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Allgemeine Zeitung, Nr. 164, 12. Juni 1860.

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[Spaltenumbruch] politische Lage, der Handel und die Industrie schwerer als an andern Or-
ten darniederliegen. Die Seidenarbeiter die noch jung sind, ziehen sich aufs
flache Land zurück, und suchen sich ein besseres Handwerk, während die in
Jahren vorgerücktern, die das Handwerk nicht mehr wechseln können, Wohn-
zins und Brod nicht mehr erschwingen. Die Stadtbevölkerung hat abgenom-
men. Um dieß zu verheimlichen hat man die umliegenden Orte dazu geschla-
gen, darunter la Guillotiere mit 50,000 Seelen.

Italien.

Das Volk war benachrichtigt: der unter allen
verehrteste Crucifixus solle aus San Carlo in seine Kirche am Abhange des
capitolinischen Hügels zurückgetragen werden. Es geschah gestern Nach-
mittags in einem so langen, so feierlichen Umzuge wie man ihn nicht leicht
bei ähnlichen Anlässen sah. Militär, Abgeordnete klerikaler Brüderschaften,
Diener von Prälaten und Cardinälen, eine Gruppe mit dem Kreuz des
römischen Priesterseminars, die Zöglinge des römischen Collegiums, die Stu-
dierenden der Universität mit ihren geistlichen Obern, vier Brüderschaften des
Crucifixus, die Erzbruderschaft des Viaticums, wiederum drei Brüderschaften
und Capläne, die Zöglinge des deutsch-ungarischen Collegiums, des vaticani-
schen wie des römischen Seminars, Roms 54 Pfarrer, acht Gruppen von
Ordensgeistlichen, die Camerieri des Klerus, pästliche Ehrenkammerherren,
die Patres generales der geistlichen Orden, Hausprälaten Sr. Heiligkeit, Bi-
schöfe und Erzbischöfe, Cardinäle, schritten mit brennenden Kerzen dem Cru-
cifixus, welchen andere Brüderschaften und die schweizerische Leibwache um-
standen, voran, ihm nach zogen die Schwestern des heil. Joseph (Damen aus
den ersten Familien) mit Priestern, während eine fast zahllose Volksmenge
den Zug begleitete. So betet man in der Hauptstadt der katholischen Chri-
stenheit fort und fort um Frieden, während nah und fern aufs neue ein fre-
velhaftes Spiel mit eben diesem hohen Gut getrieben, und gegen der Ord-
nung und des Gesetzes heiliges Band Empörung und Bürgerkrieg heraufbe-
schworen wird. -- Italien ist mehr als je vom Annexionsfieber befallen;
aber der Begriff wird concreter. Neue Blätter entstehen in französischer
Sprache: Les nationalites in Turin, worin Italiener und Franzosen wenig
unterschieden werden, in Mailand L'Italie nouvelle. Das westliche Ligu-
rien und einige Theile des Fürstenthums Piemont, meint man, eigne sich zur
Annexion von Frankreich, ja jenes neue Italien soll französisch seyn, Gari-
baldi aus dem französisch gewordenen Nizza vernichtet die Herrschaft eines ita-
lienischen Fürsten auf Sicilien. -- Die Demonstrationen kehren wieder, wenn
auch vorerst noch schüchtern. Unter dem Aufruf zur Theilnahme an der
kirchlichen Feier des Erinnerungstags der Rückkehr Pius VII (24 Mai 1814)
fand man in mehreren Straßen geschrieben: Jeremias XI, 11. "deine
Hände sind mit Blut befleckt: ich verneine dir um was du mich bittest." --
Für die vollständige Kleidung und Bewaffnung des Militärs wird in Eile
fortgearbeitet, heute wurden 1000 neue Tornister ins Hauptdepot abgeliefert.
-- Der Papst hat drei Geistliche der Erzdiöcese Ollmütz ausgezeichnet: er
ernannte die Pfarrer Hampel und Schön zu überzähligen geheimen Kammer-
herren, den Pfarrer Nawratil zum Ehrenkammerherrn extra Urbem.

In der gestrigen Kammersitzung kam die Auf-
stellung der neuen Civilliste zur Verhandlung. Berichterstatter war Galeotti.
Er behandelte den delicaten Gegenstand mit vielem Geschick, und benützte ihn
zugleich dem Haus Savoyen Weihrauch zu streuen, indem er dessen Mangel
an Privatvermögen glorificirte. "Unter den vielen Ansprüchen" heißt es im
Bericht, "die das Haus Savoyen auf unsere Liebe und Verehrung hat, ist
dieser nicht der geringste daß es nach achthundertjähriger Herrschaft unter
allen regierenden Häusern Europa's das ärmste ist, weil Großmuth stets sein
Ruhm war. Die Geschichtschreiber sagen: dieser glorreiche Stamm habe
nie einen Tyrannen hervorgebracht. Ohne Gefahr zu laufen der Schmeichelei
beschuldigt zu werden, können wir hinzufügen daß man in der langen Reihen-
folge desselben nicht einmal einen geizigen Fürsten findet." Nachdem das
Terrain so vorbereitet war, schritt man ohne Discussion zur Abstimmung.
Die neue Civilliste wurde mit 204 gegen 4 Stimmen angenommen. Wie
ich Ihnen bereits berichtete, ist dieselbe auf 10,500,000 Fr. festgesetzt, so
daß, auf die Einwohner vertheilt, 74 Centimes auf den Kopf kommen,
welcher Maßstab auch in Belgien angenommen ist. Der Staat übernimmt
ferner die Direction und die damit verbundenen Lasten der kgl. Albertinischen
Akademie und der kgl. Pinakothek; ferner den Zahlungsrest des von Karl
Albert am 10 Dec. 1844 zu Frankfurt a M. abgeschlossenen Anlehens. --
Morgen kommt im Senat der Abtretungsvertrag zur Verhandlung, Cibrario
ist Berichterstatter. Der Bericht ist zu bedeutsam, und die Persönlichkeit des
Verfassers zu hervorragend, als daß ich nicht in einigen Zügen den Gedanken-
gang des berühmten Senators, Geschichtschreibers und Nationalökonomen
wiederzugeben versuchen sollte. "Zweck des Vertrags" ist nach dem Verfas-
ser "Frankreich uns dadurch mehr und mehr geneigt zu machen daß wir ihm
die Provinzen zurückstellen die es dem großen Princip der Nationalität zu-
folge mehr für französisch als für italienisch hält; dem hochherzigen Verbün-
deten einen Beweis unserer Dankbarkeit dafür zu geben daß er uns von einer
Invasion befreit hat, daß er uns half Italien zu Stande zu bringen, und daß
er durch Aufrechthaltung des Princips der Nichtintervention verhindert daß
das heilige Werk nicht zerstört oder zertrümmert werde. Zweck des Vertrags
ist der Eigenliebe Frankreichs zu schmeicheln, seiner und unserer Politik durch
einen neuen und feierlichen Bruch der Verträge von 1815 nützlich zu seyn --
Berträge welche nach einem Triumph der Völker, die man durch trügerische
Versprechungen von Freiheit und Unabhängigkeit getäuscht hatte, zum Nach-
theil der Völker waren aufgestellt worden; Zweck des Vertrags ist endlich
[Spaltenumbruch] Frankreich solidarisch mit den hochherzigen Gesinnungen zu verknüpfen die
den Kaiser der Franzosen bewegen seine schützende Hand über Italien mit
einer Weihegewalt auszudehnen von der die Geschichte nur wenige Beispiele
zählt.... Der Vertrag ist aber nicht allein ersprießlich, sondern nothwendig
und unvermeidlich. Könnten wir inmitten der glorreichen, aber gefährlichen
Wehen der italienischen Wiedergeburt, inmitten so vieler Feinde und Böswilli-
gen die uns umgeben, inmitten so vieler Schlingen die uns von allen Seiten
gelegt werden, uns mit Vertrauen auf unsere eigenen Kräfte verlassen? Ist
es nicht vielmehr nothwendig die französische Allianz zu pflegen und zu befe-
stigen? Die Frage so gestellt, kann die Antwort nicht anders lauten als: die
französische Allianz ist unumgänglich nothwendig. Diese Allianz ist aber nicht
gesichert, wenn wir Frankreich den Ersatz verweigern den es kraft desselben
Princips der Nationalität verlangt welchem wir zusammen auf dem Schlacht-
felde zum Sieg verhalfen." Nachdem der ehemalige Minister zugestanden hat
daß es in der Politik keine Ehrlichkeit gibt, und die Befürchtungen oft Vor-
aussehungen sind, so glaubt er dennoch, lächerlich genug, daß der zweite De-
cember so ehrlich ist von dieser Abtretung keine weitern Folgen zu ziehen.
Cibrario sucht hierauf nachzuweisen daß Nizza französisch, und nicht italienisch,
sey. Seine Forscherweisheit führt ihn hierbei bis in die dunkle Vorzeit zu-
rück, worin er entdeckt daß Nizza wie Marseille griechische Colonien waren.
Marseille wurde französisch, ergo muß Nizza auch französisch werden. Wir
müssen gestehen, wir hätten von Cibrario mehr erwartet; freilich kann man
aus saurem Brod keine süße Suppe kochen; allein ein geschickter Koch hätte
sie besser zu würzen vermocht. So viel bleibt gewiß: stellt man das Princip
der Dankbarkeit für geleistete Dienste auf, und zahlt diesen Erkenntlichkeits-
tribut mit Provinzen, so wird durch die bewiesene Nothwendigkeit neuer Dienst-
leistungen von Seite Frankreichs Piemont auch zu neuen Erkenntlichkeiten ver-
pflichtet seyn, d. h. die Allianz Frankreichs mit Piemont ist auf den Satz zu
reduciren den die Juristen mit der Formel bezeichnen: do ut des.

Neueste Posten.

Der in der zweiten Sitzung des verstärkten Reichs-
raths auf Antrag des Grafen Clam-Martinitz mit überwiegender Stimmen-
mehrheit gefaßte Beschluß: an Se. Majestät die Bitte zu richten zu gestatten
daß für die Berathung des Staatshaushalts ein zahlreicheres Comite als ein
aus sieben Mitgliedern bestehendes, wie die Geschäftsordnung vorschreibt, ge-
bildet werde, hat keineswegs, wie man vielleicht in der Ferne glauben könnte,
eine bloß formale Bedeutung. Man wird die Tragweite dieses alsbald aller-
höchst genehmigten Beschlusses, welcher eine Abweichung der aufgestellten Ge-
schäftsordnung involvirt, nicht unterschätzen, wenn man berücksichtigt daß die
Schöpfung dieses Generalcomite's, in welchem naturgemäß alle Elemente
und Schattirungen des Reichsraths vertreten seyn sollen, und nach der inzwi-
schen erfolgten Wahl auch vertreten sind, auf der vom Hrn. Antragsteller
lichtvoll entwickelten principiellen Anschauung beruht: wie die wichtigste Auf-
gabe der hohen Versammlung dahin gehe daß dem Zustand der Zerrüttung
des Staatshaushalts, welcher nach innen und außen so lähmend wirkt, ein
Ende gemacht werden müsse, und daß zu diesem Behuf es nicht genüge die
Ziffern der Voranschläge zu prüfen, in dieser oder jener Position Ersparungen
vorzuschlagen, sondern daß die Wurzeln und Keime des Uebels aufzusuchen,
dieses von innen heraus zu heilen sey. Und in der That: die Ziffern mögen
über die Symptome der Krankheit aufklären, aber eine noch so richtige Dia-
gnose ist noch nicht die Heilung selbst. Die auf das Ganze und Principielle
gehende Prüfung durch das Hauptcomite ist also das Primäre, die Beschäfti-
gung mit den einzelnen Ziffern und Zahlen durch die aus dem Hauptcomite
gebildeten Filialen, welche für jenes das Material vorbereiten, das Secundäre.
Ein Comite von sieben Personen würde schwerlich mehr geleistet haben als
eine Enquetecommission; ein großes Budgetcomite dagegen, welches die geisti-
gen Potenzen des Reichsraths umfaßt, vermag darüber hinaus das ganze
organische Staatsleben ins Auge zu fassen, und darauf eben kommt es an.
Man erkennt also daß mit jenem Voranschlag der Reichsrath eine äußerst
wichtige Initiative ergriffen hat, und da dieselbe von den aristokratischen Elemen-
ten der Versammlung ausgegangen und durchgeführt ist, so dürfte damit ein Fin-
gerzeig gegeben seyn was in der weiteren Entwicklung der den Reichsrath beschäf-
tigenden Angelegenheiten von den Führern des hohen Adels zu erwarten ist.
Wenn dieselben auf diesem freisinnigen Wege mit Besonnenheit vorangehen,
so findet an ihnen die Staatsregierung eine kräftige Stütze, gleichwie die
öffentliche Meinung mit Hoffnung und Vertrauen die Thätigkeit des Reichs-
raths begrüßen kann. Die mit erfreulicher Raschheit und Vollständigkeit ver-
öffentlichten Sitzungsberichte zeigen welch ein frischer, freimüthiger und nicht
minder tactvoller Geist die Verhandlungen durchweht, und wir ersehen aus
den großen Wiener Organen aller Schattirungen daß man dieß begreift. Es
liegt nahe anzunehmen daß auch dem demnächst erscheinenden Organ des
überwiegenden Theils unseres großen grundbesitzenden Adels, durch die Stel-
lung welche derselbe im Reichsrath eingenommen, der Boden sich aufs gün-
stigste bereitet. So viel wenigstens dürfte unbezweifelt seyn daß diese soge-
nannte "Adelszeitung," welche man mit solcher Bezeichnung von vornherein
zu verurtheilen vermeinte, ihren Namen "Vaterland" mit allen Rechten und
Ehren führen wird.



Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges.

Verlag der J. G. Cotta'schen-Buchhandlung.

[Spaltenumbruch] politiſche Lage, der Handel und die Induſtrie ſchwerer als an andern Or-
ten darniederliegen. Die Seidenarbeiter die noch jung ſind, ziehen ſich aufs
flache Land zurück, und ſuchen ſich ein beſſeres Handwerk, während die in
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zins und Brod nicht mehr erſchwingen. Die Stadtbevölkerung hat abgenom-
men. Um dieß zu verheimlichen hat man die umliegenden Orte dazu geſchla-
gen, darunter la Guillotière mit 50,000 Seelen.

Italien.

Das Volk war benachrichtigt: der unter allen
verehrteſte Crucifixus ſolle aus San Carlo in ſeine Kirche am Abhange des
capitoliniſchen Hügels zurückgetragen werden. Es geſchah geſtern Nach-
mittags in einem ſo langen, ſo feierlichen Umzuge wie man ihn nicht leicht
bei ähnlichen Anläſſen ſah. Militär, Abgeordnete klerikaler Brüderſchaften,
Diener von Prälaten und Cardinälen, eine Gruppe mit dem Kreuz des
römiſchen Prieſterſeminars, die Zöglinge des römiſchen Collegiums, die Stu-
dierenden der Univerſität mit ihren geiſtlichen Obern, vier Brüderſchaften des
Crucifixus, die Erzbruderſchaft des Viaticums, wiederum drei Brüderſchaften
und Capläne, die Zöglinge des deutſch-ungariſchen Collegiums, des vaticani-
ſchen wie des römiſchen Seminars, Roms 54 Pfarrer, acht Gruppen von
Ordensgeiſtlichen, die Camerieri des Klerus, päſtliche Ehrenkammerherren,
die Patres generales der geiſtlichen Orden, Hausprälaten Sr. Heiligkeit, Bi-
ſchöfe und Erzbiſchöfe, Cardinäle, ſchritten mit brennenden Kerzen dem Cru-
cifixus, welchen andere Brüderſchaften und die ſchweizeriſche Leibwache um-
ſtanden, voran, ihm nach zogen die Schweſtern des heil. Joſeph (Damen aus
den erſten Familien) mit Prieſtern, während eine faſt zahlloſe Volksmenge
den Zug begleitete. So betet man in der Hauptſtadt der katholiſchen Chri-
ſtenheit fort und fort um Frieden, während nah und fern aufs neue ein fre-
velhaftes Spiel mit eben dieſem hohen Gut getrieben, und gegen der Ord-
nung und des Geſetzes heiliges Band Empörung und Bürgerkrieg heraufbe-
ſchworen wird. — Italien iſt mehr als je vom Annexionsfieber befallen;
aber der Begriff wird concreter. Neue Blätter entſtehen in franzöſiſcher
Sprache: Les nationalités in Turin, worin Italiener und Franzoſen wenig
unterſchieden werden, in Mailand L’Italie nouvelle. Das weſtliche Ligu-
rien und einige Theile des Fürſtenthums Piemont, meint man, eigne ſich zur
Annexion von Frankreich, ja jenes neue Italien ſoll franzöſiſch ſeyn, Gari-
baldi aus dem franzöſiſch gewordenen Nizza vernichtet die Herrſchaft eines ita-
lieniſchen Fürſten auf Sicilien. — Die Demonſtrationen kehren wieder, wenn
auch vorerſt noch ſchüchtern. Unter dem Aufruf zur Theilnahme an der
kirchlichen Feier des Erinnerungstags der Rückkehr Pius VII (24 Mai 1814)
fand man in mehreren Straßen geſchrieben: Jeremias XI, 11. „deine
Hände ſind mit Blut befleckt: ich verneine dir um was du mich bitteſt.“ —
Für die vollſtändige Kleidung und Bewaffnung des Militärs wird in Eile
fortgearbeitet, heute wurden 1000 neue Torniſter ins Hauptdepot abgeliefert.
— Der Papſt hat drei Geiſtliche der Erzdiöceſe Ollmütz ausgezeichnet: er
ernannte die Pfarrer Hampel und Schön zu überzähligen geheimen Kammer-
herren, den Pfarrer Nawratil zum Ehrenkammerherrn extra Urbem.

In der geſtrigen Kammerſitzung kam die Auf-
ſtellung der neuen Civilliſte zur Verhandlung. Berichterſtatter war Galeotti.
Er behandelte den delicaten Gegenſtand mit vielem Geſchick, und benützte ihn
zugleich dem Haus Savoyen Weihrauch zu ſtreuen, indem er deſſen Mangel
an Privatvermögen glorificirte. „Unter den vielen Anſprüchen“ heißt es im
Bericht, „die das Haus Savoyen auf unſere Liebe und Verehrung hat, iſt
dieſer nicht der geringſte daß es nach achthundertjähriger Herrſchaft unter
allen regierenden Häuſern Europa’s das ärmſte iſt, weil Großmuth ſtets ſein
Ruhm war. Die Geſchichtſchreiber ſagen: dieſer glorreiche Stamm habe
nie einen Tyrannen hervorgebracht. Ohne Gefahr zu laufen der Schmeichelei
beſchuldigt zu werden, können wir hinzufügen daß man in der langen Reihen-
folge desſelben nicht einmal einen geizigen Fürſten findet.“ Nachdem das
Terrain ſo vorbereitet war, ſchritt man ohne Discuſſion zur Abſtimmung.
Die neue Civilliſte wurde mit 204 gegen 4 Stimmen angenommen. Wie
ich Ihnen bereits berichtete, iſt dieſelbe auf 10,500,000 Fr. feſtgeſetzt, ſo
daß, auf die Einwohner vertheilt, 74 Centimes auf den Kopf kommen,
welcher Maßſtab auch in Belgien angenommen iſt. Der Staat übernimmt
ferner die Direction und die damit verbundenen Laſten der kgl. Albertiniſchen
Akademie und der kgl. Pinakothek; ferner den Zahlungsreſt des von Karl
Albert am 10 Dec. 1844 zu Frankfurt a M. abgeſchloſſenen Anlehens. —
Morgen kommt im Senat der Abtretungsvertrag zur Verhandlung, Cibrario
iſt Berichterſtatter. Der Bericht iſt zu bedeutſam, und die Perſönlichkeit des
Verfaſſers zu hervorragend, als daß ich nicht in einigen Zügen den Gedanken-
gang des berühmten Senators, Geſchichtſchreibers und Nationalökonomen
wiederzugeben verſuchen ſollte. „Zweck des Vertrags“ iſt nach dem Verfaſ-
ſer „Frankreich uns dadurch mehr und mehr geneigt zu machen daß wir ihm
die Provinzen zurückſtellen die es dem großen Princip der Nationalität zu-
folge mehr für franzöſiſch als für italieniſch hält; dem hochherzigen Verbün-
deten einen Beweis unſerer Dankbarkeit dafür zu geben daß er uns von einer
Invaſion befreit hat, daß er uns half Italien zu Stande zu bringen, und daß
er durch Aufrechthaltung des Princips der Nichtintervention verhindert daß
das heilige Werk nicht zerſtört oder zertrümmert werde. Zweck des Vertrags
iſt der Eigenliebe Frankreichs zu ſchmeicheln, ſeiner und unſerer Politik durch
einen neuen und feierlichen Bruch der Verträge von 1815 nützlich zu ſeyn —
Berträge welche nach einem Triumph der Völker, die man durch trügeriſche
Verſprechungen von Freiheit und Unabhängigkeit getäuſcht hatte, zum Nach-
theil der Völker waren aufgeſtellt worden; Zweck des Vertrags iſt endlich
[Spaltenumbruch] Frankreich ſolidariſch mit den hochherzigen Geſinnungen zu verknüpfen die
den Kaiſer der Franzoſen bewegen ſeine ſchützende Hand über Italien mit
einer Weihegewalt auszudehnen von der die Geſchichte nur wenige Beiſpiele
zählt.... Der Vertrag iſt aber nicht allein erſprießlich, ſondern nothwendig
und unvermeidlich. Könnten wir inmitten der glorreichen, aber gefährlichen
Wehen der italieniſchen Wiedergeburt, inmitten ſo vieler Feinde und Böswilli-
gen die uns umgeben, inmitten ſo vieler Schlingen die uns von allen Seiten
gelegt werden, uns mit Vertrauen auf unſere eigenen Kräfte verlaſſen? Iſt
es nicht vielmehr nothwendig die franzöſiſche Allianz zu pflegen und zu befe-
ſtigen? Die Frage ſo geſtellt, kann die Antwort nicht anders lauten als: die
franzöſiſche Allianz iſt unumgänglich nothwendig. Dieſe Allianz iſt aber nicht
geſichert, wenn wir Frankreich den Erſatz verweigern den es kraft desſelben
Princips der Nationalität verlangt welchem wir zuſammen auf dem Schlacht-
felde zum Sieg verhalfen.“ Nachdem der ehemalige Miniſter zugeſtanden hat
daß es in der Politik keine Ehrlichkeit gibt, und die Befürchtungen oft Vor-
ausſehungen ſind, ſo glaubt er dennoch, lächerlich genug, daß der zweite De-
cember ſo ehrlich iſt von dieſer Abtretung keine weitern Folgen zu ziehen.
Cibrario ſucht hierauf nachzuweiſen daß Nizza franzöſiſch, und nicht italieniſch,
ſey. Seine Forſcherweisheit führt ihn hierbei bis in die dunkle Vorzeit zu-
rück, worin er entdeckt daß Nizza wie Marſeille griechiſche Colonien waren.
Marſeille wurde franzöſiſch, ergo muß Nizza auch franzöſiſch werden. Wir
müſſen geſtehen, wir hätten von Cibrario mehr erwartet; freilich kann man
aus ſaurem Brod keine ſüße Suppe kochen; allein ein geſchickter Koch hätte
ſie beſſer zu würzen vermocht. So viel bleibt gewiß: ſtellt man das Princip
der Dankbarkeit für geleiſtete Dienſte auf, und zahlt dieſen Erkenntlichkeits-
tribut mit Provinzen, ſo wird durch die bewieſene Nothwendigkeit neuer Dienſt-
leiſtungen von Seite Frankreichs Piemont auch zu neuen Erkenntlichkeiten ver-
pflichtet ſeyn, d. h. die Allianz Frankreichs mit Piemont iſt auf den Satz zu
reduciren den die Juriſten mit der Formel bezeichnen: do ut des.

Neueſte Poſten.

Der in der zweiten Sitzung des verſtärkten Reichs-
raths auf Antrag des Grafen Clam-Martinitz mit überwiegender Stimmen-
mehrheit gefaßte Beſchluß: an Se. Majeſtät die Bitte zu richten zu geſtatten
daß für die Berathung des Staatshaushalts ein zahlreicheres Comité als ein
aus ſieben Mitgliedern beſtehendes, wie die Geſchäftsordnung vorſchreibt, ge-
bildet werde, hat keineswegs, wie man vielleicht in der Ferne glauben könnte,
eine bloß formale Bedeutung. Man wird die Tragweite dieſes alsbald aller-
höchſt genehmigten Beſchluſſes, welcher eine Abweichung der aufgeſtellten Ge-
ſchäftsordnung involvirt, nicht unterſchätzen, wenn man berückſichtigt daß die
Schöpfung dieſes Generalcomité’s, in welchem naturgemäß alle Elemente
und Schattirungen des Reichsraths vertreten ſeyn ſollen, und nach der inzwi-
ſchen erfolgten Wahl auch vertreten ſind, auf der vom Hrn. Antragſteller
lichtvoll entwickelten principiellen Anſchauung beruht: wie die wichtigſte Auf-
gabe der hohen Verſammlung dahin gehe daß dem Zuſtand der Zerrüttung
des Staatshaushalts, welcher nach innen und außen ſo lähmend wirkt, ein
Ende gemacht werden müſſe, und daß zu dieſem Behuf es nicht genüge die
Ziffern der Voranſchläge zu prüfen, in dieſer oder jener Poſition Erſparungen
vorzuſchlagen, ſondern daß die Wurzeln und Keime des Uebels aufzuſuchen,
dieſes von innen heraus zu heilen ſey. Und in der That: die Ziffern mögen
über die Symptome der Krankheit aufklären, aber eine noch ſo richtige Dia-
gnoſe iſt noch nicht die Heilung ſelbſt. Die auf das Ganze und Principielle
gehende Prüfung durch das Hauptcomité iſt alſo das Primäre, die Beſchäfti-
gung mit den einzelnen Ziffern und Zahlen durch die aus dem Hauptcomité
gebildeten Filialen, welche für jenes das Material vorbereiten, das Secundäre.
Ein Comité von ſieben Perſonen würde ſchwerlich mehr geleiſtet haben als
eine Enquêtecommiſſion; ein großes Budgetcomité dagegen, welches die geiſti-
gen Potenzen des Reichsraths umfaßt, vermag darüber hinaus das ganze
organiſche Staatsleben ins Auge zu faſſen, und darauf eben kommt es an.
Man erkennt alſo daß mit jenem Voranſchlag der Reichsrath eine äußerſt
wichtige Initiative ergriffen hat, und da dieſelbe von den ariſtokratiſchen Elemen-
ten der Verſammlung ausgegangen und durchgeführt iſt, ſo dürfte damit ein Fin-
gerzeig gegeben ſeyn was in der weiteren Entwicklung der den Reichsrath beſchäf-
tigenden Angelegenheiten von den Führern des hohen Adels zu erwarten iſt.
Wenn dieſelben auf dieſem freiſinnigen Wege mit Beſonnenheit vorangehen,
ſo findet an ihnen die Staatsregierung eine kräftige Stütze, gleichwie die
öffentliche Meinung mit Hoffnung und Vertrauen die Thätigkeit des Reichs-
raths begrüßen kann. Die mit erfreulicher Raſchheit und Vollſtändigkeit ver-
öffentlichten Sitzungsberichte zeigen welch ein friſcher, freimüthiger und nicht
minder tactvoller Geiſt die Verhandlungen durchweht, und wir erſehen aus
den großen Wiener Organen aller Schattirungen daß man dieß begreift. Es
liegt nahe anzunehmen daß auch dem demnächſt erſcheinenden Organ des
überwiegenden Theils unſeres großen grundbeſitzenden Adels, durch die Stel-
lung welche derſelbe im Reichsrath eingenommen, der Boden ſich aufs gün-
ſtigſte bereitet. So viel wenigſtens dürfte unbezweifelt ſeyn daß dieſe ſoge-
nannte „Adelszeitung,“ welche man mit ſolcher Bezeichnung von vornherein
zu verurtheilen vermeinte, ihren Namen „Vaterland“ mit allen Rechten und
Ehren führen wird.



Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges.

Verlag der J. G. Cotta’ſchen-Buchhandlung.

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[2736/0008] politiſche Lage, der Handel und die Induſtrie ſchwerer als an andern Or- ten darniederliegen. Die Seidenarbeiter die noch jung ſind, ziehen ſich aufs flache Land zurück, und ſuchen ſich ein beſſeres Handwerk, während die in Jahren vorgerücktern, die das Handwerk nicht mehr wechſeln können, Wohn- zins und Brod nicht mehr erſchwingen. Die Stadtbevölkerung hat abgenom- men. Um dieß zu verheimlichen hat man die umliegenden Orte dazu geſchla- gen, darunter la Guillotière mit 50,000 Seelen. Italien. = Rom, 4 Jun. Das Volk war benachrichtigt: der unter allen verehrteſte Crucifixus ſolle aus San Carlo in ſeine Kirche am Abhange des capitoliniſchen Hügels zurückgetragen werden. Es geſchah geſtern Nach- mittags in einem ſo langen, ſo feierlichen Umzuge wie man ihn nicht leicht bei ähnlichen Anläſſen ſah. Militär, Abgeordnete klerikaler Brüderſchaften, Diener von Prälaten und Cardinälen, eine Gruppe mit dem Kreuz des römiſchen Prieſterſeminars, die Zöglinge des römiſchen Collegiums, die Stu- dierenden der Univerſität mit ihren geiſtlichen Obern, vier Brüderſchaften des Crucifixus, die Erzbruderſchaft des Viaticums, wiederum drei Brüderſchaften und Capläne, die Zöglinge des deutſch-ungariſchen Collegiums, des vaticani- ſchen wie des römiſchen Seminars, Roms 54 Pfarrer, acht Gruppen von Ordensgeiſtlichen, die Camerieri des Klerus, päſtliche Ehrenkammerherren, die Patres generales der geiſtlichen Orden, Hausprälaten Sr. Heiligkeit, Bi- ſchöfe und Erzbiſchöfe, Cardinäle, ſchritten mit brennenden Kerzen dem Cru- cifixus, welchen andere Brüderſchaften und die ſchweizeriſche Leibwache um- ſtanden, voran, ihm nach zogen die Schweſtern des heil. Joſeph (Damen aus den erſten Familien) mit Prieſtern, während eine faſt zahlloſe Volksmenge den Zug begleitete. So betet man in der Hauptſtadt der katholiſchen Chri- ſtenheit fort und fort um Frieden, während nah und fern aufs neue ein fre- velhaftes Spiel mit eben dieſem hohen Gut getrieben, und gegen der Ord- nung und des Geſetzes heiliges Band Empörung und Bürgerkrieg heraufbe- ſchworen wird. — Italien iſt mehr als je vom Annexionsfieber befallen; aber der Begriff wird concreter. Neue Blätter entſtehen in franzöſiſcher Sprache: Les nationalités in Turin, worin Italiener und Franzoſen wenig unterſchieden werden, in Mailand L’Italie nouvelle. Das weſtliche Ligu- rien und einige Theile des Fürſtenthums Piemont, meint man, eigne ſich zur Annexion von Frankreich, ja jenes neue Italien ſoll franzöſiſch ſeyn, Gari- baldi aus dem franzöſiſch gewordenen Nizza vernichtet die Herrſchaft eines ita- lieniſchen Fürſten auf Sicilien. — Die Demonſtrationen kehren wieder, wenn auch vorerſt noch ſchüchtern. Unter dem Aufruf zur Theilnahme an der kirchlichen Feier des Erinnerungstags der Rückkehr Pius VII (24 Mai 1814) fand man in mehreren Straßen geſchrieben: Jeremias XI, 11. „deine Hände ſind mit Blut befleckt: ich verneine dir um was du mich bitteſt.“ — Für die vollſtändige Kleidung und Bewaffnung des Militärs wird in Eile fortgearbeitet, heute wurden 1000 neue Torniſter ins Hauptdepot abgeliefert. — Der Papſt hat drei Geiſtliche der Erzdiöceſe Ollmütz ausgezeichnet: er ernannte die Pfarrer Hampel und Schön zu überzähligen geheimen Kammer- herren, den Pfarrer Nawratil zum Ehrenkammerherrn extra Urbem. ↓ Turin, 7 Jun. In der geſtrigen Kammerſitzung kam die Auf- ſtellung der neuen Civilliſte zur Verhandlung. Berichterſtatter war Galeotti. Er behandelte den delicaten Gegenſtand mit vielem Geſchick, und benützte ihn zugleich dem Haus Savoyen Weihrauch zu ſtreuen, indem er deſſen Mangel an Privatvermögen glorificirte. „Unter den vielen Anſprüchen“ heißt es im Bericht, „die das Haus Savoyen auf unſere Liebe und Verehrung hat, iſt dieſer nicht der geringſte daß es nach achthundertjähriger Herrſchaft unter allen regierenden Häuſern Europa’s das ärmſte iſt, weil Großmuth ſtets ſein Ruhm war. Die Geſchichtſchreiber ſagen: dieſer glorreiche Stamm habe nie einen Tyrannen hervorgebracht. Ohne Gefahr zu laufen der Schmeichelei beſchuldigt zu werden, können wir hinzufügen daß man in der langen Reihen- folge desſelben nicht einmal einen geizigen Fürſten findet.“ Nachdem das Terrain ſo vorbereitet war, ſchritt man ohne Discuſſion zur Abſtimmung. Die neue Civilliſte wurde mit 204 gegen 4 Stimmen angenommen. Wie ich Ihnen bereits berichtete, iſt dieſelbe auf 10,500,000 Fr. feſtgeſetzt, ſo daß, auf die Einwohner vertheilt, 74 Centimes auf den Kopf kommen, welcher Maßſtab auch in Belgien angenommen iſt. Der Staat übernimmt ferner die Direction und die damit verbundenen Laſten der kgl. Albertiniſchen Akademie und der kgl. Pinakothek; ferner den Zahlungsreſt des von Karl Albert am 10 Dec. 1844 zu Frankfurt a M. abgeſchloſſenen Anlehens. — Morgen kommt im Senat der Abtretungsvertrag zur Verhandlung, Cibrario iſt Berichterſtatter. Der Bericht iſt zu bedeutſam, und die Perſönlichkeit des Verfaſſers zu hervorragend, als daß ich nicht in einigen Zügen den Gedanken- gang des berühmten Senators, Geſchichtſchreibers und Nationalökonomen wiederzugeben verſuchen ſollte. „Zweck des Vertrags“ iſt nach dem Verfaſ- ſer „Frankreich uns dadurch mehr und mehr geneigt zu machen daß wir ihm die Provinzen zurückſtellen die es dem großen Princip der Nationalität zu- folge mehr für franzöſiſch als für italieniſch hält; dem hochherzigen Verbün- deten einen Beweis unſerer Dankbarkeit dafür zu geben daß er uns von einer Invaſion befreit hat, daß er uns half Italien zu Stande zu bringen, und daß er durch Aufrechthaltung des Princips der Nichtintervention verhindert daß das heilige Werk nicht zerſtört oder zertrümmert werde. Zweck des Vertrags iſt der Eigenliebe Frankreichs zu ſchmeicheln, ſeiner und unſerer Politik durch einen neuen und feierlichen Bruch der Verträge von 1815 nützlich zu ſeyn — Berträge welche nach einem Triumph der Völker, die man durch trügeriſche Verſprechungen von Freiheit und Unabhängigkeit getäuſcht hatte, zum Nach- theil der Völker waren aufgeſtellt worden; Zweck des Vertrags iſt endlich Frankreich ſolidariſch mit den hochherzigen Geſinnungen zu verknüpfen die den Kaiſer der Franzoſen bewegen ſeine ſchützende Hand über Italien mit einer Weihegewalt auszudehnen von der die Geſchichte nur wenige Beiſpiele zählt.... Der Vertrag iſt aber nicht allein erſprießlich, ſondern nothwendig und unvermeidlich. Könnten wir inmitten der glorreichen, aber gefährlichen Wehen der italieniſchen Wiedergeburt, inmitten ſo vieler Feinde und Böswilli- gen die uns umgeben, inmitten ſo vieler Schlingen die uns von allen Seiten gelegt werden, uns mit Vertrauen auf unſere eigenen Kräfte verlaſſen? 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Wir müſſen geſtehen, wir hätten von Cibrario mehr erwartet; freilich kann man aus ſaurem Brod keine ſüße Suppe kochen; allein ein geſchickter Koch hätte ſie beſſer zu würzen vermocht. So viel bleibt gewiß: ſtellt man das Princip der Dankbarkeit für geleiſtete Dienſte auf, und zahlt dieſen Erkenntlichkeits- tribut mit Provinzen, ſo wird durch die bewieſene Nothwendigkeit neuer Dienſt- leiſtungen von Seite Frankreichs Piemont auch zu neuen Erkenntlichkeiten ver- pflichtet ſeyn, d. h. die Allianz Frankreichs mit Piemont iſt auf den Satz zu reduciren den die Juriſten mit der Formel bezeichnen: do ut des. Neueſte Poſten. *† Wien, 9 Jun. Der in der zweiten Sitzung des verſtärkten Reichs- raths auf Antrag des Grafen Clam-Martinitz mit überwiegender Stimmen- mehrheit gefaßte Beſchluß: an Se. Majeſtät die Bitte zu richten zu geſtatten daß für die Berathung des Staatshaushalts ein zahlreicheres Comité als ein aus ſieben Mitgliedern beſtehendes, wie die Geſchäftsordnung vorſchreibt, ge- bildet werde, hat keineswegs, wie man vielleicht in der Ferne glauben könnte, eine bloß formale Bedeutung. Man wird die Tragweite dieſes alsbald aller- höchſt genehmigten Beſchluſſes, welcher eine Abweichung der aufgeſtellten Ge- ſchäftsordnung involvirt, nicht unterſchätzen, wenn man berückſichtigt daß die Schöpfung dieſes Generalcomité’s, in welchem naturgemäß alle Elemente und Schattirungen des Reichsraths vertreten ſeyn ſollen, und nach der inzwi- ſchen erfolgten Wahl auch vertreten ſind, auf der vom Hrn. Antragſteller lichtvoll entwickelten principiellen Anſchauung beruht: wie die wichtigſte Auf- gabe der hohen Verſammlung dahin gehe daß dem Zuſtand der Zerrüttung des Staatshaushalts, welcher nach innen und außen ſo lähmend wirkt, ein Ende gemacht werden müſſe, und daß zu dieſem Behuf es nicht genüge die Ziffern der Voranſchläge zu prüfen, in dieſer oder jener Poſition Erſparungen vorzuſchlagen, ſondern daß die Wurzeln und Keime des Uebels aufzuſuchen, dieſes von innen heraus zu heilen ſey. Und in der That: die Ziffern mögen über die Symptome der Krankheit aufklären, aber eine noch ſo richtige Dia- gnoſe iſt noch nicht die Heilung ſelbſt. Die auf das Ganze und Principielle gehende Prüfung durch das Hauptcomité iſt alſo das Primäre, die Beſchäfti- gung mit den einzelnen Ziffern und Zahlen durch die aus dem Hauptcomité gebildeten Filialen, welche für jenes das Material vorbereiten, das Secundäre. Ein Comité von ſieben Perſonen würde ſchwerlich mehr geleiſtet haben als eine Enquêtecommiſſion; ein großes Budgetcomité dagegen, welches die geiſti- gen Potenzen des Reichsraths umfaßt, vermag darüber hinaus das ganze organiſche Staatsleben ins Auge zu faſſen, und darauf eben kommt es an. Man erkennt alſo daß mit jenem Voranſchlag der Reichsrath eine äußerſt wichtige Initiative ergriffen hat, und da dieſelbe von den ariſtokratiſchen Elemen- ten der Verſammlung ausgegangen und durchgeführt iſt, ſo dürfte damit ein Fin- gerzeig gegeben ſeyn was in der weiteren Entwicklung der den Reichsrath beſchäf- tigenden Angelegenheiten von den Führern des hohen Adels zu erwarten iſt. Wenn dieſelben auf dieſem freiſinnigen Wege mit Beſonnenheit vorangehen, ſo findet an ihnen die Staatsregierung eine kräftige Stütze, gleichwie die öffentliche Meinung mit Hoffnung und Vertrauen die Thätigkeit des Reichs- raths begrüßen kann. Die mit erfreulicher Raſchheit und Vollſtändigkeit ver- öffentlichten Sitzungsberichte zeigen welch ein friſcher, freimüthiger und nicht minder tactvoller Geiſt die Verhandlungen durchweht, und wir erſehen aus den großen Wiener Organen aller Schattirungen daß man dieß begreift. Es liegt nahe anzunehmen daß auch dem demnächſt erſcheinenden Organ des überwiegenden Theils unſeres großen grundbeſitzenden Adels, durch die Stel- lung welche derſelbe im Reichsrath eingenommen, der Boden ſich aufs gün- ſtigſte bereitet. So viel wenigſtens dürfte unbezweifelt ſeyn daß dieſe ſoge- nannte „Adelszeitung,“ welche man mit ſolcher Bezeichnung von vornherein zu verurtheilen vermeinte, ihren Namen „Vaterland“ mit allen Rechten und Ehren führen wird. Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges. Verlag der J. G. Cotta’ſchen-Buchhandlung.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 164, 12. Juni 1860, S. 2736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine164_1860/8>, abgerufen am 01.11.2024.