche Telegrammver-
kehr, dem dieſe Kabel wegen ihrer Unabhängigkeit
von atmoſphäriſchen Störungen in erſter Linie
dienen, zum Erliegen kommen müßte, ganz abge-
ſehen davon, daß es wirtſchaftlich nicht zu recht-
fertigen wäre, die Erneuerung des deutſchen Tele-
graphennetzes von dem Bau des Fernkabelnetzes
zu trennen. Es iſt gelungen, beide Aufgaben auf
das glücklichſte dadurch zu vereinigen, daß die Tele-
graphie zum Wechſelſtrombetrieb mit Spannungen
und Strömen von gleicher Größenordnung wie beim
Fernſprechbetrieb übergeht. Die Adern des Fern-
kabelnetzes können alſo nach Bedarf für beide
Zwecke verwendet werden. Hierdurch wird die wirt-
ſchaftliche Ausnutzung der Kabel bedeutend geſteigert.

Die wichtigſten europäiſchen Fernkabelwege
ſind, ſoweit ſich Verkehrsentwicklungen unter den
mißlichen Zuſtänden der Gegenwart überhaupt vor-
ausſehen laſſen, wohl die folgenden:

1. London — Hamburg — Petersburg,
3800 km.

Dieſe Linie folgt dem Schiffahrtsweg längs der
Nord- und Oſtſee verbindet alle ſeine wichtigeren
Häfen und bildet gleichzeitig die Baſis für den An-
ſchluß der nordiſchen Staaten.

2. London — Berlin — Konſtantinopel,
4300 km.

Dieſer Kabelweg verbindet England und die
Nordſeehäfen auf dem Kontinent quer durch Deutſch-
land und die mitteleuropäiſchen Staaten hindurch
mit den Balkanſtaaten und der Türkei.

3. London — Amſterdam — Rom,
2000 km.

Der Kabelweg über Holland, die Rheinlande und
durch die Schweiz bis zur Hauptſtadt Italiens.

4. London — Paris — Madrid, 1700 km.

Die Weſtlinie zum Zuſammenſchluß des eng-
liſchen, franzöſiſchen und ſpaniſchen Kabelnetzes.

5. Frankfurt — Nürnberg — Wien —
Budapeſt,
950 km.

Der Kabelweg längs der in der Entſtehung begrif-
fenen Rhein-Main-Donau-Waſſerſtraße mit Anſchluß
an die Linien 2 und 3.

6. Paris — Berlin — Warſchau, 1250 km.

Die Kabellinie quer durch Europa zur Verbindung
des Weſtens über Norddeutſchland mit Polen und
ſpäter weiter mit Innenrußland.

7. Paris — Prag — Lemberg, 1400 km.

Der Kabelweg vom weſtlichen Europa durch Süd-
deutſchland nach der Tſchechoſlowakei und dem ſüd-
lichen Polen mit ſpäterer Fortſetzung nach dem ſüd-
lichen Rußland.

[Spaltenumbruch]

8. Chriſtlania — Hamburg — Wien,
1800 km.

Die Linie von den norwegiſchen Häfen über
Hamburg und dann, dem Elblauf folgend, über
Prag nach Wien, die Weſt-Oſtverbindungen ſchnei-
dend.

9. Stockholm — Berlin — München —
Rom,
2600 km.

Die Verbindung von Schweden über Deutſchland
und die Alpenländer nach Italien.

10. Ergänzungslinien, 4200 km.

Selbſtverſtändlich handelt es ſich bei der Auswahl
dieſer Kabelwege nur um einen Verſuch der Planung
eines europäiſchen Kabelnetzes, die in allen Einzel-
heiten der Berichtigung und Vervollſtändigung be-
darf. Namentlich wäre es eine notwendige und
reizvolle Aufgabe, den Entwurf des Fernkabelnetzes
in Verbindung zu bringen mit den
Plänen zur Ausbreitung des Luft-
fahrzeugverkehrs über den europä-
iſchen Kontinent
.

Von der Geſamtlänge des europäiſchen Kabel-
netzes mit 24 000 km entfallen 6 650 km, alſo mehr
als 25 v. H. auf den deutſchen Anteil. Dies erklärt
ſich ſchon daraus, daß das Gebiet des Deutſchen
Reiches das übrige Europa an Verkehrsdichte bei
weitem übertrifft. Die Lage Deutſchlands in Europa
und die topographiſche Geſtaltung unſeres Erdteiles
bedingt es zudem, daß die meiſten Hauptlinien des
zwiſchenſtaatlichen Verkehrs den Weg über deutſches
Gebiet nehmen, daß unſer Land im europäiſchen
Verkehrsweſen und in der geſamten europäiſchen
Wirtſchaft als Bindeglied zwiſchen Weſten und
Oſten, Süden und Norden immer eine unerſetzbare
Stelle eingenommen hat und auch in Zukunft ein-
nehmen wird.

Von der baldigen Verwirklichung der deutſchen
Planungen hängt das Zuſtandekommen und die Ent-
wicklung des europäiſchen Netzes in erſter Linie mit
ab. Die nachgewieſene Ertragsfähigkeit des deutſchen
Netzes wird durch die zwiſchenſtaatlichen Verbin-
dungen noch erhöht und ſteht über allem Zweifel.

In den Ländern mit geringerer Verkehrsdichte
wird dagegen die Frage der Ertragsfähigkeit der
zwiſchenſtaatlichen Kabelverbindungen nicht ſo leicht
befriedigend zu beantworten ſein.

Für die Elektrotechnik bietet das in der
Entwicklung begriffene europäiſche Fernkabelnetz
ein Betätigungsfeld von außeror-
dentlicher Bedeutung
. Daß die deutſche
Elektrotechnik dem ihr zufallenden Anteil an dieſer
Aufgabe gewachſen ſein wird, daren beſteht für den
Unterrichteten kein Zweifel. Außer der amerika-
niſchen iſt allein die deutſche elektro-
techniſche Induſtrie
imſtande, aus eigener
Kraft Fernkabelanlagen mit allem Zubehör zu bauen.
Alle anderen Länder bedürfen dabei mehr oder
weniger fremder Unterſtützung.

Für den Bau der deutſchen Linien beſteht ſeit April
1921 ein vom Reichspoſtminiſterium ins Leben ge-
rufenes gemiſchtwirtſchaftliches Unternehmen, die
Deutſche Fernkabelgeſellſchaft, an der
die Telegraphenverwaltung und die Kabelwerke be-
teiligt ſind. Durch dieſe Geſellſchaft iſt ein gedeih-
liches Hand-in-Hand-Arbeiten der Verwaltung mit
den techniſchen Kräften der Induſtrie unter gegen-
ſeitigem Austauſch aller Erfahrungen geſichert. Die
deutſche Telegraphenverwaltung kann mit Befriedi-
gung feſtſtellen, daß die bisher ausgeführten An-
lagen allen Anforderungen entſprochen haben, daß
in der Entwicklung kein Stillſtand eingetreten iſt,
ſondern daß dauernd Fortſchritte gemacht werden,
die uns mit vollem Vertrauen in die Zukunft blicken
laſſen und uns die Gewißheit geben, daß das deut-
ſche Kabelnetz ein leiſtungsfähiges Glied des großen
europäiſchen Fernſprechnetzes bilden wird.



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[8/0008] Allgemeine Zeitung. Nr. 12 Sonntag, den 13. Januar 1924 Das europäiſche Fernkabelnetz. Der Geheime Oberpoſtrat Dr. Craemer vom Reichspoſtminiſterium hat im Elek- trotechniſchen Verein München am 11. Jan. einen ungemein inſtiuktiven Vor- trag über obiges Thema gehalten. Wir ent- nehmen den für unſer Verkehrs- und Wirt- ſchaftsleben hochbedeutſamen Ausführungen folgendes: Ein Wirtſchaftskörper kann nur gedeihen, wenn ſein Blutumlauf — der Güteraustauſch — und ſein Nervenſyſtem — das Nachrichtennetz — leiſtungs- fähig ſind. Für das kranke Europa handelt es ſich nicht nur darum, das, was vor dem Kriege war, wieder herzuſtellen; die Nachrichtenmittel müſſen vielmehr neu aufgebaut werden in den vervollkomm- neten Formen, in denen vom Kriege unberührte Länder, vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, ihr Leitungsnetz in den Kriegs- und Nach- kriegsjahren entwickeln konnten. Gewiß bot der Krieg, namentlich bei uns in Deutſchland, infolge der Verteilung der kämpfenden Truppen über weite Gebiete Europas und bis nach Aſien hinein, Aufgaben die, als Vorarbeiten für ein künftiges Friedensnetz zu verwerten ſind; aber was ſich auf dem Gebiete des Fernſprechweitverkehrs vor dem Kriege, wenn damals die Technik ſchon vollkommen genug geweſen wäre, ohne große Schwierigkeiten hätte erreichen laſſen, wurde nach dem Kriege ſehr viel mühevoller, weil die von der Entente beliebte Neuaufteilung Europas überall die Nachrichtennetze zerriſſen hat und weil die neu- gebildeten Länder in der kurzen Zeit ihres Be- ſtehens nur das Notdürftigſte für den inneren Be- darf haben ſchaffen können. Es iſt das unbeſtrittene Verdienſt des Präſiden- ten der Inſtitution of Electrical Engineers in London, Frank Gill, an der Hand ſeiner ame- rikaniſchen Erfahrungen zuerſt Wege gewieſen zu haben, auf denen das europäiſche zwiſchenſtaatliche Fernſprechnetz techniſch und organiſatoriſch verwirk- licht werden könnte. Gill will dies mit den in Ame- rika erprobten techniſchen Mitteln in der Weiſe er- reichen, daß eine ſelbſtändige Privatgeſellſchaft, an der ſich auch die ſtaatlichen Verwaltungen beteiligen können, gebildet wird, die das zwiſchenſtaatliche Fernſprechnetz baut und betreibt. Die franzöſiſche Telegraphenverwaltung griff den Gillſchen Gedanken auf, und zwar, wie man wohl ſagen darf, mit einer gewiſſen Haſt. Wenigſtens ließ der Unterſtaatsſekretär für Poſt, Herr La- font, in der franzöſiſchen Preſſe erklären, es ſei keine Zeit zu verlieren, weil Deutſchland im Begriff ſei, ſich zum Mittelpunkt des künftigen europäiſchen Fernſprechnetzes zu machen, während dieſe Vorzugs- ſtellung unbedingt Frankreich, insbeſondere Paris, zukäme. Daß bei einer ſolchen Auffaſſung Deutſch- land nicht zur Konferenz von Fernſprech- technikern weſteuropäiſcher Länder in Paris im März 1923 eingeladen wurde, kann nicht weiter verwundern. Außer Deutſchland, deſſen Fernſprechnetz in Europa nach der Dichtigkeit und Ausdehnung der Linien an erſter Stelle ſteht, fehlten aber auch Holland und die nordiſchen Staaten, Län- der alſo, deren vorbildliche Einrichtungen auf dem Gebiete des Fernſprechverkehrs ſie in erſter Linie befähigt hätten, auf der Konferenz nützliche Arbeit zu leiſten. Die organiſatoriſchen Vorſchläge von Gill hat ſich die Pariſer Konferenz nicht zu eigen gemacht, ſon- dern ſie hat ſich darauf beſchränkt, ein ſtändiges Komitee der auf der Konferenz vertretenen weſteuropäiſchen Verwaltungen mit dem Sitz in Paris in Ausſicht zu nehmen, das den Austauſch aller techniſchen Erfahrungen über den zwiſchenſtaat- lichen Fernſprechverkehr auf weite Entfernungen vermitteln ſoll. Man verſteht es, wenn auf die von Gill befürwortete überſtaatliche Privatgeſellſchaft in engſter Verbindung mit den einzelnen Verwaltun- gen der europäiſchen Länder die Konferenz nicht eingegangen iſt; Gill hat zu ſehr die amerikaniſchen Verhältniſſe im Auge. In den Vereinigten Staaten handelt es ſich um ein politiſch und wirtſchaftlich einheitliches Gebiet, das infolge der Vertruſtung aller wichtigen Betriebe eines gleichmäßig über das ganze Land ausgedehnten Nachrichtennetzes bedarf. In Europa beſtehen bei aller Bedeutung der zwi- ſchenſtaatlichen Beziehungen viele von einander ge- trennte, in ſich mehr oder weniger geſchloſſene Wirt- ſchaftsgebiete und Länder mit Eigenleben. Gleichwohl können uns für die techniſche Aufgabe der Schaffung eines europäiſchen Fernſprechnetzes die amerikaniſchen Verhältniſſe in mancher Beziehung vorbildlich ſein. Die Weit- räumigkeit des Landes hat von vornherein die Tech- niker Amerikas vor weit größere Aufgaben geſtellt, als ſie in den einzelnen Ländern Europas zu löſen waren. Wenn in Amerika ein Fernſprechverkehr von Küſte zu Küſte durch den ganzen Kontinent möglich iſt, ſo kann für einen ſolchen Verkehr zwi- ſchen den europäiſchen Hauptſtädten ein techniſches Hindernis nicht beſtehen. Für die Schaffung eines europäiſchen Fernſprech- netzes kann aber weder die amerikaniſche Überland- linie nach San Franzisko, noch die indo-europäiſche Telegraphenlinie vorbildlich ſein. Die Frage, die es heute zu löſen gilt, iſt eine ganz andere. Es handelt ſich nicht mehr darum, auf einzelnen Haupt- ſtraßen des Verkehrs eine beſchränkte Anzahl von Leitungswegen für den Fernſprechverkehr zu ſchaf- fen, ſondern alle Gebiete Europas mit entwickelten oder für die Entwicklung reifen Verkehrsbeziehungen durch ein zuſammenhängendes Fernſprechnetz mitein- ander in Verbindung zu bringen, und zwar ſo, daß ſich die Möglichkeit bietet, dieſes Netz planmäßig immer weiter auszubauen, um nach und nach auch die zunächſt abſeits gebliebenen Gebiete an den Seg- nungen des Verkehrs teilhaftig zu machen. Wie läßt ſich dieſe Aufgabe für Europa löſen? Zweifellos nicht durch ein oberirdiſches Leitungs- netz. Warum nicht? Die Gründe ſind für das zwiſchenſtaatliche Netz die gleichen wie für die inner- ſtaatlichen Netze der einzelnen Länder, nur mit dem Unterſchiede, daß die zwiſchenſtaatlichen Verbindun- gen wegen ihrer größeren Länge noch weit mehr unter den Nachteilen der oberirdiſchen Linienführung zu leiden haben als die innerſtaatlichen. Nach angeſtellten Berechnungen ſtellen ſich die Koſten für ein Kabelgeſpräch bei einer Leitungslänge von 500 Kilometer im Vergleich zu den Koſten für ein Freileitungsgeſpräch wie 1 zu 1.5. Man kann ſagen, daß die Verkabelung der Freileitungsnetze nicht nur wirtſchaftlich gerechtfertigt iſt, ſondern das einzig mögliche Mittel bildet, einen leiſtungsfähigen und lohnenden Fernſprechverkehr zu erzielen. In den Vereinigten Staaten und in vielen euro- päiſchen Ländern ſind umfangreiche Fernkabel-An- lagen im Bau oder geplant, deren Vollendung nur eine Frage der Zeit iſt. Deutſchland hatte ſchon vor dem Kriege im Jahre 1913 mit dem Rheinland- kabel einen vielverſprechenden Anfang gemacht. Allerdings war dieſes Kabel noch nicht für den Ver- ſtärkerbetrieb gebaut, entſpricht alſo nicht dem neue- ſten Stand der Technik. Es konnte infolge des Krie- ges erſt im Jahre 1921 vollendet werden und leiſtet ſeit dieſer Zeit vorzügliche Dienſte, ſoweit nicht neuerdings der Ruhreinbruch Hemmun- gen gebracht hat. Nach dem Rheinlandkabel ſind inzwiſchen in Deutſchland noch einige andere Strecken mit Kabeln neuer Bauart in Betrieb genommen worden, einige weitere ſind im Bau. Aber die Schwierigkeiten ſind ſo groß, daß nur ein langſames Vorwärtskommen möglich iſt, obgleich gerade in Deutſchland die Fernverkehrsverhältniſſe ſchnelle und durchgreifende Abhilfe erfordern, um unſere Wirtſchaft zu heben und das Defizit der Telegraphen- verwaltung durch Herauswirtſchaften von Erträgen zu beſeitigen. Beſonders ſchmerzlich empfinden wir, daß es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelun- gen iſt, die Genehmigung der Beſatzungsbehörde dazu zu erlangen, die dringend notwendigen Kabel- anlagen im Rheinland herzuſtellen. Die Pläne waren ſchon im Frühjahr 1922 fertig. Die nach der Rheinlandakte notwendige Genehmigung des inter- alliierten Oberkommandos iſt aber trotz immer wie- derholter Vorſtellungen der Verwaltung und der davon betroffenen Wirtſchaftskreiſe nicht erteilt worden. Für Deutſchland handelt es ſich bei der Planung des Kabelnetzes aber nicht nur um die Bedürfniſſe des Fernſprechverkehrs, ſondern auch des Tele- grammverkehrs. Deutſchland beſitzt ſeit Ende der ſiebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein ausgedehntes Telegraphenkabelnetz, das bei einer Geſamtlinienlänge von 5650 km die wichtigſten Orte miteinander verbindet und das Rückgrat des Tele- grammverkehrs bildet. Das nun faſt 50 Jahre alte Netz iſt verbraucht und muß erſetzt werden. Dieſe in den nächſten Jahren unabweisbare Erneue- rung kann nur Hand in Hand gehen mit der Schaf- fung des Fernkabelnetzes, und zwar iſt keine Zeit zu verlieren, weil ſonſt nicht nur der innerſtaatliche, ſondern auch der zwiſchenſtaatliche Telegrammver- kehr, dem dieſe Kabel wegen ihrer Unabhängigkeit von atmoſphäriſchen Störungen in erſter Linie dienen, zum Erliegen kommen müßte, ganz abge- ſehen davon, daß es wirtſchaftlich nicht zu recht- fertigen wäre, die Erneuerung des deutſchen Tele- graphennetzes von dem Bau des Fernkabelnetzes zu trennen. Es iſt gelungen, beide Aufgaben auf das glücklichſte dadurch zu vereinigen, daß die Tele- graphie zum Wechſelſtrombetrieb mit Spannungen und Strömen von gleicher Größenordnung wie beim Fernſprechbetrieb übergeht. Die Adern des Fern- kabelnetzes können alſo nach Bedarf für beide Zwecke verwendet werden. Hierdurch wird die wirt- ſchaftliche Ausnutzung der Kabel bedeutend geſteigert. Die wichtigſten europäiſchen Fernkabelwege ſind, ſoweit ſich Verkehrsentwicklungen unter den mißlichen Zuſtänden der Gegenwart überhaupt vor- ausſehen laſſen, wohl die folgenden: 1. London — Hamburg — Petersburg, 3800 km. Dieſe Linie folgt dem Schiffahrtsweg längs der Nord- und Oſtſee verbindet alle ſeine wichtigeren Häfen und bildet gleichzeitig die Baſis für den An- ſchluß der nordiſchen Staaten. 2. London — Berlin — Konſtantinopel, 4300 km. Dieſer Kabelweg verbindet England und die Nordſeehäfen auf dem Kontinent quer durch Deutſch- land und die mitteleuropäiſchen Staaten hindurch mit den Balkanſtaaten und der Türkei. 3. London — Amſterdam — Rom, 2000 km. Der Kabelweg über Holland, die Rheinlande und durch die Schweiz bis zur Hauptſtadt Italiens. 4. London — Paris — Madrid, 1700 km. Die Weſtlinie zum Zuſammenſchluß des eng- liſchen, franzöſiſchen und ſpaniſchen Kabelnetzes. 5. Frankfurt — Nürnberg — Wien — Budapeſt, 950 km. Der Kabelweg längs der in der Entſtehung begrif- fenen Rhein-Main-Donau-Waſſerſtraße mit Anſchluß an die Linien 2 und 3. 6. Paris — Berlin — Warſchau, 1250 km. Die Kabellinie quer durch Europa zur Verbindung des Weſtens über Norddeutſchland mit Polen und ſpäter weiter mit Innenrußland. 7. Paris — Prag — Lemberg, 1400 km. Der Kabelweg vom weſtlichen Europa durch Süd- deutſchland nach der Tſchechoſlowakei und dem ſüd- lichen Polen mit ſpäterer Fortſetzung nach dem ſüd- lichen Rußland. 8. Chriſtlania — Hamburg — Wien, 1800 km. Die Linie von den norwegiſchen Häfen über Hamburg und dann, dem Elblauf folgend, über Prag nach Wien, die Weſt-Oſtverbindungen ſchnei- dend. 9. Stockholm — Berlin — München — Rom, 2600 km. Die Verbindung von Schweden über Deutſchland und die Alpenländer nach Italien. 10. Ergänzungslinien, 4200 km. Selbſtverſtändlich handelt es ſich bei der Auswahl dieſer Kabelwege nur um einen Verſuch der Planung eines europäiſchen Kabelnetzes, die in allen Einzel- heiten der Berichtigung und Vervollſtändigung be- darf. Namentlich wäre es eine notwendige und reizvolle Aufgabe, den Entwurf des Fernkabelnetzes in Verbindung zu bringen mit den Plänen zur Ausbreitung des Luft- fahrzeugverkehrs über den europä- iſchen Kontinent. Von der Geſamtlänge des europäiſchen Kabel- netzes mit 24 000 km entfallen 6 650 km, alſo mehr als 25 v. H. auf den deutſchen Anteil. Dies erklärt ſich ſchon daraus, daß das Gebiet des Deutſchen Reiches das übrige Europa an Verkehrsdichte bei weitem übertrifft. Die Lage Deutſchlands in Europa und die topographiſche Geſtaltung unſeres Erdteiles bedingt es zudem, daß die meiſten Hauptlinien des zwiſchenſtaatlichen Verkehrs den Weg über deutſches Gebiet nehmen, daß unſer Land im europäiſchen Verkehrsweſen und in der geſamten europäiſchen Wirtſchaft als Bindeglied zwiſchen Weſten und Oſten, Süden und Norden immer eine unerſetzbare Stelle eingenommen hat und auch in Zukunft ein- nehmen wird. Von der baldigen Verwirklichung der deutſchen Planungen hängt das Zuſtandekommen und die Ent- wicklung des europäiſchen Netzes in erſter Linie mit ab. Die nachgewieſene Ertragsfähigkeit des deutſchen Netzes wird durch die zwiſchenſtaatlichen Verbin- dungen noch erhöht und ſteht über allem Zweifel. In den Ländern mit geringerer Verkehrsdichte wird dagegen die Frage der Ertragsfähigkeit der zwiſchenſtaatlichen Kabelverbindungen nicht ſo leicht befriedigend zu beantworten ſein. Für die Elektrotechnik bietet das in der Entwicklung begriffene europäiſche Fernkabelnetz ein Betätigungsfeld von außeror- dentlicher Bedeutung. Daß die deutſche Elektrotechnik dem ihr zufallenden Anteil an dieſer Aufgabe gewachſen ſein wird, daren beſteht für den Unterrichteten kein Zweifel. Außer der amerika- niſchen iſt allein die deutſche elektro- techniſche Induſtrie imſtande, aus eigener Kraft Fernkabelanlagen mit allem Zubehör zu bauen. Alle anderen Länder bedürfen dabei mehr oder weniger fremder Unterſtützung. Für den Bau der deutſchen Linien beſteht ſeit April 1921 ein vom Reichspoſtminiſterium ins Leben ge- rufenes gemiſchtwirtſchaftliches Unternehmen, die Deutſche Fernkabelgeſellſchaft, an der die Telegraphenverwaltung und die Kabelwerke be- teiligt ſind. Durch dieſe Geſellſchaft iſt ein gedeih- liches Hand-in-Hand-Arbeiten der Verwaltung mit den techniſchen Kräften der Induſtrie unter gegen- ſeitigem Austauſch aller Erfahrungen geſichert. Die deutſche Telegraphenverwaltung kann mit Befriedi- gung feſtſtellen, daß die bisher ausgeführten An- lagen allen Anforderungen entſprochen haben, daß in der Entwicklung kein Stillſtand eingetreten iſt, ſondern daß dauernd Fortſchritte gemacht werden, die uns mit vollem Vertrauen in die Zukunft blicken laſſen und uns die Gewißheit geben, daß das deut- ſche Kabelnetz ein leiſtungsfähiges Glied des großen europäiſchen Fernſprechnetzes bilden wird. _

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 13. Januar 1924, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine12_1924/8>, abgerufen am 21.11.2024.