Allgemeine Zeitung, Nr. 166, 14. Juni 1860.[Spaltenumbruch]
Sicherheit einige Mäßigung schuldig zu seyn, indem sie, gegen ihre Drohung x Turin, 10 Jun. Diese Woche schifften sich in Genua wieder # Aus Nordsavoyen, 9 Jun. Annecy und mancher Hochgestellte m Mailand, 5 Jun. Die Verhaftungen der Welt- sowohl als Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges. Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. [Spaltenumbruch]
Sicherheit einige Mäßigung ſchuldig zu ſeyn, indem ſie, gegen ihre Drohung × Turin, 10 Jun. Dieſe Woche ſchifften ſich in Genua wieder □ Aus Nordſavoyen, 9 Jun. Annecy und mancher Hochgeſtellte ɱ Mailand, 5 Jun. Die Verhaftungen der Welt- ſowohl als Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <p><pb facs="#f0008" n="2768"/><cb/> Sicherheit einige Mäßigung ſchuldig zu ſeyn, indem ſie, gegen ihre Drohung<lb/> und gegen das Geſetz, nicht jeden einzelnen ſchuldigen Prieſter zur Strafe zog,<lb/> ſondern ſich mit der Verhaftung des Monſ. Provicar Ratta begnügte. Die<lb/> Berſtimmung ward durch dieſen Schritt noch höher geſteigert, und, wie man<lb/> vernimmt, will der Papſt mit dem Interdict vorgehen ſobald ſich ähnliche<lb/> gubernative Acte gegen die Diener der Kirche wiederholen.</p> </div><lb/> <div type="jComment" n="3"> <dateline>× <hi rendition="#b">Turin,</hi> 10 Jun.</dateline> <p>Dieſe Woche ſchifften ſich in Genua wieder<lb/> 2000 Freiwillige aus der Stadt und Umgebung ein. Auch von England<lb/> wiſſen wir des beſtimmteſten daß ein neuer Dampfer gelandet hat mit 60 Frei-<lb/> willigen, 4000 Stutzen und 1000 Pf. St. für Garibaldi. Ueber den Verluſt<lb/> beider Sicilien für die bourboniſche Königsfamilie ſpricht man hier mit einer<lb/> Offenheit und Beſtimmtheit die aus Ekelhafte gränzt. Jeder Geſelle treibt<lb/> darüber Politik. Das gleiche thun die Blätter mit einer unverſchämten<lb/> Arroganz. Das miniſterielle Blatt „Perſeveranza“ in Mailand ent-<lb/> blödete ſich nicht in zwei Nummern einen Leitartikel, überſchrieben „die Bour-<lb/> bonen,“ zu bringen, der ſich mit jedem Pamphlet unſerer Tage mißt. Ver-<lb/> nehmen Sie die Einleitung: „Es exiſtirt in Europa eine Fürſtenfamilie deren<lb/> Namen wir mit dem größten Unglück und mit den größten Verbrechen der<lb/> neuern Geſchichte befleckt finden; es ſind Fürſten denen die Beiſpiele der Ge-<lb/> ſchichte, die Lectionen der Erfahrung, die Fingerzeige der Civiliſation nichts<lb/> nützen, deren einziger Zweck deſpotiſche Macht, einziges Mittel die Gewalt,<lb/> und einziges Geſetz die individuelle Leidenſchaft iſt. Blut und Ruhm und<lb/> Mitleidloſigkeit iſt Recht. (<hi rendition="#aq">E diritto il sangue e gloria, il non aver<lb/> pietà.</hi>)“ Und ſolches ſchreibt ein miniſterielles Blatt, ein Blatt das<lb/> von den Großen des Landes ſeine Winke erhält! Wie lange noch<lb/> werden die Regierungen ſelbſt ſolchen Zunder in die erhitzten Maſſen werfen?<lb/> Aus Sicilien wiſſen wir aus Briefen daß Garibaldi für die ganze Inſel eine<lb/> Conſcription angeordnet in drei Claſſen von 17 bis 30, 30 bis 40 und 40<lb/> bis 50 Jahren. Ebenſo wird eine Nationalgarde gebildet. Es entſtehen natio-<lb/> nale Zeitungen, Garibaldi erläßt viele Decrete in jedem Geſchäftszweige.<lb/> Königliche Truppen ſind um Palermo herum 12,000 bis 13,000 Mann.<lb/> Der Schaden der Stadt iſt ungeheuer. Menſchenleben vermißt man verhält-<lb/> nißmäßig wenige. General Nunziante iſt in Palermo angekommen; Bixio<lb/> wenig, Corini ſtark verwundet. Garibaldi nahm den Waffenſtillſtand an,<lb/> machte aber nicht die geringſte Gegenvorſtellung — er will freie Hand. Das<lb/> Land bewaffnet ſich fürchterlich; es organiſirt ſich auch ein Corps Aetnajäger.<lb/> Unter den vielen Briefen aus Palermo finden ſich auch ſolche von Garibaldi<lb/> ſelbſt. Er ſchreibt an Bertani: <cit><quote>„Palermo, 31 Mai. Lieber Bertani! Wir ſind<lb/> in Palermo. Der Feind hat noch einige Stellungen der Stadt inne, deren<lb/> wir in kurzer Zeit Herr werden. Ausgezeichnet iſt der Muth unſerer tapfern<lb/> Jäger; aber ſie ſind mehr als decimirt, und wir hätten Erſatz unſerer Tapfern<lb/> nöthig. Das Volk iſt begeiſtert, und hofft viel. Der neapolitaniſche General<lb/> erbat von mir zwanzig Stunden Waffenſtillſtand um die Verwundeten an<lb/> Bord bringen zu können. Heute Mittag mußten die Feindſeligkeiten wieder<lb/> beginnen. Als aber die Verwundeten nicht eingeſchifft werden konnten, wurde<lb/> eine neue Stipulation auf drei Tage abgeſchloſſen, denn auch die Todten,<lb/> nicht wenige an Zahl, müſſen beerdigt werden. Es mögen alſo Leute, Waffen<lb/> und Munition kommen, und wir haben unſer Werk bald vollendet. Adieu,<lb/> Euer Garibaldi.“</quote></cit> Am 3 Jun. ſchrieb er an denſelben: <cit><quote>„Ich ermächtige<lb/> euch nicht nur zu irgendeinem Anlehen für Sicilien, ſondern mehr, contra-<lb/> hiret welche Schuld immer, denn hier haben wir ungeheure Mittel genug<lb/> um die ganze Welt zu befriedigen. Schickt uns Leute, Waffen und Munition,<lb/> ſoviel ihr könnt. Immer der Eurige J. Garibaldi.“</quote></cit> Von den vielen Pro-<lb/> clamationen überſende ich Ihnen eine von Garibaldi, ſeine Schriften wie ſeine<lb/> Thaten haben ein eigenes Intereſſe: <cit><quote>„Sicilianer! Faſt immer folgt auf den<lb/> Sturm Ruhe; wir müſſen uns aber noch für den Sturm faſſen weil das er-<lb/> ſehnte Ziel noch nicht erreicht iſt. Die Verhältniſſe der nationalen Sache<lb/> waren ausgezeichnet, der Triumph war gewiß vom Moment an da ein edles<lb/> Volk, demüthigende Vorſchläge mit Füßen tretend, ſich entſchied zu ſiegen oder<lb/> ſterben. Ja, unſere Lage beſſert ſich jeden Augenblick. Dieß enthebt uns<lb/> aber nicht der Verpflichtung unſere Aufgabe zu löſen und den Triumph der<lb/> heiligen Sache zu beſchleunigen. Waffen alſo und Bewaffnete! Die Schwerter<lb/> geſchliffen, und jedes Mittel zu Vertheidigung und Angriff vorbereitet! Für<lb/> Jubel und Hurrahruf haben wir noch Zeit wenn das Land von Feinden ge-<lb/> ſänbert iſt. Ich wiederhole, Waffen und Bewaffnete! Wer in dieſen drei<lb/> Tagen nicht an Waffen denkt, iſt ein Verräther oder ein Feigling, und das Volk<lb/> das unter eigenem Dach für Freiheit, für das Leben der Kinder und Frauen<lb/> kämpft, kann nicht feig und verrätheriſch ſeyn.</quote><bibl>Palermo, 1 Jun. 1860.<lb/> Joſ. Garibaldi.“</bibl></cit></p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline>□ <hi rendition="#b">Aus Nordſavoyen,</hi> 9 Jun.</dateline> <p>Annecy und mancher Hochgeſtellte<lb/> Savoyens ſind heute durch eine definitive Sentenz aus Paris enttäuſcht wor-<lb/> den: die Stadt erhält nur eine Unterpräfectur, und dieſe iſt an den bisheri-<lb/> gen Beamten in Valenciennes vergeben. Als eine Tröſtung wird eine ſtändige<lb/> Garniſon von einem Linienbataillon und zwei Schwadronen Dragoner ein-<lb/> ziehen. Zugleich wurde eröffnet daß keine zweite Douanenlinie ſtattfindet.<lb/><cb/> Jedoch haben alle Händler genan ihre verzollbaren Vorräthe anzuzeigen. In<lb/> Myans wird ein Jeſuitencollegium errichtet. (Bekanntlich war dieſer Orden<lb/> unter piemonteſiſcher Herrſchaft nicht geduldet.) Als eine weitere Vergünſti-<lb/> gung der Geiſtlichkeit darf die Duldung der Petersgroſchen angeſehen werden,<lb/> deren Sammlung in den alten Departements verboten iſt. Aus Turin ver-<lb/> lautet die Annahme des Ceſſionsvertrags durch den Senat. Da nun aber<lb/> auch der in Paris einen hierauf bezüglichen Act der Formalität zu vollziehen<lb/> hat, ſo werden trotz deſſen Bereitſtehen noch einige Tage hingehen bis man<lb/> zu dem officiellen Einverleibungsfeſt ſchreiten kann. Hinſichtlich des morgen<lb/> beginnenden Genfer Feſtes gibt man den Leuten unterderhand den guten Rath<lb/> zu Hauſe zu bleiben und ſich keinen Verdruß zu machen. Man werde ſein<lb/> Geld an der Landesfeier brauchen können u. ſ. w. Die ſtändige Garniſon<lb/> wächst zuſehends; auch ſpricht man von der Befeſtigung Thonons, wodurch<lb/> allerdings die viel beanſtandete franzöſiſche Kriegsflottille auf dem Genfer<lb/> See überflüſſig gemacht würde. Von hier aus kann man mit gezogenen Ka-<lb/> nonen, weiter ſüdlich mit einfachen Büchſen das ſchweizeriſche Ufer beſtreichen.<lb/> Als Grund dieſer Maßnahmen bezeichnen die Bonapartiſten daß die Schweiz<lb/> mit der Befeſtigung der Walliſer Päſſe umgehe. Wahrſcheinlich hat das<lb/> dortige Erſcheinen eidgenöſſiſcher Genieofficiere den willkommenen Vorwand<lb/> gegeben. Das ſonſt überfüllte Bad Aix-les-Bains zählt bis heute 300 Num-<lb/> mern, neben den erwähnten Türken einen und den andern Ruſſen. Mehrere<lb/> Journaliſten, welche in Lyon den Aſſiſenverhandlungen über den dreifachen<lb/> Mord und die doppelte Leichenſchändung von Saint-Cyr beiwohnen wollten,<lb/> ſind ohne einen Platz erlangen zu können heimgekehrt. Der Andrang des<lb/> Publicums iſt ungeheuer, obwohl das weibliche Geſchlecht dießmal die Neu-<lb/> gierde dem Schamgefühl unterordnet, und ſich ferne hält. Obſchon der Vo-<lb/> napartismus nicht für ſolche Scheußlichkeiten <hi rendition="#aq">en détail</hi> verantwortlich ge-<lb/> macht werden kann, ſo fällt ihm doch das Enſemble, der den Unterthanen zu<lb/> Grunde liegende Geiſt der Verwilderung und Entſittlichung, zur Laſt. Die<lb/> bodenloſe Verworfenheit und Frechheit des Hauptmörders iſt nur eine Ueber-<lb/> tragung aus der hohen Sphäre in eine tiefere.</p> </div><lb/> <div type="jComment" n="3"> <dateline>ɱ <hi rendition="#b">Mailand,</hi> 5 Jun.</dateline> <p>Die Verhaftungen der Welt- ſowohl als<lb/> Ordensprieſter fangen an einen großartigen Maßſtab anzunehmen. So<lb/> ſpricht man auch von den beiden Biſchöfen von Bergamo und Pavia, welche<lb/> der gerichtlichen Unterſuchung, und zwar angeblich wegen politiſcher Umtriebe,<lb/> unterzogen werden ſollen. Obwohl die Regierung dieſe Verhaftungen ſo<lb/> geheim als möglich vorzunehmen glaubt, ſo kann ſie es doch nicht verhindern<lb/> daß dieſelben dem Publicum bekannt werden. Die nächſte Urſache der<lb/> Verhaftung des Biſchofes von Bergamo könnte die ſeyn: weil er die<lb/> „<hi rendition="#aq">Società Ecclesiastica Patriotica</hi>“ in Bergamo aufgelöst, und ſich<lb/> dadurch die Regierung zum Feind gemacht hat. Dieſes Vorgehen macht<lb/> natürlich und hauptſächlich beim Landvolk äußerſt böſes Blut, und ich glaube<lb/> nicht zu irren wenn ich behaupte daß, ſollte je etwas gegen Piemont unter-<lb/> nommen werden, das Landvolk ſicher nicht zu Gunſten des letztern handeln<lb/> würde. Ueberhaupt war und iſt das Landvolk von jeher Oeſterreich geneigt,<lb/> und würde deſſen Wiederkehr als das höchſte Glück betrachten. — Wie es<lb/> heißt, ſoll der Graf Annoni, ehemaliger k. k. öſterreichiſcher und im Jahr<lb/> 1848 fahnenflüchtig gewordener Huſaren-Oberſtlieutenant, ſeine Entlaſſung<lb/> als Commandant der Mailänder Nationalgarde gegeben haben. Man ſpricht<lb/> davon er werde ſich in ein Kloſter zurückziehen. — Der bekannte Improvi-<lb/> ſator Bindoni will, nachdem er ſchon in Pavia und Bergamo zum Beſten<lb/> der Garibaldi’ſchen Gewehr Million Vorſtellungen gegeben, nun auch hier am<lb/> 11 d. und zu eben demſelben Zweck eine ſeiner Vorſtellungen geben. Der<lb/> hieſige Gouverneur jedoch, Maſſimo Azeglio, hat verboten daß in den Ein-<lb/> ladungen zur Akademie weder von der ſiciliſchen Revolution, noch von<lb/> der Million Gewehre Garibaldi’s, noch des ſogenannten „<hi rendition="#aq">danaro dell’ Ita-<lb/> lia,</hi>“ noch irgendeines andern Ausdrucks Erwähnung geſchehe die einen<lb/> patriotiſchen Zweck anzeigt. Ueber dieſes Verbot nun iſt die hieſige Tages-<lb/> preſſe außer ſich, und ſpricht von abſurdem, antipatriotiſchem, illegalem und<lb/> vexatoriſchem Vorgehen des Gouverneurs. — Der Vertrag mit Piemont,<lb/> kraft deſſen dieſem die ehemaligen zwei öſterreichiſchen Langenſee-Dampfer,<lb/> „Radetzky“ und „Benedek,“ von der Schweiz in Pacht überlaſſen werden, iſt<lb/> vom Bundesrath genehmigt. — Das Mäſten der Piemonteſen mit fetten<lb/> Stellen auf Unkoſten der Einheimiſchen nimmt ſeinen ungeſtörten Fort-<lb/> gang. So wurde neuerdings, nachdem der hieſige Quäſtor (Polizeidirector)<lb/> Moris eine andere Beſtimmung erhalten, ein unbekanntes Subject, Adv.<lb/> Ritter Strada, der bis jetzt die Stelle eines Secretärs der Eiſenbahn-<lb/> geſellſchaft von Cuneo bekleidete, an dieſen wichtigen Poſten berufen. Ob<lb/> er nun dazu geeignet iſt, oder nicht, darum kümmert ſich das Miniſterium<lb/> nicht. Es genügt daß man der perſönlichen Freundſchaft dieſes oder jenes<lb/> Miniſters ſich erfreue, und man wird wie durch eine Zauberruthe zum In-<lb/> tendanten, Gouverneur, Generalprocurator ꝛc. improviſirt. So iſt es auch<lb/> hier der Fall mit dieſem Adv. und Ritter Strada, der ganz und gar keine<lb/> Präcedentien hat, die für ſeine Tauglichkeit zu dieſem wichtigen Poſten<lb/> Bürgſchaft leiſten.</p> </div> </div> </div><lb/> <div type="jEditorialStaff" n="1"> <p>Verantwortliche Redaction: <hi rendition="#aq">Dr.</hi> G. <hi rendition="#g">Kolb.</hi> <hi rendition="#aq">Dr.</hi> A. J. <hi rendition="#g">Altenhöfer.</hi> <hi rendition="#aq">Dr.</hi> H. <hi rendition="#g">Orges.</hi></p> </div><lb/> <div type="imprint" n="1"> <p>Verlag der J. G. <hi rendition="#g">Cotta’</hi>ſchen Buchhandlung.</p> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [2768/0008]
Sicherheit einige Mäßigung ſchuldig zu ſeyn, indem ſie, gegen ihre Drohung
und gegen das Geſetz, nicht jeden einzelnen ſchuldigen Prieſter zur Strafe zog,
ſondern ſich mit der Verhaftung des Monſ. Provicar Ratta begnügte. Die
Berſtimmung ward durch dieſen Schritt noch höher geſteigert, und, wie man
vernimmt, will der Papſt mit dem Interdict vorgehen ſobald ſich ähnliche
gubernative Acte gegen die Diener der Kirche wiederholen.
× Turin, 10 Jun. Dieſe Woche ſchifften ſich in Genua wieder
2000 Freiwillige aus der Stadt und Umgebung ein. Auch von England
wiſſen wir des beſtimmteſten daß ein neuer Dampfer gelandet hat mit 60 Frei-
willigen, 4000 Stutzen und 1000 Pf. St. für Garibaldi. Ueber den Verluſt
beider Sicilien für die bourboniſche Königsfamilie ſpricht man hier mit einer
Offenheit und Beſtimmtheit die aus Ekelhafte gränzt. Jeder Geſelle treibt
darüber Politik. Das gleiche thun die Blätter mit einer unverſchämten
Arroganz. Das miniſterielle Blatt „Perſeveranza“ in Mailand ent-
blödete ſich nicht in zwei Nummern einen Leitartikel, überſchrieben „die Bour-
bonen,“ zu bringen, der ſich mit jedem Pamphlet unſerer Tage mißt. Ver-
nehmen Sie die Einleitung: „Es exiſtirt in Europa eine Fürſtenfamilie deren
Namen wir mit dem größten Unglück und mit den größten Verbrechen der
neuern Geſchichte befleckt finden; es ſind Fürſten denen die Beiſpiele der Ge-
ſchichte, die Lectionen der Erfahrung, die Fingerzeige der Civiliſation nichts
nützen, deren einziger Zweck deſpotiſche Macht, einziges Mittel die Gewalt,
und einziges Geſetz die individuelle Leidenſchaft iſt. Blut und Ruhm und
Mitleidloſigkeit iſt Recht. (E diritto il sangue e gloria, il non aver
pietà.)“ Und ſolches ſchreibt ein miniſterielles Blatt, ein Blatt das
von den Großen des Landes ſeine Winke erhält! Wie lange noch
werden die Regierungen ſelbſt ſolchen Zunder in die erhitzten Maſſen werfen?
Aus Sicilien wiſſen wir aus Briefen daß Garibaldi für die ganze Inſel eine
Conſcription angeordnet in drei Claſſen von 17 bis 30, 30 bis 40 und 40
bis 50 Jahren. Ebenſo wird eine Nationalgarde gebildet. Es entſtehen natio-
nale Zeitungen, Garibaldi erläßt viele Decrete in jedem Geſchäftszweige.
Königliche Truppen ſind um Palermo herum 12,000 bis 13,000 Mann.
Der Schaden der Stadt iſt ungeheuer. Menſchenleben vermißt man verhält-
nißmäßig wenige. General Nunziante iſt in Palermo angekommen; Bixio
wenig, Corini ſtark verwundet. Garibaldi nahm den Waffenſtillſtand an,
machte aber nicht die geringſte Gegenvorſtellung — er will freie Hand. Das
Land bewaffnet ſich fürchterlich; es organiſirt ſich auch ein Corps Aetnajäger.
Unter den vielen Briefen aus Palermo finden ſich auch ſolche von Garibaldi
ſelbſt. Er ſchreibt an Bertani: „Palermo, 31 Mai. Lieber Bertani! Wir ſind
in Palermo. Der Feind hat noch einige Stellungen der Stadt inne, deren
wir in kurzer Zeit Herr werden. Ausgezeichnet iſt der Muth unſerer tapfern
Jäger; aber ſie ſind mehr als decimirt, und wir hätten Erſatz unſerer Tapfern
nöthig. Das Volk iſt begeiſtert, und hofft viel. Der neapolitaniſche General
erbat von mir zwanzig Stunden Waffenſtillſtand um die Verwundeten an
Bord bringen zu können. Heute Mittag mußten die Feindſeligkeiten wieder
beginnen. Als aber die Verwundeten nicht eingeſchifft werden konnten, wurde
eine neue Stipulation auf drei Tage abgeſchloſſen, denn auch die Todten,
nicht wenige an Zahl, müſſen beerdigt werden. Es mögen alſo Leute, Waffen
und Munition kommen, und wir haben unſer Werk bald vollendet. Adieu,
Euer Garibaldi.“ Am 3 Jun. ſchrieb er an denſelben: „Ich ermächtige
euch nicht nur zu irgendeinem Anlehen für Sicilien, ſondern mehr, contra-
hiret welche Schuld immer, denn hier haben wir ungeheure Mittel genug
um die ganze Welt zu befriedigen. Schickt uns Leute, Waffen und Munition,
ſoviel ihr könnt. Immer der Eurige J. Garibaldi.“ Von den vielen Pro-
clamationen überſende ich Ihnen eine von Garibaldi, ſeine Schriften wie ſeine
Thaten haben ein eigenes Intereſſe: „Sicilianer! Faſt immer folgt auf den
Sturm Ruhe; wir müſſen uns aber noch für den Sturm faſſen weil das er-
ſehnte Ziel noch nicht erreicht iſt. Die Verhältniſſe der nationalen Sache
waren ausgezeichnet, der Triumph war gewiß vom Moment an da ein edles
Volk, demüthigende Vorſchläge mit Füßen tretend, ſich entſchied zu ſiegen oder
ſterben. Ja, unſere Lage beſſert ſich jeden Augenblick. Dieß enthebt uns
aber nicht der Verpflichtung unſere Aufgabe zu löſen und den Triumph der
heiligen Sache zu beſchleunigen. Waffen alſo und Bewaffnete! Die Schwerter
geſchliffen, und jedes Mittel zu Vertheidigung und Angriff vorbereitet! Für
Jubel und Hurrahruf haben wir noch Zeit wenn das Land von Feinden ge-
ſänbert iſt. Ich wiederhole, Waffen und Bewaffnete! Wer in dieſen drei
Tagen nicht an Waffen denkt, iſt ein Verräther oder ein Feigling, und das Volk
das unter eigenem Dach für Freiheit, für das Leben der Kinder und Frauen
kämpft, kann nicht feig und verrätheriſch ſeyn. Palermo, 1 Jun. 1860.
Joſ. Garibaldi.“
□ Aus Nordſavoyen, 9 Jun. Annecy und mancher Hochgeſtellte
Savoyens ſind heute durch eine definitive Sentenz aus Paris enttäuſcht wor-
den: die Stadt erhält nur eine Unterpräfectur, und dieſe iſt an den bisheri-
gen Beamten in Valenciennes vergeben. Als eine Tröſtung wird eine ſtändige
Garniſon von einem Linienbataillon und zwei Schwadronen Dragoner ein-
ziehen. Zugleich wurde eröffnet daß keine zweite Douanenlinie ſtattfindet.
Jedoch haben alle Händler genan ihre verzollbaren Vorräthe anzuzeigen. In
Myans wird ein Jeſuitencollegium errichtet. (Bekanntlich war dieſer Orden
unter piemonteſiſcher Herrſchaft nicht geduldet.) Als eine weitere Vergünſti-
gung der Geiſtlichkeit darf die Duldung der Petersgroſchen angeſehen werden,
deren Sammlung in den alten Departements verboten iſt. Aus Turin ver-
lautet die Annahme des Ceſſionsvertrags durch den Senat. Da nun aber
auch der in Paris einen hierauf bezüglichen Act der Formalität zu vollziehen
hat, ſo werden trotz deſſen Bereitſtehen noch einige Tage hingehen bis man
zu dem officiellen Einverleibungsfeſt ſchreiten kann. Hinſichtlich des morgen
beginnenden Genfer Feſtes gibt man den Leuten unterderhand den guten Rath
zu Hauſe zu bleiben und ſich keinen Verdruß zu machen. Man werde ſein
Geld an der Landesfeier brauchen können u. ſ. w. Die ſtändige Garniſon
wächst zuſehends; auch ſpricht man von der Befeſtigung Thonons, wodurch
allerdings die viel beanſtandete franzöſiſche Kriegsflottille auf dem Genfer
See überflüſſig gemacht würde. Von hier aus kann man mit gezogenen Ka-
nonen, weiter ſüdlich mit einfachen Büchſen das ſchweizeriſche Ufer beſtreichen.
Als Grund dieſer Maßnahmen bezeichnen die Bonapartiſten daß die Schweiz
mit der Befeſtigung der Walliſer Päſſe umgehe. Wahrſcheinlich hat das
dortige Erſcheinen eidgenöſſiſcher Genieofficiere den willkommenen Vorwand
gegeben. Das ſonſt überfüllte Bad Aix-les-Bains zählt bis heute 300 Num-
mern, neben den erwähnten Türken einen und den andern Ruſſen. Mehrere
Journaliſten, welche in Lyon den Aſſiſenverhandlungen über den dreifachen
Mord und die doppelte Leichenſchändung von Saint-Cyr beiwohnen wollten,
ſind ohne einen Platz erlangen zu können heimgekehrt. Der Andrang des
Publicums iſt ungeheuer, obwohl das weibliche Geſchlecht dießmal die Neu-
gierde dem Schamgefühl unterordnet, und ſich ferne hält. Obſchon der Vo-
napartismus nicht für ſolche Scheußlichkeiten en détail verantwortlich ge-
macht werden kann, ſo fällt ihm doch das Enſemble, der den Unterthanen zu
Grunde liegende Geiſt der Verwilderung und Entſittlichung, zur Laſt. Die
bodenloſe Verworfenheit und Frechheit des Hauptmörders iſt nur eine Ueber-
tragung aus der hohen Sphäre in eine tiefere.
ɱ Mailand, 5 Jun. Die Verhaftungen der Welt- ſowohl als
Ordensprieſter fangen an einen großartigen Maßſtab anzunehmen. So
ſpricht man auch von den beiden Biſchöfen von Bergamo und Pavia, welche
der gerichtlichen Unterſuchung, und zwar angeblich wegen politiſcher Umtriebe,
unterzogen werden ſollen. Obwohl die Regierung dieſe Verhaftungen ſo
geheim als möglich vorzunehmen glaubt, ſo kann ſie es doch nicht verhindern
daß dieſelben dem Publicum bekannt werden. Die nächſte Urſache der
Verhaftung des Biſchofes von Bergamo könnte die ſeyn: weil er die
„Società Ecclesiastica Patriotica“ in Bergamo aufgelöst, und ſich
dadurch die Regierung zum Feind gemacht hat. Dieſes Vorgehen macht
natürlich und hauptſächlich beim Landvolk äußerſt böſes Blut, und ich glaube
nicht zu irren wenn ich behaupte daß, ſollte je etwas gegen Piemont unter-
nommen werden, das Landvolk ſicher nicht zu Gunſten des letztern handeln
würde. Ueberhaupt war und iſt das Landvolk von jeher Oeſterreich geneigt,
und würde deſſen Wiederkehr als das höchſte Glück betrachten. — Wie es
heißt, ſoll der Graf Annoni, ehemaliger k. k. öſterreichiſcher und im Jahr
1848 fahnenflüchtig gewordener Huſaren-Oberſtlieutenant, ſeine Entlaſſung
als Commandant der Mailänder Nationalgarde gegeben haben. Man ſpricht
davon er werde ſich in ein Kloſter zurückziehen. — Der bekannte Improvi-
ſator Bindoni will, nachdem er ſchon in Pavia und Bergamo zum Beſten
der Garibaldi’ſchen Gewehr Million Vorſtellungen gegeben, nun auch hier am
11 d. und zu eben demſelben Zweck eine ſeiner Vorſtellungen geben. Der
hieſige Gouverneur jedoch, Maſſimo Azeglio, hat verboten daß in den Ein-
ladungen zur Akademie weder von der ſiciliſchen Revolution, noch von
der Million Gewehre Garibaldi’s, noch des ſogenannten „danaro dell’ Ita-
lia,“ noch irgendeines andern Ausdrucks Erwähnung geſchehe die einen
patriotiſchen Zweck anzeigt. Ueber dieſes Verbot nun iſt die hieſige Tages-
preſſe außer ſich, und ſpricht von abſurdem, antipatriotiſchem, illegalem und
vexatoriſchem Vorgehen des Gouverneurs. — Der Vertrag mit Piemont,
kraft deſſen dieſem die ehemaligen zwei öſterreichiſchen Langenſee-Dampfer,
„Radetzky“ und „Benedek,“ von der Schweiz in Pacht überlaſſen werden, iſt
vom Bundesrath genehmigt. — Das Mäſten der Piemonteſen mit fetten
Stellen auf Unkoſten der Einheimiſchen nimmt ſeinen ungeſtörten Fort-
gang. So wurde neuerdings, nachdem der hieſige Quäſtor (Polizeidirector)
Moris eine andere Beſtimmung erhalten, ein unbekanntes Subject, Adv.
Ritter Strada, der bis jetzt die Stelle eines Secretärs der Eiſenbahn-
geſellſchaft von Cuneo bekleidete, an dieſen wichtigen Poſten berufen. Ob
er nun dazu geeignet iſt, oder nicht, darum kümmert ſich das Miniſterium
nicht. Es genügt daß man der perſönlichen Freundſchaft dieſes oder jenes
Miniſters ſich erfreue, und man wird wie durch eine Zauberruthe zum In-
tendanten, Gouverneur, Generalprocurator ꝛc. improviſirt. So iſt es auch
hier der Fall mit dieſem Adv. und Ritter Strada, der ganz und gar keine
Präcedentien hat, die für ſeine Tauglichkeit zu dieſem wichtigen Poſten
Bürgſchaft leiſten.
Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges.
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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