Allgemeine Zeitung, Nr. 156, 4. Juni 1860.
Hr. Bright hat die kurzen Pfingstferien nach Kräften benützt, hat M. Post und Times stellen über die letzten Verhandlungen des Turi- "Der Ausgang der Debatte über den Abtretungsvertrag konnte keinen Augen- Bezüglich Siciliens fragt die Times: wie es denn gekommen sey daß In der City will man wissen daß Rothschild beträchtliche Comptanten- Die vorgestern gemeldeten Verhastungen in Dundalk (Irland) bestätigen In Irland gehen die Werbungen für den Papst, wie es scheint, noch London, 2 Jun. Im Unterhaus zeigt Lord J. Russell, in Erwie-
Hr. Bright hat die kurzen Pfingſtferien nach Kräften benützt, hat M. Poſt und Times ſtellen über die letzten Verhandlungen des Turi- „Der Ausgang der Debatte über den Abtretungsvertrag konnte keinen Augen- Bezüglich Siciliens fragt die Times: wie es denn gekommen ſey daß In der City will man wiſſen daß Rothſchild beträchtliche Comptanten- Die vorgeſtern gemeldeten Verhaſtungen in Dundalk (Irland) beſtätigen In Irland gehen die Werbungen für den Papſt, wie es ſcheint, noch London, 2 Jun. Im Unterhaus zeigt Lord J. Ruſſell, in Erwie- <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <p> <cit> <quote><pb facs="#f0006" n="2602"/><cb/> als Unterthanen eines großen Kaiſerreichs daran ſeyn würden; ferner: die<lb/> Pariſer Preſſe ſey bereits angewieſen zu behaupten daß die Belgier die Frage<lb/> der Einverleibung in Frankreich discutiren, und dieſelbe unverſchämte Lüge<lb/> ſey einigen engliſchen Blättern von der mehr obſcuren und unvorſichtigen<lb/> Claſſe aufgebunden worden. Dieß ſtimme ganz mit der bisherigen imperia-<lb/> liſtiſchen Praxis überein — erſt eine Discuſſion zu erdichten, dann auf Grund<lb/> dieſer fingirten Discuſſion zu räſonniren, dann zu behaupten daß die Dis-<lb/> cuſſion zu Gunſten der Annexionsfreunde ausgefallen ſey, dann kaiſerliche<lb/> Sympathien für den Wunſch eines einmüthigen Volkes zu bezeugen, und<lb/> endlich mit einer übermächtigen Armee nach dem begehrten Gebiet zu mar-<lb/> ſchiren. Dieß, heißt es, ſeyen immer die Stadien des Annexionsfiebers ge-<lb/> weſen. Wir denken mit Hrn. Fould: es iſt für den Augenblick keine Gefahr<lb/> daß dieſes Fieber in Belgien tödtlich ende, wenn es nicht unglücklicherweiſe<lb/> vorher Rheinpreußen ergreifen und wegraffen ſollte. Belgien und Preußen<lb/> ſind vor mehr als fünfzig Jahren gegen die Krankheit geimpft worden. Ein<lb/> Belgier oder ein Preuße hat wohl heute ſo wenig Luſt Franzoſe zu werden<lb/> wie einem Yorkſhireman darnach gelüſten wird, und Dank gewiſſen Bürg-<lb/> ſchaſten, liegen die Küſten Belgiens ganz anders als die Abhänge von Chablais.<lb/> Indeſſen wird man doch gut thun die Zeichen der Zeit mit kritiſchem Auge zu<lb/> beobachten.“</quote> </cit> </p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <p>Hr. Bright hat die kurzen Pfingſtferien nach Kräften benützt, hat<lb/> in Mancheſter und in Birmingham Reden zu Gunſten der miniſte-<lb/> riellen Reformbill und gegen das Oberhaus, weil es ſich der Abſchaf-<lb/> fung der Papierſteuer widerſetzte, zum beſten gegeben. Seine Argumente<lb/> ſind bekannt, und brauchen dießmal um ſo weniger wiederholt zu werden, als<lb/> durch ſie weder der Reformbill noch der Abſchaffung der Papierſteuer vorerſt<lb/> Vorſchub geleiſtet worden iſt.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <p>M. <hi rendition="#g">Poſt</hi> und <hi rendition="#g">Times</hi> ſtellen über die letzten Verhandlungen des Turi-<lb/> ner Parlaments Betrachtungen an, in denen jener der engliſchen Preſſe ſonſt<lb/> bei Beurtheilung auswärtiger Politik ſo geläufige moraliſche Feuereifer faſt<lb/> ganz zurück-, hingegen ein matthevziger Quietismus, der zu geſchehenen Din-<lb/> gen das beſte redet, recht breit in den Vordergrund tritt. Es genügt folgende<lb/> Stelle des Palmerſton’ſchen Blattes anzuführen:</p><lb/> <cit> <quote>„Der Ausgang der Debatte über den Abtretungsvertrag konnte keinen Augen-<lb/> blick zweifelhaſt ſeyn. Wie hätten die Abgeordneten von Florenz und Piſa, von<lb/> Bologua, Ferrara und Ravenna — die Vertreter der neuen dem ſardiniſchen König-<lb/> reich einverleibten Provinzen — ihre Sanction einem Vertrag verſagen können der,<lb/> wie ſie thatſächlich fühlten und anerkannten, die Bedingung iſt unter der ſie die<lb/> Rechte freier italieniſcher Bürger und ihre Sitze in einem italieniſchen Parlament<lb/> erlangt hatten? Den Polikern der Halbinſel hat es überhaupt weder vor noch ſeit<lb/> Machiavelli an Verſtand gefehlt, um die ſie umgebeuden Gewalten zu begreifen, und ſich<lb/> vor ihnen zu beugen. Was die Salbaderei des Tags als „die unerbittliche Logik<lb/> der Thatſachen“ bezeichnet, iſt nichts als eine Wiedergebung jener ſehr praktiſchen<lb/> Anſichten die uns auf jeder Seite des „Principe“ und der andern Werke des großen<lb/> Florentiners begeguen. Zieht man dem diplomatiſchen und parlamentariſchen Con-<lb/> venienz-Jargon, in den Graf Cavour ſeine Argumente hüllt, den Schleier ab, ſo<lb/> findet man daß die ſardiniſche Abtretungspolilik keinen Grund hat als die Fügung<lb/> in eine eiſerne und unerbittliche Nothwendigkeit. Wir können uns nicht der Empfin-<lb/> dung erwehren daß der ſardiniſche Staatsmann hierin im Intereſſe des ganzen ita-<lb/> lieniſchen Volks denkt und handelt; zum Beſten dieſes Ganzen hat er ſich herbei-<lb/> gelaſſen einen ſehr kleinen, und zwar nicht ſehr widerſirebenden, Theil auſzuopfern;<lb/> die Urtheilskraft, wenn nicht das Gefühl, ſeiner Landsleme wird dieſem Act des<lb/> Grafen Cavour ſeine Billigung und Sanction ertheilen.“</quote> </cit> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <p>Bezüglich Siciliens fragt die <hi rendition="#g">Times:</hi> wie es denn gekommen ſey daß<lb/> ein ſonſt ſo ſchlaffes und ruhiges (?) Volk wie die Sicilianer ſich<lb/> ſo einmüthig zum Sturz eines nicht fremden, fondern einheimiſchen Fürſten<lb/> erhoben — eines Fürſten aus einer Familie die vor 60 Jahren auf jener ſchönen<lb/> Inſel eine Zuflucht fand, und fünfzehn Jahre lang von den Sicilianern als<lb/> Vertreter ihrer Nationalität gegen einen fremdländiſchen Unterdrücker geſchätzt<lb/> und geliebt wurde? Was könne geſchehen ſeyn um dieſe Volksanhänglichkeit<lb/> in einen ſo bittern Haß zu verwandeln, und ein träges ſüdliches Geſchlecht<lb/> mit der unüberwindlichen Ausdauer von Martyrern zu erfüllen? „Die Ur-<lb/> ſache dieſes Stands der Dinge iſt oft anſpielungsweiſe erwähnt worden, aber<lb/> die Details find ſo empörender Natur, und klingen ſo unglaublich, daß ob-<lb/> gleich ſie von Italienern von der höchſten Achtbarkeit verbürgt, von Gladſtone<lb/> zum Gegenſtand entrüſteter Anklage gemacht, und durch die amtlichen Depe-<lb/> ſchen des engliſchen Geſandten in Neapel beſtätigt ſind, und obgleich ſie vor<lb/> vier Jahren zum Abbruch der diplomatiſchen Bezichungen zwiſchen England<lb/> und Reapel fikhrten, wir doch kaum wiſſen wie wir davon reden ſollen. In<lb/> Paris ſind jedoch Thatſachen veröffentlicht werden die, <hi rendition="#g">wenn</hi> ſie wahr ſind,<lb/> keinen Zweifel darüber laſſen daß die in Neapel begangenen Grauſamkeiten<lb/> von den Verbrechen, die Sicilien zur Empörung trieben, noch weit übertroffen<lb/> worden ſind.“ Die Times ſchildert hierauf nach den erwähnten italieniſchen<lb/> und franzöſiſchen Quellen die Wirthſchaſt des berüchtigten Landvogts Ma-<lb/> niscalco und ſeiner Untergeordneten — wobei raffinirte Folterwerkzeuge aller<lb/> Art eine Hauptrolle ſpielen. (Mit der angeblichen Gutmithigkeit des ſici-<lb/> lichen Voltes ſteht die ganze Geſchichte der Inſel im Widerſpruch; der Sici-<lb/> lianer hat eine Veimiſchung aſrikaniſchen Bluts in ſeinen Adern, und iſt an<lb/> Charakter vielfach das gerade Gegentheil vom Neapolitaner. Und doch<lb/><cb/> gibt es ein altes curioſes Buch: „Geſchichte der etlichen ſechzig Aufſtände<lb/> und Empörungen der allergetreueſten Stadt Neapel.“) Weiterhin bemerkt<lb/> die Times: der bereits zweimonatliche Kampf auf Sicilien ſtehe an Ener-<lb/> gie und Hartnäckigkeit kaum hinter dem polniſchen Volkskrieg von 1831<lb/> zurück. Die Inſel ſey für König Franz trotz ſeiner militäriſchen Ueber-<lb/> macht unrettbar verloren. Garibaldi aber wird in der geſammten eng-<lb/> liſchen Preſſe gefeiert, und zwar nicht bloß in ſtreckverslicher Proſa, ſondern<lb/> auch in ſchwunghaften Oden. Eine ſolche wird unter andern von der<lb/> M. <hi rendition="#g">Poſt</hi> mitgetheilt, mit der Verſicherung daß ihr Verfaſſer, Hr. Felix<lb/><hi rendition="#g">Meldred,</hi> bereits einen hohen Platz unter den neueſten engliſchen Dichtern<lb/> einnehme. Es iſt übrigens eine ziemlich gewöhnliche Phraſeologie: Gari-<lb/> baldi wird der „Waſhington der alten Trinakria“ genannt; „die Sonne freut<lb/> ſich ſeinen patriotiſchen Stahl zu küſſen“ u. dergl.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <p>In der City will man wiſſen daß Rothſchild beträchtliche Comptanten-<lb/> beträge von Neapel nach Marſeille conſignirt habe, und vermuthet daß dieſes<lb/> im Auftrage des neapolitaniſchen Hofes geſchehe.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <p>Die vorgeſtern gemeldeten Verhaſtungen in Dundalk (Irland) beſtätigen<lb/> ſich. Sie belaufen ſich im ganzen bisher auf elf, aber darunter iſt, wie es<lb/> jetzt heißt, keine einzige die einen Menſchen aus den beſſeren Geſellſchaſts-<lb/> claſſen betroffen hat. Es ſind zumeiſt Tagelöhner, die ſich einem ungeſetz-<lb/> lichen Verein angeſchloſſen zu haben ſcheinen, trotzdem daß ſie von der katho-<lb/> liſchen Geiſtlichkeit wiederholt gewarnt worden waren.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <p>In Irland gehen die Werbungen für den Papſt, wie es ſcheint, noch<lb/> immer gut von ſtatten. Iſt es auch übertrieben daß 6000 Mann von der be-<lb/> waffneten Polizeimannſchaft den Dienſt verlaſſen haben um nach Italien<lb/> „anszuwandern,“ ſo unterliegt es doch keinem Zweifel daß dieß von einigen<lb/> Duzenden derſelben geſchehen iſt. Einer Mittheilung des Wiener <hi rendition="#g">Times-</hi><lb/> Correſpondenten zufolge fühlten die iriſchen Freiwilligen, welche zu Ende des<lb/> vorigen Monats in Meidling bei Wien auf ihre Weiterbeförderung harrten,<lb/> ſchon einigermaßen Reue ihren heimathlichen Herd verlaſſen zu haben. Sie<lb/> ſeyen wohl gratis über Liverpool nach Oeſterreich befördert worden, aber ſeit<lb/> ſie Belgien verließen, hätten ſie viel hungern müſſen, und würden herzlich<lb/> gerne wieder umkehren. Ob und mit welchem Erfolg ſie ſich deßhalb an den<lb/> engliſchen Geſandten in Wien gewendet haben, weiß der Correſpondent nicht<lb/> zu ſagen. Er bemerkt nur noch daß die iriſchen Recruten wahrſcheinlich öſter-<lb/> reichiſchen Officieren zum Einexerciren anvertraut werden.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">London,</hi> 2 Jun.</dateline> <p>Im <hi rendition="#g">Unterhaus</hi> zeigt Lord J. Ruſſell, in Erwie-<lb/> derung auf die Anfrage von Hrn. Fitzgerald, an: Fürſt Gortſchakoff habe dem<lb/> diplomatiſchen Körper die aus der Türkei eigelaufenen Berichte mitgetheilt, in<lb/> welchen die Leiden der chriſtlichen Bewohner der Pforte geſchildert werden.<lb/> Es ſteht zu befürchten daß eine Metzelei losbricht. Der Kaiſer von Rußland<lb/> kann kein ruhiger Zuſchauer dieſer Sachlage bleiben. Drei Vorſchläge ſind<lb/> aufgeſetzt, und an die verſchiedenen Regierungen geſchickt worden. Der erſte<lb/> geht bloß dahin zu conſtatiren daß der gegenwärtige Zuſtand unerträglich ge-<lb/> worden iſt. Der zweite verlangt daß die Vertreter des Sultans unter dem<lb/> Beiſtand der Conſuln der fremden Mächte eine Unterſuchung anſtellen ſollten<lb/> Der dritte verlangt eine neue Organiſirung der Provinzen, da der Hat Hu-<lb/> mayum unausgeführt geblieben iſt. Nachdem England von dieſen drei Punk-<lb/> ten Kenntniß erhalten, antwortete es in Bezug auf den erſten: es habe ſeiner-<lb/> ſeits keinen Bericht bekommen aus dem hervorgienge der Zuſtand der Provin-<lb/> zen ſey ein unerträglicher geworden. Den zweiten Punkt anbelangend, ſo<lb/> kann England dem darin ausgeſprochenen Grundſatz nicht beitreten, da derſelbe<lb/> dem Vertrag von 1856 widerſpreche. Der vierte Artikel dieſes Vertrags hat<lb/> allerdings die Integrität und die Unabhängigkeit der Pforte gewährleiſtet und<lb/> beſtimmt daß, wenn eine Zwiſtigkeit zwiſchen einem der vertragſchließenden<lb/> Theile und der Pforte ausbräche, man nicht von den Waffen Gebrauch ma-<lb/> chen würde ehe man an alle übrigen Mächte appellirt hat. Artikel 9 confta-<lb/> tire ferner daß der Hat-Humahum ein freiwilliger Act des Sultans geweſen,<lb/> und derſelbe gibt den Mächten kein Recht zur Intervention. Da der Vertrag<lb/> ſich über dieſen Punkt ſo ausdrücklich ausſpricht, ſo rechtfertigt nichts von dem<lb/> was im Orient ſich zugetragen eine Intecoention, doch wäre es nach einer ſol-<lb/> chen Erklärung einer Macht wie Rußland, die ſich rühmt die chriſtlichen Un-<lb/> terthanen des Sultans zu beeinſluſſen, nicht klug wenn England ſich abſeits<lb/> verhielte. England hat in der That die andern Mächte benachrichtigt daß es<lb/> ihm unmöglich ſey dem erſten und dritten Punkt beizutreten, und daß es paſ-<lb/> ſend ware eine Unterſuchung über die Zuſtände der Chriſten im Orient anzu-<lb/> ſtellen. Oeſterreich und Preußen haben beinahe im nämlichen Sinne geant-<lb/> wortet. Hr. Thouvenel hat conſtatirt daß da Mißbräuche beſtehen, man<lb/> zu Mitteln greifen müſſe welche geeignet ſind der Türkei Kraft und Sicher-<lb/> heit zu verleihen. Die Anſicht des Hrn. Thouvenel, welcher die Türkei aus<lb/> eigener Erfahrung genau kennt, verdiente eine große Beachtung. Dieſer<lb/> Miniſter fügte hinzu, die Unterſuchung müſſe mit größter Rückſicht für dis<lb/> Autorität der Pforte vorgenommen werden. England theilt dieſe Anſicht, und<lb/> fügt hinzu daß, wenn die Pforte den Conſuln der Mächte das Recht der Be-<lb/> theiligung an der Unterſuchung abſprechen würde, es nicht auf demſelben be-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2602/0006]
als Unterthanen eines großen Kaiſerreichs daran ſeyn würden; ferner: die
Pariſer Preſſe ſey bereits angewieſen zu behaupten daß die Belgier die Frage
der Einverleibung in Frankreich discutiren, und dieſelbe unverſchämte Lüge
ſey einigen engliſchen Blättern von der mehr obſcuren und unvorſichtigen
Claſſe aufgebunden worden. Dieß ſtimme ganz mit der bisherigen imperia-
liſtiſchen Praxis überein — erſt eine Discuſſion zu erdichten, dann auf Grund
dieſer fingirten Discuſſion zu räſonniren, dann zu behaupten daß die Dis-
cuſſion zu Gunſten der Annexionsfreunde ausgefallen ſey, dann kaiſerliche
Sympathien für den Wunſch eines einmüthigen Volkes zu bezeugen, und
endlich mit einer übermächtigen Armee nach dem begehrten Gebiet zu mar-
ſchiren. Dieß, heißt es, ſeyen immer die Stadien des Annexionsfiebers ge-
weſen. Wir denken mit Hrn. Fould: es iſt für den Augenblick keine Gefahr
daß dieſes Fieber in Belgien tödtlich ende, wenn es nicht unglücklicherweiſe
vorher Rheinpreußen ergreifen und wegraffen ſollte. Belgien und Preußen
ſind vor mehr als fünfzig Jahren gegen die Krankheit geimpft worden. Ein
Belgier oder ein Preuße hat wohl heute ſo wenig Luſt Franzoſe zu werden
wie einem Yorkſhireman darnach gelüſten wird, und Dank gewiſſen Bürg-
ſchaſten, liegen die Küſten Belgiens ganz anders als die Abhänge von Chablais.
Indeſſen wird man doch gut thun die Zeichen der Zeit mit kritiſchem Auge zu
beobachten.“
Hr. Bright hat die kurzen Pfingſtferien nach Kräften benützt, hat
in Mancheſter und in Birmingham Reden zu Gunſten der miniſte-
riellen Reformbill und gegen das Oberhaus, weil es ſich der Abſchaf-
fung der Papierſteuer widerſetzte, zum beſten gegeben. Seine Argumente
ſind bekannt, und brauchen dießmal um ſo weniger wiederholt zu werden, als
durch ſie weder der Reformbill noch der Abſchaffung der Papierſteuer vorerſt
Vorſchub geleiſtet worden iſt.
M. Poſt und Times ſtellen über die letzten Verhandlungen des Turi-
ner Parlaments Betrachtungen an, in denen jener der engliſchen Preſſe ſonſt
bei Beurtheilung auswärtiger Politik ſo geläufige moraliſche Feuereifer faſt
ganz zurück-, hingegen ein matthevziger Quietismus, der zu geſchehenen Din-
gen das beſte redet, recht breit in den Vordergrund tritt. Es genügt folgende
Stelle des Palmerſton’ſchen Blattes anzuführen:
„Der Ausgang der Debatte über den Abtretungsvertrag konnte keinen Augen-
blick zweifelhaſt ſeyn. Wie hätten die Abgeordneten von Florenz und Piſa, von
Bologua, Ferrara und Ravenna — die Vertreter der neuen dem ſardiniſchen König-
reich einverleibten Provinzen — ihre Sanction einem Vertrag verſagen können der,
wie ſie thatſächlich fühlten und anerkannten, die Bedingung iſt unter der ſie die
Rechte freier italieniſcher Bürger und ihre Sitze in einem italieniſchen Parlament
erlangt hatten? Den Polikern der Halbinſel hat es überhaupt weder vor noch ſeit
Machiavelli an Verſtand gefehlt, um die ſie umgebeuden Gewalten zu begreifen, und ſich
vor ihnen zu beugen. Was die Salbaderei des Tags als „die unerbittliche Logik
der Thatſachen“ bezeichnet, iſt nichts als eine Wiedergebung jener ſehr praktiſchen
Anſichten die uns auf jeder Seite des „Principe“ und der andern Werke des großen
Florentiners begeguen. Zieht man dem diplomatiſchen und parlamentariſchen Con-
venienz-Jargon, in den Graf Cavour ſeine Argumente hüllt, den Schleier ab, ſo
findet man daß die ſardiniſche Abtretungspolilik keinen Grund hat als die Fügung
in eine eiſerne und unerbittliche Nothwendigkeit. Wir können uns nicht der Empfin-
dung erwehren daß der ſardiniſche Staatsmann hierin im Intereſſe des ganzen ita-
lieniſchen Volks denkt und handelt; zum Beſten dieſes Ganzen hat er ſich herbei-
gelaſſen einen ſehr kleinen, und zwar nicht ſehr widerſirebenden, Theil auſzuopfern;
die Urtheilskraft, wenn nicht das Gefühl, ſeiner Landsleme wird dieſem Act des
Grafen Cavour ſeine Billigung und Sanction ertheilen.“
Bezüglich Siciliens fragt die Times: wie es denn gekommen ſey daß
ein ſonſt ſo ſchlaffes und ruhiges (?) Volk wie die Sicilianer ſich
ſo einmüthig zum Sturz eines nicht fremden, fondern einheimiſchen Fürſten
erhoben — eines Fürſten aus einer Familie die vor 60 Jahren auf jener ſchönen
Inſel eine Zuflucht fand, und fünfzehn Jahre lang von den Sicilianern als
Vertreter ihrer Nationalität gegen einen fremdländiſchen Unterdrücker geſchätzt
und geliebt wurde? Was könne geſchehen ſeyn um dieſe Volksanhänglichkeit
in einen ſo bittern Haß zu verwandeln, und ein träges ſüdliches Geſchlecht
mit der unüberwindlichen Ausdauer von Martyrern zu erfüllen? „Die Ur-
ſache dieſes Stands der Dinge iſt oft anſpielungsweiſe erwähnt worden, aber
die Details find ſo empörender Natur, und klingen ſo unglaublich, daß ob-
gleich ſie von Italienern von der höchſten Achtbarkeit verbürgt, von Gladſtone
zum Gegenſtand entrüſteter Anklage gemacht, und durch die amtlichen Depe-
ſchen des engliſchen Geſandten in Neapel beſtätigt ſind, und obgleich ſie vor
vier Jahren zum Abbruch der diplomatiſchen Bezichungen zwiſchen England
und Reapel fikhrten, wir doch kaum wiſſen wie wir davon reden ſollen. In
Paris ſind jedoch Thatſachen veröffentlicht werden die, wenn ſie wahr ſind,
keinen Zweifel darüber laſſen daß die in Neapel begangenen Grauſamkeiten
von den Verbrechen, die Sicilien zur Empörung trieben, noch weit übertroffen
worden ſind.“ Die Times ſchildert hierauf nach den erwähnten italieniſchen
und franzöſiſchen Quellen die Wirthſchaſt des berüchtigten Landvogts Ma-
niscalco und ſeiner Untergeordneten — wobei raffinirte Folterwerkzeuge aller
Art eine Hauptrolle ſpielen. (Mit der angeblichen Gutmithigkeit des ſici-
lichen Voltes ſteht die ganze Geſchichte der Inſel im Widerſpruch; der Sici-
lianer hat eine Veimiſchung aſrikaniſchen Bluts in ſeinen Adern, und iſt an
Charakter vielfach das gerade Gegentheil vom Neapolitaner. Und doch
gibt es ein altes curioſes Buch: „Geſchichte der etlichen ſechzig Aufſtände
und Empörungen der allergetreueſten Stadt Neapel.“) Weiterhin bemerkt
die Times: der bereits zweimonatliche Kampf auf Sicilien ſtehe an Ener-
gie und Hartnäckigkeit kaum hinter dem polniſchen Volkskrieg von 1831
zurück. Die Inſel ſey für König Franz trotz ſeiner militäriſchen Ueber-
macht unrettbar verloren. Garibaldi aber wird in der geſammten eng-
liſchen Preſſe gefeiert, und zwar nicht bloß in ſtreckverslicher Proſa, ſondern
auch in ſchwunghaften Oden. Eine ſolche wird unter andern von der
M. Poſt mitgetheilt, mit der Verſicherung daß ihr Verfaſſer, Hr. Felix
Meldred, bereits einen hohen Platz unter den neueſten engliſchen Dichtern
einnehme. Es iſt übrigens eine ziemlich gewöhnliche Phraſeologie: Gari-
baldi wird der „Waſhington der alten Trinakria“ genannt; „die Sonne freut
ſich ſeinen patriotiſchen Stahl zu küſſen“ u. dergl.
In der City will man wiſſen daß Rothſchild beträchtliche Comptanten-
beträge von Neapel nach Marſeille conſignirt habe, und vermuthet daß dieſes
im Auftrage des neapolitaniſchen Hofes geſchehe.
Die vorgeſtern gemeldeten Verhaſtungen in Dundalk (Irland) beſtätigen
ſich. Sie belaufen ſich im ganzen bisher auf elf, aber darunter iſt, wie es
jetzt heißt, keine einzige die einen Menſchen aus den beſſeren Geſellſchaſts-
claſſen betroffen hat. Es ſind zumeiſt Tagelöhner, die ſich einem ungeſetz-
lichen Verein angeſchloſſen zu haben ſcheinen, trotzdem daß ſie von der katho-
liſchen Geiſtlichkeit wiederholt gewarnt worden waren.
In Irland gehen die Werbungen für den Papſt, wie es ſcheint, noch
immer gut von ſtatten. Iſt es auch übertrieben daß 6000 Mann von der be-
waffneten Polizeimannſchaft den Dienſt verlaſſen haben um nach Italien
„anszuwandern,“ ſo unterliegt es doch keinem Zweifel daß dieß von einigen
Duzenden derſelben geſchehen iſt. Einer Mittheilung des Wiener Times-
Correſpondenten zufolge fühlten die iriſchen Freiwilligen, welche zu Ende des
vorigen Monats in Meidling bei Wien auf ihre Weiterbeförderung harrten,
ſchon einigermaßen Reue ihren heimathlichen Herd verlaſſen zu haben. Sie
ſeyen wohl gratis über Liverpool nach Oeſterreich befördert worden, aber ſeit
ſie Belgien verließen, hätten ſie viel hungern müſſen, und würden herzlich
gerne wieder umkehren. Ob und mit welchem Erfolg ſie ſich deßhalb an den
engliſchen Geſandten in Wien gewendet haben, weiß der Correſpondent nicht
zu ſagen. Er bemerkt nur noch daß die iriſchen Recruten wahrſcheinlich öſter-
reichiſchen Officieren zum Einexerciren anvertraut werden.
London, 2 Jun. Im Unterhaus zeigt Lord J. Ruſſell, in Erwie-
derung auf die Anfrage von Hrn. Fitzgerald, an: Fürſt Gortſchakoff habe dem
diplomatiſchen Körper die aus der Türkei eigelaufenen Berichte mitgetheilt, in
welchen die Leiden der chriſtlichen Bewohner der Pforte geſchildert werden.
Es ſteht zu befürchten daß eine Metzelei losbricht. Der Kaiſer von Rußland
kann kein ruhiger Zuſchauer dieſer Sachlage bleiben. Drei Vorſchläge ſind
aufgeſetzt, und an die verſchiedenen Regierungen geſchickt worden. Der erſte
geht bloß dahin zu conſtatiren daß der gegenwärtige Zuſtand unerträglich ge-
worden iſt. Der zweite verlangt daß die Vertreter des Sultans unter dem
Beiſtand der Conſuln der fremden Mächte eine Unterſuchung anſtellen ſollten
Der dritte verlangt eine neue Organiſirung der Provinzen, da der Hat Hu-
mayum unausgeführt geblieben iſt. Nachdem England von dieſen drei Punk-
ten Kenntniß erhalten, antwortete es in Bezug auf den erſten: es habe ſeiner-
ſeits keinen Bericht bekommen aus dem hervorgienge der Zuſtand der Provin-
zen ſey ein unerträglicher geworden. Den zweiten Punkt anbelangend, ſo
kann England dem darin ausgeſprochenen Grundſatz nicht beitreten, da derſelbe
dem Vertrag von 1856 widerſpreche. Der vierte Artikel dieſes Vertrags hat
allerdings die Integrität und die Unabhängigkeit der Pforte gewährleiſtet und
beſtimmt daß, wenn eine Zwiſtigkeit zwiſchen einem der vertragſchließenden
Theile und der Pforte ausbräche, man nicht von den Waffen Gebrauch ma-
chen würde ehe man an alle übrigen Mächte appellirt hat. Artikel 9 confta-
tire ferner daß der Hat-Humahum ein freiwilliger Act des Sultans geweſen,
und derſelbe gibt den Mächten kein Recht zur Intervention. Da der Vertrag
ſich über dieſen Punkt ſo ausdrücklich ausſpricht, ſo rechtfertigt nichts von dem
was im Orient ſich zugetragen eine Intecoention, doch wäre es nach einer ſol-
chen Erklärung einer Macht wie Rußland, die ſich rühmt die chriſtlichen Un-
terthanen des Sultans zu beeinſluſſen, nicht klug wenn England ſich abſeits
verhielte. England hat in der That die andern Mächte benachrichtigt daß es
ihm unmöglich ſey dem erſten und dritten Punkt beizutreten, und daß es paſ-
ſend ware eine Unterſuchung über die Zuſtände der Chriſten im Orient anzu-
ſtellen. Oeſterreich und Preußen haben beinahe im nämlichen Sinne geant-
wortet. Hr. Thouvenel hat conſtatirt daß da Mißbräuche beſtehen, man
zu Mitteln greifen müſſe welche geeignet ſind der Türkei Kraft und Sicher-
heit zu verleihen. Die Anſicht des Hrn. Thouvenel, welcher die Türkei aus
eigener Erfahrung genau kennt, verdiente eine große Beachtung. Dieſer
Miniſter fügte hinzu, die Unterſuchung müſſe mit größter Rückſicht für dis
Autorität der Pforte vorgenommen werden. England theilt dieſe Anſicht, und
fügt hinzu daß, wenn die Pforte den Conſuln der Mächte das Recht der Be-
theiligung an der Unterſuchung abſprechen würde, es nicht auf demſelben be-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |