Allgemeine Zeitung, Nr. 157, 5. Juni 1860.[Spaltenumbruch]
Wochen, ja Monate lang in Polizeihaft habe halten lassen, ohne daß ein rich- Frankreich hat über Nacht alle seine constitutionellen Institutionen ver- Der früher mit Servituten aller Art bis zur peinlichsten Ein- Zwischen Ungarn und Oesterreich fielen die Zollschranken, das Prohibi- Im ganzen Lande wurden Handelskammern eingeführt, ein neues Man gestatte uns hier daran zu erinnern wie tief alle diese Institu- Die Concurrenz welche die Gewerbefreiheit bedingt, zwingt ihrerseits Freilich ist die absolute Parität noch nicht ausgesprochen, aber sie ist un- (Schluß folgt.) Das niederrheinische Musikfest. * Düsseldorf, 29 Mai.Auf der Durchreise begriffen, wohnte ich [Spaltenumbruch]
Wochen, ja Monate lang in Polizeihaft habe halten laſſen, ohne daß ein rich- Frankreich hat über Nacht alle ſeine conſtitutionellen Inſtitutionen ver- Der früher mit Servituten aller Art bis zur peinlichſten Ein- Zwiſchen Ungarn und Oeſterreich fielen die Zollſchranken, das Prohibi- Im ganzen Lande wurden Handelskammern eingeführt, ein neues Man geſtatte uns hier daran zu erinnern wie tief alle dieſe Inſtitu- Die Concurrenz welche die Gewerbefreiheit bedingt, zwingt ihrerſeits Freilich iſt die abſolute Parität noch nicht ausgeſprochen, aber ſie iſt un- (Schluß folgt.) Das niederrheiniſche Muſikfeſt. * Düſſeldorf, 29 Mai.Auf der Durchreiſe begriffen, wohnte ich <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0010" n="2622"/><cb/> Wochen, ja Monate lang in Polizeihaft habe halten laſſen, ohne daß ein rich-<lb/> terlicher Befehl vorlag oder auch nur eingeholt ward, ohne daß dieſe<lb/> Perſonen vom Richter vernommen wurden. Man habe dieſe Perſonen<lb/> wieder entlaſſen ohne einmal eine Anklage oder Unterſuchung gegen ſie zu<lb/> begründen.“ Der Juſtizminiſter wird allem Anſchein nach ſchwerlich darum<lb/> ſein Portefeuille verlieren. Wir klagen nicht darüber; wenn aber das ſo gut<lb/> vor- und durchgebildete Preußen nach 12 Jahren noch nicht in die ihm gewordenen<lb/> conſtitutionellen Inſtitutionen ſo weit hereingewachſen iſt um ſie einigermaßen<lb/> mit Wirkung handhaben zu können, wenn faſt jede Debatte dort Zeugniß gab<lb/> wie weit noch die Befähigung der Repräſentanten hinter den Forderungen der<lb/> Inſtitution zurückbleibt, ſo ſollte man doch endlich davon abſehen die Ent-<lb/> wicklungsſtufe eines Staates und ſein Weſen lediglich nach ſeinen politiſchen<lb/> Inſtitutionen zu meſſen.</p><lb/> <p>Frankreich hat über Nacht alle ſeine conſtitutionellen Inſtitutionen ver-<lb/> loren, bildet ſich aber unzweifelhaft ein auch ohne ſie noch ebenſo „an der<lb/> Spitze der Civiliſation Europa’s zu marſchiren.“ Und es iſt ſicher falſch zu<lb/> glauben daß durch jenen Verluſt Frankreich einen <hi rendition="#g">Sprung</hi> rückwärts ge-<lb/> macht habe; die Bewegung war unter allen Umſtänden eine ſtätige. Die<lb/> politiſchen Inſtitutionen der ſüdamerikaniſchen Republiken, deren politiſches<lb/> Leben und deren culturhiſtoriſche Kraft in den letzten Zügen liegt, ſind ſormell<lb/> den unſern weit voraus, trotzdem daß die Deutſchen unzweifelhaft die Träger<lb/> und Förderer der Weltcultur, die Vorkämpfer für die Idee der Humanſtät<lb/> ſind. Die politiſchen Inſtitutionen wollen ihrem Werth nach alſo nicht an<lb/> und für ſich beurtheilt werden, ſondern nach ihrer Handhabung, <hi rendition="#g">nach der<lb/> Baſis auf welcher ſie ruhen.</hi> Der größte Feind Oeſterreichs kann<lb/> nicht läugnen daß für dieſen Unterbau zu einer höhern politiſchen Entwicklung<lb/> in Oeſterreich außerordentliches geſchehen iſt. Wahrlich, es iſt im Donaureich<lb/> mehr geſchehen als die Erde bloß von den Trümmern zu befreien mit welchen<lb/> das Jahr 1848 ſie bedeckte.</p><lb/> <p>Der früher mit Servituten aller Art bis zur peinlichſten Ein-<lb/> zwängung belaſtete Boden iſt durchweg entlaſtet, der Boden iſt <hi rendition="#g">frei</hi> ge-<lb/> worden. Der Unterthänigkeitsverband iſt aufgehoben, die Patrimonialge-<lb/> richte ſind nicht mehr! Binnen acht Jahren iſt in Oeſterreich vollendet<lb/> durchgeführt womit Preußen in vierzig Jahren nicht fertig geworden<lb/> iſt. An dieſe Befreiung des Bodens ſchloß ſich die Regelung, ja hie und da<lb/> totale Neueinführung des Hypotheken- und Beſitzweſens, dann folgte die Auf-<lb/> hebung der Aviticitätsrechte, der ungleichen Beſteuerung und der Steuer-<lb/> exemtionen (kein Adeliger in Ungarn zahlte Steuern). Im ganzen Reich<lb/> wurde auf Grund des allgemeinen bürgerlichen und Strafgeſetzbuches ein<lb/> ganz vortreffliches Civil- und Criminalrecht eingeführt, wodurch namentlich<lb/> die faſt unvernünftige und heilloſe Geſetzgebung in Ungarn beſeitigt wurde.</p><lb/> <p>Zwiſchen Ungarn und Oeſterreich fielen die Zollſchranken, das Prohibi-<lb/> tivſyſtem ward aufgehoben, das Schutzzollſyſtem eingeführt, und wenige Jahre<lb/> ſpäter ſchon wurden die Einfuhrzölle ſtark herabgeſetzt. Durchweg trat eine<lb/> liberale Handelspolitik ein. Wir wollen hier nur erwähnen daß die Anträge<lb/> Oeſterreichs beim Zollverein auf Aufhebung der Durchgangs- und Schiff-<lb/> fahrtszölle, der gemeinſamen Zollhäuſer und ſonſtiger Verkehrserleichterungen<lb/><hi rendition="#g">an Preußens Widerſpruch ſcheiterten.</hi> Dieſe Entwicklung des<lb/> Verkehrs knüpfte ſich unmittelbar an jene koloſſalen Eiſenbahnbauten, die zum<lb/> Theil nirgends in der Welt ihres gleichen finden. Wir nennen nur die nörd-<lb/> liche und die ſüdliche Staatsbahn, die Fortſetzung der Ferdinands-Nordbahn,<lb/> die Vollendung der lombardiſch-venetianiſchen Bahn, die Theißbahn, die<lb/> Weſtbahn, die Galiziſche, die Kärnthner- und Tirolerbahn.</p><lb/> <p>Im ganzen Lande wurden Handelskammern eingeführt, ein neues<lb/> Münzſyſtem, das ſich dem des übrigen Deutſchlands harmoniſch anſchloß, be-<lb/> gründet, für die Entwicklung und Erleichterung des Credits die möglichſte<lb/> Vorſorge getroffen. Die verrotteten Geſetze gegen die Juden ſind abgeſchafft<lb/> bis zu einer geringen Einſchränkung, welche die Provincialrechte und die <hi rendition="#g">Cul-<lb/> turverhältniſſe</hi> der ſlaviſchen und jüdiſchen Bevölkerung in Galizien be-<lb/> dingen; die Fähigkeit zum Immobiliarbeſitz iſt letztern gewährt. Dazu ge-<lb/> ſellte ſich Freizügigkeit, eine faſt unbedingte Gewerbefreiheit ausſprechende<lb/> neue Gewerbeordnung, große Conceſſionserleichterung für Ausländer, eine<lb/> neue Wechſelordnung, ein neues mit Deutſchland zu vereinbarendes Handels-<lb/> geſetz.</p><lb/> <p>Man geſtatte uns hier daran zu erinnern wie tief alle dieſe Inſtitu-<lb/> tionen in das geiſtige Leben übergreifen. Die Gewerbefreiheit gibt dem Hand-<lb/> werker die Möglichkeit ſich zum Fabricanten zu entwickeln. Die Gewerbe-<lb/> freiheit allein wird die Regierung fort und fort zu weitern Berbeſſerungen<lb/> fortreißen, und <hi rendition="#g">ſie iſt ſich deſſen bewußt!</hi> Die Aufhebung des Wucher-<lb/> patents, die Entwicklung der Handelsgeſetzgebung ꝛc. ſind ſchon in dieſer<lb/> Beziehung <hi rendition="#g">erzwungene</hi> Verbeſſerungen.</p><lb/> <p>Die Concurrenz welche die Gewerbefreiheit bedingt, zwingt ihrerſeits<lb/> zur Entwickelung der Intelligenz, und bürgt ſo für die Entwickelung des Un-<lb/> terrichtsſyſtems, bürgt für die Erringung der unbedingten Lern- und Lehr-<lb/> freiheit. Die Gewerbefreiheit ſichert das Aſſociationsrecht wenigſtens bis zu<lb/><cb/> gewiſſer Gränze, fördert ſo auch politiſch, und da ſie unbedingt den Reichthum<lb/> der Nation vermehren wird, hebt ſie auch unzweifelhaft die allgemeine Bildung.<lb/> Wir wiederholen: die Regierung iſt ſich aller dieſer Conſequenzen bewußt gewe-<lb/> ſen, denn die Aenderung des Unterrichtsſyſtems iſt der Einführung der Gewerbe-<lb/> freiheit viele Jahre vorausgegangen, und durch die Einführung der Realſchulen<lb/> in der ganzen Monarchie (früher beſt anden nur wenige Unter- und keine Ober-<lb/> Realſchulen) iſt eine junge Generation herangezogen die für die Ausbeutung der<lb/> Gewerbefreiheit vorgebildet und befähigt iſt. Daß man nicht bloß hier dem<lb/> Utilitätsprincip gehuldigt hat, beweiſen die Reformen im übrigen Schulwe-<lb/> ſen. Seit 1851 iſt für das Gymnaſialweſen ſehr viel gethan worden. Statt<lb/> der Claſſenlehrer ſind Fachlehrer eingeführt, das Studium der deutſchen, der<lb/> griechiſchen und der <hi rendition="#g">einſchläglichen Mutterſprachen</hi> wird eifrigſt ge-<lb/> fördert, in den exacten Wiſſenſchaften, der Naturgeſchichte, Phyſik, Mathe-<lb/> matik wird Unterricht ertheilt, der früher ganz fehlte, und ſchließlich ſind ſtatt<lb/> der alten Präfecten überall wirkliche Lehrer zu Directoren der Gymnaſien<lb/> ernannt worden. Man hat endlich begonnen auch das Univerſitätsweſen<lb/> nach deutſchem Muſter zu ordnen; ſelbſtändige philoſophiſche Facultäten ſind<lb/> errichtet, deutſche Lehrkräfte ſind herangezogen durch Einführung der Docen-<lb/> ten und der Collegiengelder, ſowie durch die freie Organiſation der Univerſi-<lb/> täts- und Facultätskörper — durch Wahl, ſtatt der früheren Ernennung der<lb/> Dekane und Rectoren — iſt die Baſis zu einem lebendigen, geſunden geiſti-<lb/> gen Leben gelegt. Die Lern- und Lehrfreiheit iſt namentlich auch durch Ab-<lb/> ſchaffung der Prüfungen und Einführung der Frequentationszeugniſſe in ſei-<lb/> nen Grundprincipien geſichert. Die Conſequenzen des Concordats haben<lb/> manchen kleinen Rückſchritt in dieſen Richtungen herbeigeführt, aber bekannt-<lb/> lich hat auch dieſes ſchon dem allmächtigen Geiſt der Zeit weichen müſſen.<lb/> Der Staat hat was er der römiſchen Kirche gewährt auch ſchon zum großen<lb/> Theil den andern Confeſſionen zugeſtanden. Die kirchlichen Verhältniſſe der<lb/> ungariſchen Proteſtanten ſind im liberalen Sinn geordnet, die Ordnung der-<lb/> ſelben in den deutſch-ſlaviſchen Provinzen, ſich ſtützend auf das allgemeine<lb/> Prieſterthum, das Synodal- und Presbyterialſyſtem, iſt bevorſtehend.</p><lb/> <p>Freilich iſt die abſolute Parität noch nicht ausgeſprochen, aber ſie iſt un-<lb/> vermeidlich, ſie iſt eine nothwendige Folge der bereits factiſch und rechtlich be-<lb/> ſtehenden Zuſtände. Wir ſind in dieſer Beziehung durchaus Deutſcher, und<lb/> fragen bei den gegebenen Inſtitutionen vor allem danach, ob ſie <hi rendition="#g">entwickel-<lb/> bar,</hi> ob ſie darauf berechnet ſind, ſich dem Fortſchritt der bedingenden Ele-<lb/> mente ſyſtematiſch anzuſchließen. Niemand wird behaupten wollen daß das<lb/> kirchliche Leben im höhern Sinn unter den Proteſtanten Oeſterreichs früher<lb/> beſonders thätig geweſen. Durch das Concordat aufgerüttelt, hat eine<lb/> mäßige Action hingereicht im Verhältniß zu früher große Freiheiten zu erſtre-<lb/> ben, obwohl jene Action ſich keineswegs immer als eine legale und beſonnene<lb/> erwieſen hat. Wie viel leichter wird es ſeyn auf Grund der gewonnenen<lb/> Freiheiten die vollſtändige Parität zu erſtreben? Daß dieſe principiell feſtge-<lb/> ſtellt, daß ſie nicht bloß factiſch herbeigeführt, ſondern als Grundſatz ausge-<lb/> ſprochen werde, iſt eine Bedingung die nicht bloß durch die Entwicklung des<lb/> Deutſchthums im Innern nothwendig wird, ſondern welche eng zuſammen-<lb/> hängt mit den äußern Beziehungen Oeſterreichs. Die Glaubensfreiheit<lb/> wurzelt zu tief im innerſten Kern des deutſchen Lebens, ſie iſt ſo ſehr der<lb/> wahre Springquell unſerer geiſtigen Kraft, daß wir nimmer davon laſſen<lb/> könnten. Vergeſſen wir aber nicht daß im Reich dreißig Jahre lang der<lb/> Boden mit Blut getränkt ward, bis ſie errungen worden, daß vier Jahrhun-<lb/> derte kaum genügten um das formell Errungene auch wirklich lebendig zu<lb/> machen. Aber weil ſie im großen Ganzen es endlich geworden, darum wer-<lb/> den den Deutſchen in Oeſterreich die Deutſchen im Reich zu ſolchem Ziel ſtets<lb/> einig die Hand reichen. Die unbedingte Parität der Confeſſionen iſt ſo nicht<lb/> bloß eine innere, ſie iſt auch eine äußere Aufgabe für Oeſterreich, und darum<lb/> ihre Löſung eine abſolut gewiſſe. Und wenn die geiſtige Spannkraft in die-<lb/> ſer Richtung auch vorübergehend nachließe, der Fortſchritt ſcheint uns in die-<lb/> ſer Beziehung doch gewiß, weil er eine Conſequenz der deutſchen Bildung iſt,<lb/> und dieſe eine natürliche Folge des Reichthums, zu welchem Boden, Gewerbe-<lb/> und Verkehrsfreiheit, Freizügigkeit und Zolleinigung ꝛc. die Baſis liefern.</p><lb/> <p>(Schluß folgt.)</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jCulturalNews" n="2"><lb/> <div type="jComment" n="3"> <head> <hi rendition="#b">Das niederrheiniſche Muſikfeſt.</hi> </head><lb/> <dateline>* <hi rendition="#b">Düſſeldorf,</hi> 29 Mai.</dateline> <p>Auf der Durchreiſe begriffen, wohnte ich<lb/> geſtern der Aufführung des zweiten Tages des niederrheiniſchen Muſikfeſtes<lb/> bei. So ſchön und herzerhebend dieſes Feſt in ſeinem Geſammteindruck auch un-<lb/> läugbar iſt, ſo kann ich doch, was wenigſtens dieſen zweiten Tag betrifft,<lb/> nicht unbedingt und in allen Punkten in die Lobesfanfaren einſtimmen denen<lb/> man jetzt ſchon in den Blättern begegnet, und die nach jedem niederrheiniſchen<lb/> Muſikfeſt als unausbleibliche Zugabe dem Publicum geboten werden. Schon<lb/> das Local, das eigentlich nichts weiter iſt als eine bretterne, ſogar faſt ganz<lb/> ſchmuckloſe Bude, die etwa 1900 eng zuſammengezwängte Zuhörer faſſen<lb/> mag, iſt des Zuſammenwirkens ſolcher Tonmaſſen nicht würdig. Die Akuſtik<lb/> iſt eine ziemlich ſchlechte, indem die Töne durch die hölzernen Planken zu ſehr<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [2622/0010]
Wochen, ja Monate lang in Polizeihaft habe halten laſſen, ohne daß ein rich-
terlicher Befehl vorlag oder auch nur eingeholt ward, ohne daß dieſe
Perſonen vom Richter vernommen wurden. Man habe dieſe Perſonen
wieder entlaſſen ohne einmal eine Anklage oder Unterſuchung gegen ſie zu
begründen.“ Der Juſtizminiſter wird allem Anſchein nach ſchwerlich darum
ſein Portefeuille verlieren. Wir klagen nicht darüber; wenn aber das ſo gut
vor- und durchgebildete Preußen nach 12 Jahren noch nicht in die ihm gewordenen
conſtitutionellen Inſtitutionen ſo weit hereingewachſen iſt um ſie einigermaßen
mit Wirkung handhaben zu können, wenn faſt jede Debatte dort Zeugniß gab
wie weit noch die Befähigung der Repräſentanten hinter den Forderungen der
Inſtitution zurückbleibt, ſo ſollte man doch endlich davon abſehen die Ent-
wicklungsſtufe eines Staates und ſein Weſen lediglich nach ſeinen politiſchen
Inſtitutionen zu meſſen.
Frankreich hat über Nacht alle ſeine conſtitutionellen Inſtitutionen ver-
loren, bildet ſich aber unzweifelhaft ein auch ohne ſie noch ebenſo „an der
Spitze der Civiliſation Europa’s zu marſchiren.“ Und es iſt ſicher falſch zu
glauben daß durch jenen Verluſt Frankreich einen Sprung rückwärts ge-
macht habe; die Bewegung war unter allen Umſtänden eine ſtätige. Die
politiſchen Inſtitutionen der ſüdamerikaniſchen Republiken, deren politiſches
Leben und deren culturhiſtoriſche Kraft in den letzten Zügen liegt, ſind ſormell
den unſern weit voraus, trotzdem daß die Deutſchen unzweifelhaft die Träger
und Förderer der Weltcultur, die Vorkämpfer für die Idee der Humanſtät
ſind. Die politiſchen Inſtitutionen wollen ihrem Werth nach alſo nicht an
und für ſich beurtheilt werden, ſondern nach ihrer Handhabung, nach der
Baſis auf welcher ſie ruhen. Der größte Feind Oeſterreichs kann
nicht läugnen daß für dieſen Unterbau zu einer höhern politiſchen Entwicklung
in Oeſterreich außerordentliches geſchehen iſt. Wahrlich, es iſt im Donaureich
mehr geſchehen als die Erde bloß von den Trümmern zu befreien mit welchen
das Jahr 1848 ſie bedeckte.
Der früher mit Servituten aller Art bis zur peinlichſten Ein-
zwängung belaſtete Boden iſt durchweg entlaſtet, der Boden iſt frei ge-
worden. Der Unterthänigkeitsverband iſt aufgehoben, die Patrimonialge-
richte ſind nicht mehr! Binnen acht Jahren iſt in Oeſterreich vollendet
durchgeführt womit Preußen in vierzig Jahren nicht fertig geworden
iſt. An dieſe Befreiung des Bodens ſchloß ſich die Regelung, ja hie und da
totale Neueinführung des Hypotheken- und Beſitzweſens, dann folgte die Auf-
hebung der Aviticitätsrechte, der ungleichen Beſteuerung und der Steuer-
exemtionen (kein Adeliger in Ungarn zahlte Steuern). Im ganzen Reich
wurde auf Grund des allgemeinen bürgerlichen und Strafgeſetzbuches ein
ganz vortreffliches Civil- und Criminalrecht eingeführt, wodurch namentlich
die faſt unvernünftige und heilloſe Geſetzgebung in Ungarn beſeitigt wurde.
Zwiſchen Ungarn und Oeſterreich fielen die Zollſchranken, das Prohibi-
tivſyſtem ward aufgehoben, das Schutzzollſyſtem eingeführt, und wenige Jahre
ſpäter ſchon wurden die Einfuhrzölle ſtark herabgeſetzt. Durchweg trat eine
liberale Handelspolitik ein. Wir wollen hier nur erwähnen daß die Anträge
Oeſterreichs beim Zollverein auf Aufhebung der Durchgangs- und Schiff-
fahrtszölle, der gemeinſamen Zollhäuſer und ſonſtiger Verkehrserleichterungen
an Preußens Widerſpruch ſcheiterten. Dieſe Entwicklung des
Verkehrs knüpfte ſich unmittelbar an jene koloſſalen Eiſenbahnbauten, die zum
Theil nirgends in der Welt ihres gleichen finden. Wir nennen nur die nörd-
liche und die ſüdliche Staatsbahn, die Fortſetzung der Ferdinands-Nordbahn,
die Vollendung der lombardiſch-venetianiſchen Bahn, die Theißbahn, die
Weſtbahn, die Galiziſche, die Kärnthner- und Tirolerbahn.
Im ganzen Lande wurden Handelskammern eingeführt, ein neues
Münzſyſtem, das ſich dem des übrigen Deutſchlands harmoniſch anſchloß, be-
gründet, für die Entwicklung und Erleichterung des Credits die möglichſte
Vorſorge getroffen. Die verrotteten Geſetze gegen die Juden ſind abgeſchafft
bis zu einer geringen Einſchränkung, welche die Provincialrechte und die Cul-
turverhältniſſe der ſlaviſchen und jüdiſchen Bevölkerung in Galizien be-
dingen; die Fähigkeit zum Immobiliarbeſitz iſt letztern gewährt. Dazu ge-
ſellte ſich Freizügigkeit, eine faſt unbedingte Gewerbefreiheit ausſprechende
neue Gewerbeordnung, große Conceſſionserleichterung für Ausländer, eine
neue Wechſelordnung, ein neues mit Deutſchland zu vereinbarendes Handels-
geſetz.
Man geſtatte uns hier daran zu erinnern wie tief alle dieſe Inſtitu-
tionen in das geiſtige Leben übergreifen. Die Gewerbefreiheit gibt dem Hand-
werker die Möglichkeit ſich zum Fabricanten zu entwickeln. Die Gewerbe-
freiheit allein wird die Regierung fort und fort zu weitern Berbeſſerungen
fortreißen, und ſie iſt ſich deſſen bewußt! Die Aufhebung des Wucher-
patents, die Entwicklung der Handelsgeſetzgebung ꝛc. ſind ſchon in dieſer
Beziehung erzwungene Verbeſſerungen.
Die Concurrenz welche die Gewerbefreiheit bedingt, zwingt ihrerſeits
zur Entwickelung der Intelligenz, und bürgt ſo für die Entwickelung des Un-
terrichtsſyſtems, bürgt für die Erringung der unbedingten Lern- und Lehr-
freiheit. Die Gewerbefreiheit ſichert das Aſſociationsrecht wenigſtens bis zu
gewiſſer Gränze, fördert ſo auch politiſch, und da ſie unbedingt den Reichthum
der Nation vermehren wird, hebt ſie auch unzweifelhaft die allgemeine Bildung.
Wir wiederholen: die Regierung iſt ſich aller dieſer Conſequenzen bewußt gewe-
ſen, denn die Aenderung des Unterrichtsſyſtems iſt der Einführung der Gewerbe-
freiheit viele Jahre vorausgegangen, und durch die Einführung der Realſchulen
in der ganzen Monarchie (früher beſt anden nur wenige Unter- und keine Ober-
Realſchulen) iſt eine junge Generation herangezogen die für die Ausbeutung der
Gewerbefreiheit vorgebildet und befähigt iſt. Daß man nicht bloß hier dem
Utilitätsprincip gehuldigt hat, beweiſen die Reformen im übrigen Schulwe-
ſen. Seit 1851 iſt für das Gymnaſialweſen ſehr viel gethan worden. Statt
der Claſſenlehrer ſind Fachlehrer eingeführt, das Studium der deutſchen, der
griechiſchen und der einſchläglichen Mutterſprachen wird eifrigſt ge-
fördert, in den exacten Wiſſenſchaften, der Naturgeſchichte, Phyſik, Mathe-
matik wird Unterricht ertheilt, der früher ganz fehlte, und ſchließlich ſind ſtatt
der alten Präfecten überall wirkliche Lehrer zu Directoren der Gymnaſien
ernannt worden. Man hat endlich begonnen auch das Univerſitätsweſen
nach deutſchem Muſter zu ordnen; ſelbſtändige philoſophiſche Facultäten ſind
errichtet, deutſche Lehrkräfte ſind herangezogen durch Einführung der Docen-
ten und der Collegiengelder, ſowie durch die freie Organiſation der Univerſi-
täts- und Facultätskörper — durch Wahl, ſtatt der früheren Ernennung der
Dekane und Rectoren — iſt die Baſis zu einem lebendigen, geſunden geiſti-
gen Leben gelegt. Die Lern- und Lehrfreiheit iſt namentlich auch durch Ab-
ſchaffung der Prüfungen und Einführung der Frequentationszeugniſſe in ſei-
nen Grundprincipien geſichert. Die Conſequenzen des Concordats haben
manchen kleinen Rückſchritt in dieſen Richtungen herbeigeführt, aber bekannt-
lich hat auch dieſes ſchon dem allmächtigen Geiſt der Zeit weichen müſſen.
Der Staat hat was er der römiſchen Kirche gewährt auch ſchon zum großen
Theil den andern Confeſſionen zugeſtanden. Die kirchlichen Verhältniſſe der
ungariſchen Proteſtanten ſind im liberalen Sinn geordnet, die Ordnung der-
ſelben in den deutſch-ſlaviſchen Provinzen, ſich ſtützend auf das allgemeine
Prieſterthum, das Synodal- und Presbyterialſyſtem, iſt bevorſtehend.
Freilich iſt die abſolute Parität noch nicht ausgeſprochen, aber ſie iſt un-
vermeidlich, ſie iſt eine nothwendige Folge der bereits factiſch und rechtlich be-
ſtehenden Zuſtände. Wir ſind in dieſer Beziehung durchaus Deutſcher, und
fragen bei den gegebenen Inſtitutionen vor allem danach, ob ſie entwickel-
bar, ob ſie darauf berechnet ſind, ſich dem Fortſchritt der bedingenden Ele-
mente ſyſtematiſch anzuſchließen. Niemand wird behaupten wollen daß das
kirchliche Leben im höhern Sinn unter den Proteſtanten Oeſterreichs früher
beſonders thätig geweſen. Durch das Concordat aufgerüttelt, hat eine
mäßige Action hingereicht im Verhältniß zu früher große Freiheiten zu erſtre-
ben, obwohl jene Action ſich keineswegs immer als eine legale und beſonnene
erwieſen hat. Wie viel leichter wird es ſeyn auf Grund der gewonnenen
Freiheiten die vollſtändige Parität zu erſtreben? Daß dieſe principiell feſtge-
ſtellt, daß ſie nicht bloß factiſch herbeigeführt, ſondern als Grundſatz ausge-
ſprochen werde, iſt eine Bedingung die nicht bloß durch die Entwicklung des
Deutſchthums im Innern nothwendig wird, ſondern welche eng zuſammen-
hängt mit den äußern Beziehungen Oeſterreichs. Die Glaubensfreiheit
wurzelt zu tief im innerſten Kern des deutſchen Lebens, ſie iſt ſo ſehr der
wahre Springquell unſerer geiſtigen Kraft, daß wir nimmer davon laſſen
könnten. Vergeſſen wir aber nicht daß im Reich dreißig Jahre lang der
Boden mit Blut getränkt ward, bis ſie errungen worden, daß vier Jahrhun-
derte kaum genügten um das formell Errungene auch wirklich lebendig zu
machen. Aber weil ſie im großen Ganzen es endlich geworden, darum wer-
den den Deutſchen in Oeſterreich die Deutſchen im Reich zu ſolchem Ziel ſtets
einig die Hand reichen. Die unbedingte Parität der Confeſſionen iſt ſo nicht
bloß eine innere, ſie iſt auch eine äußere Aufgabe für Oeſterreich, und darum
ihre Löſung eine abſolut gewiſſe. Und wenn die geiſtige Spannkraft in die-
ſer Richtung auch vorübergehend nachließe, der Fortſchritt ſcheint uns in die-
ſer Beziehung doch gewiß, weil er eine Conſequenz der deutſchen Bildung iſt,
und dieſe eine natürliche Folge des Reichthums, zu welchem Boden, Gewerbe-
und Verkehrsfreiheit, Freizügigkeit und Zolleinigung ꝛc. die Baſis liefern.
(Schluß folgt.)
Das niederrheiniſche Muſikfeſt.
* Düſſeldorf, 29 Mai.Auf der Durchreiſe begriffen, wohnte ich
geſtern der Aufführung des zweiten Tages des niederrheiniſchen Muſikfeſtes
bei. So ſchön und herzerhebend dieſes Feſt in ſeinem Geſammteindruck auch un-
läugbar iſt, ſo kann ich doch, was wenigſtens dieſen zweiten Tag betrifft,
nicht unbedingt und in allen Punkten in die Lobesfanfaren einſtimmen denen
man jetzt ſchon in den Blättern begegnet, und die nach jedem niederrheiniſchen
Muſikfeſt als unausbleibliche Zugabe dem Publicum geboten werden. Schon
das Local, das eigentlich nichts weiter iſt als eine bretterne, ſogar faſt ganz
ſchmuckloſe Bude, die etwa 1900 eng zuſammengezwängte Zuhörer faſſen
mag, iſt des Zuſammenwirkens ſolcher Tonmaſſen nicht würdig. Die Akuſtik
iſt eine ziemlich ſchlechte, indem die Töne durch die hölzernen Planken zu ſehr
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2021-08-16T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |