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Allgemeine Zeitung, Nr. 166, 14. Juni 1860.

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Beilage zu Nr. 166 der Allg. Zeitung.
14 Junius 1860.


[Spaltenumbruch]
Uebersicht.
Eine Stimme aus Belgien. -- Zur Kennzeichnung der gegenwärti-
gen Lage der Christen in der Türkei. -- Friedrich II gegen die Kleindeut-
schen. -- Deutschland. (Wien: Fortsetzung der Reichsrathssitzung.) --
Italien. (Turin: Die Kammer. Fremde Deputirte. Die Mailänder Ztg.
über die Neapolitaner. Brandmarkung. Berliner Correspondenz der Perse-
veranza.)
Neueste Posten. München. (Zur Reise Sr. Maj. des Königs.)
-- Baden. (Ankunft des bayerischen Königspaars und des Großherzogs
von Weimar.) -- Kassel. (Ministerernennung. Confiscation.) -- Han-
nover.
(Die Köln. Ztg. Graf Borries.) -- Berlin. (Tagesbericht.) --
London. (Unterhausdebatten. Revue der Freiwilligen.) -- Paris. (Inhalt
der Tagesblätter. Zur Einverleibung von Savoyen und Nizza.) -- Mar-
seille.
(Aus Neapel.) -- Rom. (Eisenbahnen.) -- Turin. (Der An-
schluß Savoyens.) -- Chambery. (Der Anschluß.)
Außerordentliche Beilage, Nr. 31.


Telegraphische Berichte.

Die "Oesterreichische Zeitung" bevor-
wortet die Aufhebung der Wuchergesetze. Der Geschäftsbericht der
Rationalbank meldet daß die halbjährige Bankactien-Dividende 28 fl.
betrage.

Der Prinz-Regent begibt sich heute
Abend halb 7 Uhr nur mit seinem Hofmarschall und seinem mili-
tärischen
Gefolge nach Baden-Baden. Der König von Hannover,
der heute Morgen hier eingetroffen, kehrt heute Abend nach mehr-
stündiger Unterredung mit dem Prinz-Regenten nach Hannover zurück.

Zwei Dampfboote mit Truppen und
Munition wurden von der neapolitanischen Marine weggenommen.
In Neapel herrscht äußerlich Ruhe.

Weitere Depeschen s. Neueste Posten.


Eine Stimme aus Belgien.

§ Nicht bloß Deutschland schaut mit ernstem Blick auf das es täglich
mehr bedrohende westliche Kaiserreich hinüber, sondern auch der im Norden
an dasselbe gränzende, in allen Beziehungen jetzt einen Gegensatz zu ihm
bildende, freilich nicht große Staat des 1831 unter Zustimmung Europa's
entstandenen Königreichs Belgien. Es ist unmöglich für dasselbe von Rück-
schlägen jeder politischen Neuerung im unruhigen Nachbarlande frei zu bleiben;
aber glücklich wie es ist in seiner geschichtlich-nationalen Gestaltung, fand es
bisher immer Mittel und Wege seine Selbständigkeit zu behaupten. L. Napoleons
Eroberungspolitik seit dem Anfang des Jahres 1859 und das täglich klarer
hervortretende Princip seiner Regierung -- das Kaiserreich Napoleons I
wenigstens innerhalb der Gränzen von 1792 wiederherzustellen -- muß das
seine Unabhängigkeit und Freiheit über alles liebende Volk der südlichen
Niederlande beängstigen, zumal Symptome von Einverleibungsgelüsten mehr
und mehr sichtbar werden. Fänden sich diese nur in Frankreich selbst, gäbe
es in Belgien keine Freunde derselben, so könnte das Land dem Treiben
wenn nicht ruhig, doch muthig zusehen. Allein der zweite December hat in
Belgien heimliche Anhänger, auf die er rechnen wird sobald die Stunde
schlägt in der er das Princip der natürlichen Gränzen für das Kaiserreich zur
Wahrheit dort machen zu können glaubt. Diese Wahrnehmung beunruhigt
die treuen Söhne ihres freien Vaterlands. Einer derselben, der sich schon seit
Jahren als politischer Kämpfer für Belgiens Freiheit einen Namen von gutem
Klang gemacht hat,*) hielt es daher für zeitgemäß einen Mahnruf an seine
Landsleute zu erlassen. Er trägt den Titel: "La Belgique devant l'empire
francais. Bruxelles 1860, p.
1--28, 12°" Der Verfasser schreibt in trüber
Stimmung; er sieht die Gefahr nur allzu klar, er will sie beschwören und
appellirt an das Nationalgefühl, welches 1830/31 das Königreich schuf. Hier
der Hauptinhalt des Schriftchens.

Belgien, sagt er, hat mehr als die übrigen Länder das Vorgefühl einer
hereinbrechenden Krisis. Darf ich es sagen daß viele feiner Söhne sich in
das Unvermeidliche zu ergeben scheinen? Man sollte es glauben wenn man
sie mit Gleichgültigkeit von der Möglichkeit einer Einverleibung in
Frankreich
sprechen hört.

Diese schamlosen Herren begreifen offenbar nicht wie schmachvoll es für
[Spaltenumbruch] ein Volk ist seine Nationalität so leichhin zu verkaufen, und geben dem
englischen Publicisten Recht der kürzlich sagte: "Nicht alle Savoyarden
sind in Savoyen.
" Doch überschätzen wir die Tragweite dieses Schwach-
sinns nicht! Wer sind die welche sich mit so philosophischem Gleichmuth auf
die Einverleibung in das Kaiserreich gefaßt machen? Gewiß nur diejenigen
deren Gefühl stumpf geworden durch ihre ausschließliche Eingenommenheit für
ihre Interessen. Der Cultus des Goldes hat eine Menge Angehöriger unter
uns: in gewissen Kreisen hat er alle edlern Gefühle verdrängt.

Unsere Staatsordnung hat nicht wenig zu diesem Ergebniß beigetragen.
Der Reichthum ist eine Kraft, ja eine fast unwiderstehliche Macht in den
Ländern mit Volkswahlen. Im liberalen Belgien ist der Mann der nichts
hat eine Null, wie groß auch sonst seine Verdienste seyn mögen: man ver-
ehrt nur die reichen Leute -- weil sie als Wähler oder Gewählte Einfluß
haben. In den Augen der Minister wie denen des geringsten Dorfbürgermei-
sters gelten nur die etwas welche über eine Anzahl Stimmen bei den Wah-
len gebieten können. Die Regierungskunst hat bei uns in die Kunst "Majo-
ritäten zu schaffen" sich verwandelt.

Die Durchführung dieses Systems hat, man darf es nicht mißkennen,
die materiellen Fortschritte des Landes bedeutend gefördert. Aber alles fiel
der Industrie zum Opfer -- selbst die Consumenten. Man hat Millionäre
gewonnen -- aber keine Vaterlandsfreunde. Im Gegentheil, die erst reich-
gewordenen sind größere Egoisten als die alten. Durch jeden Millionär
ward das Land um einen Patrioten ärmer. Wer durch Industrie oder Han-
del reicher wird, will noch mehr haben, die Nationalitätsfrage ist für ihn die
der Douane. Sobald sie zwischen dem Nachbarland fällt, wird er mehr
Eisen oder Kohlen verkaufen, und rufen: Frankreich soll leben, dem er anzu-
gehören sich glücklich preist! Vergebens wird man diesen Drang bekämpfen,
der Materialismus der Industrie und des Handels ist unheilbar verwurzelt
im Organismus des Mercantilismus.

Auch unsere Nationalrepräsentation steht unter dem Einfluß dieses
mercantilen Egoismus: man verdrängte sogar die bürgerlichen und
militärischen Beamten aus den Kammern. Ebensowenig Wohlwollen haben
die reichen Herren für die arbeitenden Classen. Das Vereinsrecht existirt
nicht für sie, sondern nur für die großen Fabrik- und Kaufherren, die durch
ihre Coalitionen oft in skandalöser Weise die Consumenten ausbeuten. Sie
vergessen daß, wenn die Gefahr hereinbricht, sie doch nur bei den Beamten
und beim Volk Hülfe suchen müssen! Was thaten die unter König Wilhelm
reichgewordenen Männer? Nichts, weder für den von ihnen verlassenen
König noch für das sich emancipirende Vaterland!

Die Lage der Gegenwart ist dieselbe: die Volksmasse allein hat patrio-
tische Gefühle, das der Geldmenschen hat sich nicht gesteigert. Die uns jetzt
bedrohende Gefahr ist aber bedeutend größer als 1830. Es handelt sich
nicht mehr von der Freiheit der Klöster und den Schulen der Freres-Igno-
rantins, sondern von allen auf dem Boden der Menschenwürde wurzelnden
Freiheiten, von der des Denkens an bis zu der seine Cigarre zu rauchen!

Frankreichs Spione haben eine europäische Berühmtheit; wohin sie
kamen, blieben Spuren ihrer Thätigkeit zurück. Belgien erinnert sich ihrer
aus frühern Zeiten noch ganz wohl, ja sogar der sogenannten Kellerrat-
ten,
die in unzähliger Menge 1813 aus den annexirt gewesenen Ländern
flüchtend in Eile es durchzogen.

Diese Schmarotzerrace ist in Frankreich nicht ausgestorben, sie bereitet
sich schon vor zu neuen Einfällen in die Länder zu welchen die Armee ihnen
nächstens den Weg öffnen soll; neue Präfecten werden an ihrer Spitze seyn,
gleich einem Heuschreckenschwarm werden sie gefräßig sich auf die annexirten
Länder stürzen. Belgien hat auch die Blutströme der Napoleonischen Con-
scription nicht vergessen; obwohl jetzt noch nicht wieder die gleiche, drückt sie
schwerer das Volk als unsere Milizenaushebung. Da ohne Krieg die An-
nexion Belgiens nicht vor sich gehen kann und darauf andere Kriege folgen,
so wird das Zeitalter des Oheims von selbst wiederkehren. Und wie schmerz-
lich müßte unser an politische und bürgerliche Freiheit so gewöhntes Land
den französischen Regierungsdespotismus empfinden! Wie die Schweiz haßt
Belgien jede ihm unerträgliche Vielregiererei. Für den Belgier ist die Regie-
rung die beste welche am wenigsten regiert! In Frankreich mischt sich die
Verwaltung in alles. Man soll nie vergessen wie sehr die Beamten des
ersten Kaiserreichs bei uns verhaßt waren -- es gibt keine Schimpsworte die
man nicht an ihnen vergeudete. Selbst die zur Zeit des Königreichs der
Niederlande in Belgien angestellten Holländer waren unbeliebt. Wir wollen
nur von unsern Landsgenossen regiert seyn.

Was wird oder was soll geschehen wenn die Annexionsgefahr heran-
rückt?

Möglich -- ja wahrscheinlich -- daß Franzosenfreunde sogleich mit Er-

*) Brgl. die in Brüssel erscheinende "Revne Trimestrielle" von 1858 Bd. I. S.
242, Bd. II. S. 325.
Donnerſtag
Beilage zu Nr. 166 der Allg. Zeitung.
14 Junius 1860.


[Spaltenumbruch]
Ueberſicht.
Eine Stimme aus Belgien. — Zur Kennzeichnung der gegenwärti-
gen Lage der Chriſten in der Türkei. — Friedrich II gegen die Kleindeut-
ſchen. — Deutſchland. (Wien: Fortſetzung der Reichsrathsſitzung.) —
Italien. (Turin: Die Kammer. Fremde Deputirte. Die Mailänder Ztg.
über die Neapolitaner. Brandmarkung. Berliner Correſpondenz der Perſe-
veranza.)
Neueſte Poſten. München. (Zur Reiſe Sr. Maj. des Königs.)
Baden. (Ankunft des bayeriſchen Königspaars und des Großherzogs
von Weimar.) — Kaſſel. (Miniſterernennung. Confiscation.) — Han-
nover.
(Die Köln. Ztg. Graf Borries.) — Berlin. (Tagesbericht.) —
London. (Unterhausdebatten. Revue der Freiwilligen.) — Paris. (Inhalt
der Tagesblätter. Zur Einverleibung von Savoyen und Nizza.) — Mar-
ſeille.
(Aus Neapel.) — Rom. (Eiſenbahnen.) — Turin. (Der An-
ſchluß Savoyens.) — Chambery. (Der Anſchluß.)
Außerordentliche Beilage, Nr. 31.


Telegraphiſche Berichte.

Die „Oeſterreichiſche Zeitung“ bevor-
wortet die Aufhebung der Wuchergeſetze. Der Geſchäftsbericht der
Rationalbank meldet daß die halbjährige Bankactien-Dividende 28 fl.
betrage.

Der Prinz-Regent begibt ſich heute
Abend halb 7 Uhr nur mit ſeinem Hofmarſchall und ſeinem mili-
täriſchen
Gefolge nach Baden-Baden. Der König von Hannover,
der heute Morgen hier eingetroffen, kehrt heute Abend nach mehr-
ſtündiger Unterredung mit dem Prinz-Regenten nach Hannover zurück.

Zwei Dampfboote mit Truppen und
Munition wurden von der neapolitaniſchen Marine weggenommen.
In Neapel herrſcht äußerlich Ruhe.

Weitere Depeſchen ſ. Neueſte Poſten.


Eine Stimme aus Belgien.

§ Nicht bloß Deutſchland ſchaut mit ernſtem Blick auf das es täglich
mehr bedrohende weſtliche Kaiſerreich hinüber, ſondern auch der im Norden
an dasſelbe gränzende, in allen Beziehungen jetzt einen Gegenſatz zu ihm
bildende, freilich nicht große Staat des 1831 unter Zuſtimmung Europa’s
entſtandenen Königreichs Belgien. Es iſt unmöglich für dasſelbe von Rück-
ſchlägen jeder politiſchen Neuerung im unruhigen Nachbarlande frei zu bleiben;
aber glücklich wie es iſt in ſeiner geſchichtlich-nationalen Geſtaltung, fand es
bisher immer Mittel und Wege ſeine Selbſtändigkeit zu behaupten. L. Napoleons
Eroberungspolitik ſeit dem Anfang des Jahres 1859 und das täglich klarer
hervortretende Princip ſeiner Regierung — das Kaiſerreich Napoleons I
wenigſtens innerhalb der Gränzen von 1792 wiederherzuſtellen — muß das
ſeine Unabhängigkeit und Freiheit über alles liebende Volk der ſüdlichen
Niederlande beängſtigen, zumal Symptome von Einverleibungsgelüſten mehr
und mehr ſichtbar werden. Fänden ſich dieſe nur in Frankreich ſelbſt, gäbe
es in Belgien keine Freunde derſelben, ſo könnte das Land dem Treiben
wenn nicht ruhig, doch muthig zuſehen. Allein der zweite December hat in
Belgien heimliche Anhänger, auf die er rechnen wird ſobald die Stunde
ſchlägt in der er das Princip der natürlichen Gränzen für das Kaiſerreich zur
Wahrheit dort machen zu können glaubt. Dieſe Wahrnehmung beunruhigt
die treuen Söhne ihres freien Vaterlands. Einer derſelben, der ſich ſchon ſeit
Jahren als politiſcher Kämpfer für Belgiens Freiheit einen Namen von gutem
Klang gemacht hat,*) hielt es daher für zeitgemäß einen Mahnruf an ſeine
Landsleute zu erlaſſen. Er trägt den Titel: „La Belgique devant l’empire
français. Bruxelles 1860, p.
1—28, 12°“ Der Verfaſſer ſchreibt in trüber
Stimmung; er ſieht die Gefahr nur allzu klar, er will ſie beſchwören und
appellirt an das Nationalgefühl, welches 1830/31 das Königreich ſchuf. Hier
der Hauptinhalt des Schriftchens.

Belgien, ſagt er, hat mehr als die übrigen Länder das Vorgefühl einer
hereinbrechenden Kriſis. Darf ich es ſagen daß viele feiner Söhne ſich in
das Unvermeidliche zu ergeben ſcheinen? Man ſollte es glauben wenn man
ſie mit Gleichgültigkeit von der Möglichkeit einer Einverleibung in
Frankreich
ſprechen hört.

Dieſe ſchamloſen Herren begreifen offenbar nicht wie ſchmachvoll es für
[Spaltenumbruch] ein Volk iſt ſeine Nationalität ſo leichhin zu verkaufen, und geben dem
engliſchen Publiciſten Recht der kürzlich ſagte: „Nicht alle Savoyarden
ſind in Savoyen.
“ Doch überſchätzen wir die Tragweite dieſes Schwach-
ſinns nicht! Wer ſind die welche ſich mit ſo philoſophiſchem Gleichmuth auf
die Einverleibung in das Kaiſerreich gefaßt machen? Gewiß nur diejenigen
deren Gefühl ſtumpf geworden durch ihre ausſchließliche Eingenommenheit für
ihre Intereſſen. Der Cultus des Goldes hat eine Menge Angehöriger unter
uns: in gewiſſen Kreiſen hat er alle edlern Gefühle verdrängt.

Unſere Staatsordnung hat nicht wenig zu dieſem Ergebniß beigetragen.
Der Reichthum iſt eine Kraft, ja eine faſt unwiderſtehliche Macht in den
Ländern mit Volkswahlen. Im liberalen Belgien iſt der Mann der nichts
hat eine Null, wie groß auch ſonſt ſeine Verdienſte ſeyn mögen: man ver-
ehrt nur die reichen Leute — weil ſie als Wähler oder Gewählte Einfluß
haben. In den Augen der Miniſter wie denen des geringſten Dorfbürgermei-
ſters gelten nur die etwas welche über eine Anzahl Stimmen bei den Wah-
len gebieten können. Die Regierungskunſt hat bei uns in die Kunſt „Majo-
ritäten zu ſchaffen“ ſich verwandelt.

Die Durchführung dieſes Syſtems hat, man darf es nicht mißkennen,
die materiellen Fortſchritte des Landes bedeutend gefördert. Aber alles fiel
der Induſtrie zum Opfer — ſelbſt die Conſumenten. Man hat Millionäre
gewonnen — aber keine Vaterlandsfreunde. Im Gegentheil, die erſt reich-
gewordenen ſind größere Egoiſten als die alten. Durch jeden Millionär
ward das Land um einen Patrioten ärmer. Wer durch Induſtrie oder Han-
del reicher wird, will noch mehr haben, die Nationalitätsfrage iſt für ihn die
der Douane. Sobald ſie zwiſchen dem Nachbarland fällt, wird er mehr
Eiſen oder Kohlen verkaufen, und rufen: Frankreich ſoll leben, dem er anzu-
gehören ſich glücklich preist! Vergebens wird man dieſen Drang bekämpfen,
der Materialismus der Induſtrie und des Handels iſt unheilbar verwurzelt
im Organismus des Mercantilismus.

Auch unſere Nationalrepräſentation ſteht unter dem Einfluß dieſes
mercantilen Egoismus: man verdrängte ſogar die bürgerlichen und
militäriſchen Beamten aus den Kammern. Ebenſowenig Wohlwollen haben
die reichen Herren für die arbeitenden Claſſen. Das Vereinsrecht exiſtirt
nicht für ſie, ſondern nur für die großen Fabrik- und Kaufherren, die durch
ihre Coalitionen oft in ſkandalöſer Weiſe die Conſumenten ausbeuten. Sie
vergeſſen daß, wenn die Gefahr hereinbricht, ſie doch nur bei den Beamten
und beim Volk Hülfe ſuchen müſſen! Was thaten die unter König Wilhelm
reichgewordenen Männer? Nichts, weder für den von ihnen verlaſſenen
König noch für das ſich emancipirende Vaterland!

Die Lage der Gegenwart iſt dieſelbe: die Volksmaſſe allein hat patrio-
tiſche Gefühle, das der Geldmenſchen hat ſich nicht geſteigert. Die uns jetzt
bedrohende Gefahr iſt aber bedeutend größer als 1830. Es handelt ſich
nicht mehr von der Freiheit der Klöſter und den Schulen der Frères-Igno-
rantins, ſondern von allen auf dem Boden der Menſchenwürde wurzelnden
Freiheiten, von der des Denkens an bis zu der ſeine Cigarre zu rauchen!

Frankreichs Spione haben eine europäiſche Berühmtheit; wohin ſie
kamen, blieben Spuren ihrer Thätigkeit zurück. Belgien erinnert ſich ihrer
aus frühern Zeiten noch ganz wohl, ja ſogar der ſogenannten Kellerrat-
ten,
die in unzähliger Menge 1813 aus den annexirt geweſenen Ländern
flüchtend in Eile es durchzogen.

Dieſe Schmarotzerrace iſt in Frankreich nicht ausgeſtorben, ſie bereitet
ſich ſchon vor zu neuen Einfällen in die Länder zu welchen die Armee ihnen
nächſtens den Weg öffnen ſoll; neue Präfecten werden an ihrer Spitze ſeyn,
gleich einem Heuſchreckenſchwarm werden ſie gefräßig ſich auf die annexirten
Länder ſtürzen. Belgien hat auch die Blutſtröme der Napoleoniſchen Con-
ſcription nicht vergeſſen; obwohl jetzt noch nicht wieder die gleiche, drückt ſie
ſchwerer das Volk als unſere Milizenaushebung. Da ohne Krieg die An-
nexion Belgiens nicht vor ſich gehen kann und darauf andere Kriege folgen,
ſo wird das Zeitalter des Oheims von ſelbſt wiederkehren. Und wie ſchmerz-
lich müßte unſer an politiſche und bürgerliche Freiheit ſo gewöhntes Land
den franzöſiſchen Regierungsdeſpotismus empfinden! Wie die Schweiz haßt
Belgien jede ihm unerträgliche Vielregiererei. Für den Belgier iſt die Regie-
rung die beſte welche am wenigſten regiert! In Frankreich miſcht ſich die
Verwaltung in alles. Man ſoll nie vergeſſen wie ſehr die Beamten des
erſten Kaiſerreichs bei uns verhaßt waren — es gibt keine Schimpſworte die
man nicht an ihnen vergeudete. Selbſt die zur Zeit des Königreichs der
Niederlande in Belgien angeſtellten Holländer waren unbeliebt. Wir wollen
nur von unſern Landsgenoſſen regiert ſeyn.

Was wird oder was ſoll geſchehen wenn die Annexionsgefahr heran-
rückt?

Möglich — ja wahrſcheinlich — daß Franzoſenfreunde ſogleich mit Er-

*) Brgl. die in Brüſſel erſcheinende „Revne Trimeſtrielle“ von 1858 Bd. I. S.
242, Bd. II. S. 325.
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[0009] Donnerſtag Beilage zu Nr. 166 der Allg. Zeitung. 14 Junius 1860. Ueberſicht. Eine Stimme aus Belgien. — Zur Kennzeichnung der gegenwärti- gen Lage der Chriſten in der Türkei. — Friedrich II gegen die Kleindeut- ſchen. — Deutſchland. (Wien: Fortſetzung der Reichsrathsſitzung.) — Italien. (Turin: Die Kammer. Fremde Deputirte. Die Mailänder Ztg. über die Neapolitaner. Brandmarkung. Berliner Correſpondenz der Perſe- veranza.) Neueſte Poſten. München. (Zur Reiſe Sr. Maj. des Königs.) — Baden. (Ankunft des bayeriſchen Königspaars und des Großherzogs von Weimar.) — Kaſſel. (Miniſterernennung. Confiscation.) — Han- nover. (Die Köln. Ztg. Graf Borries.) — Berlin. (Tagesbericht.) — London. (Unterhausdebatten. Revue der Freiwilligen.) — Paris. (Inhalt der Tagesblätter. Zur Einverleibung von Savoyen und Nizza.) — Mar- ſeille. (Aus Neapel.) — Rom. (Eiſenbahnen.) — Turin. (Der An- ſchluß Savoyens.) — Chambery. (Der Anſchluß.) Außerordentliche Beilage, Nr. 31. Telegraphiſche Berichte. ⸫ Wien, 13 Jun. Die „Oeſterreichiſche Zeitung“ bevor- wortet die Aufhebung der Wuchergeſetze. Der Geſchäftsbericht der Rationalbank meldet daß die halbjährige Bankactien-Dividende 28 fl. betrage. ⸫ Berlin, 13 Jun. Der Prinz-Regent begibt ſich heute Abend halb 7 Uhr nur mit ſeinem Hofmarſchall und ſeinem mili- täriſchen Gefolge nach Baden-Baden. Der König von Hannover, der heute Morgen hier eingetroffen, kehrt heute Abend nach mehr- ſtündiger Unterredung mit dem Prinz-Regenten nach Hannover zurück. ⸫ Neapel, 12 Jun. Zwei Dampfboote mit Truppen und Munition wurden von der neapolitaniſchen Marine weggenommen. In Neapel herrſcht äußerlich Ruhe. Weitere Depeſchen ſ. Neueſte Poſten. Eine Stimme aus Belgien. § Nicht bloß Deutſchland ſchaut mit ernſtem Blick auf das es täglich mehr bedrohende weſtliche Kaiſerreich hinüber, ſondern auch der im Norden an dasſelbe gränzende, in allen Beziehungen jetzt einen Gegenſatz zu ihm bildende, freilich nicht große Staat des 1831 unter Zuſtimmung Europa’s entſtandenen Königreichs Belgien. Es iſt unmöglich für dasſelbe von Rück- ſchlägen jeder politiſchen Neuerung im unruhigen Nachbarlande frei zu bleiben; aber glücklich wie es iſt in ſeiner geſchichtlich-nationalen Geſtaltung, fand es bisher immer Mittel und Wege ſeine Selbſtändigkeit zu behaupten. L. Napoleons Eroberungspolitik ſeit dem Anfang des Jahres 1859 und das täglich klarer hervortretende Princip ſeiner Regierung — das Kaiſerreich Napoleons I wenigſtens innerhalb der Gränzen von 1792 wiederherzuſtellen — muß das ſeine Unabhängigkeit und Freiheit über alles liebende Volk der ſüdlichen Niederlande beängſtigen, zumal Symptome von Einverleibungsgelüſten mehr und mehr ſichtbar werden. Fänden ſich dieſe nur in Frankreich ſelbſt, gäbe es in Belgien keine Freunde derſelben, ſo könnte das Land dem Treiben wenn nicht ruhig, doch muthig zuſehen. Allein der zweite December hat in Belgien heimliche Anhänger, auf die er rechnen wird ſobald die Stunde ſchlägt in der er das Princip der natürlichen Gränzen für das Kaiſerreich zur Wahrheit dort machen zu können glaubt. Dieſe Wahrnehmung beunruhigt die treuen Söhne ihres freien Vaterlands. Einer derſelben, der ſich ſchon ſeit Jahren als politiſcher Kämpfer für Belgiens Freiheit einen Namen von gutem Klang gemacht hat, *) hielt es daher für zeitgemäß einen Mahnruf an ſeine Landsleute zu erlaſſen. Er trägt den Titel: „La Belgique devant l’empire français. Bruxelles 1860, p. 1—28, 12°“ Der Verfaſſer ſchreibt in trüber Stimmung; er ſieht die Gefahr nur allzu klar, er will ſie beſchwören und appellirt an das Nationalgefühl, welches 1830/31 das Königreich ſchuf. Hier der Hauptinhalt des Schriftchens. Belgien, ſagt er, hat mehr als die übrigen Länder das Vorgefühl einer hereinbrechenden Kriſis. Darf ich es ſagen daß viele feiner Söhne ſich in das Unvermeidliche zu ergeben ſcheinen? Man ſollte es glauben wenn man ſie mit Gleichgültigkeit von der Möglichkeit einer Einverleibung in Frankreich ſprechen hört. Dieſe ſchamloſen Herren begreifen offenbar nicht wie ſchmachvoll es für ein Volk iſt ſeine Nationalität ſo leichhin zu verkaufen, und geben dem engliſchen Publiciſten Recht der kürzlich ſagte: „Nicht alle Savoyarden ſind in Savoyen.“ Doch überſchätzen wir die Tragweite dieſes Schwach- ſinns nicht! Wer ſind die welche ſich mit ſo philoſophiſchem Gleichmuth auf die Einverleibung in das Kaiſerreich gefaßt machen? Gewiß nur diejenigen deren Gefühl ſtumpf geworden durch ihre ausſchließliche Eingenommenheit für ihre Intereſſen. Der Cultus des Goldes hat eine Menge Angehöriger unter uns: in gewiſſen Kreiſen hat er alle edlern Gefühle verdrängt. Unſere Staatsordnung hat nicht wenig zu dieſem Ergebniß beigetragen. Der Reichthum iſt eine Kraft, ja eine faſt unwiderſtehliche Macht in den Ländern mit Volkswahlen. Im liberalen Belgien iſt der Mann der nichts hat eine Null, wie groß auch ſonſt ſeine Verdienſte ſeyn mögen: man ver- ehrt nur die reichen Leute — weil ſie als Wähler oder Gewählte Einfluß haben. In den Augen der Miniſter wie denen des geringſten Dorfbürgermei- ſters gelten nur die etwas welche über eine Anzahl Stimmen bei den Wah- len gebieten können. Die Regierungskunſt hat bei uns in die Kunſt „Majo- ritäten zu ſchaffen“ ſich verwandelt. Die Durchführung dieſes Syſtems hat, man darf es nicht mißkennen, die materiellen Fortſchritte des Landes bedeutend gefördert. Aber alles fiel der Induſtrie zum Opfer — ſelbſt die Conſumenten. Man hat Millionäre gewonnen — aber keine Vaterlandsfreunde. Im Gegentheil, die erſt reich- gewordenen ſind größere Egoiſten als die alten. Durch jeden Millionär ward das Land um einen Patrioten ärmer. Wer durch Induſtrie oder Han- del reicher wird, will noch mehr haben, die Nationalitätsfrage iſt für ihn die der Douane. Sobald ſie zwiſchen dem Nachbarland fällt, wird er mehr Eiſen oder Kohlen verkaufen, und rufen: Frankreich ſoll leben, dem er anzu- gehören ſich glücklich preist! Vergebens wird man dieſen Drang bekämpfen, der Materialismus der Induſtrie und des Handels iſt unheilbar verwurzelt im Organismus des Mercantilismus. Auch unſere Nationalrepräſentation ſteht unter dem Einfluß dieſes mercantilen Egoismus: man verdrängte ſogar die bürgerlichen und militäriſchen Beamten aus den Kammern. Ebenſowenig Wohlwollen haben die reichen Herren für die arbeitenden Claſſen. Das Vereinsrecht exiſtirt nicht für ſie, ſondern nur für die großen Fabrik- und Kaufherren, die durch ihre Coalitionen oft in ſkandalöſer Weiſe die Conſumenten ausbeuten. Sie vergeſſen daß, wenn die Gefahr hereinbricht, ſie doch nur bei den Beamten und beim Volk Hülfe ſuchen müſſen! Was thaten die unter König Wilhelm reichgewordenen Männer? Nichts, weder für den von ihnen verlaſſenen König noch für das ſich emancipirende Vaterland! Die Lage der Gegenwart iſt dieſelbe: die Volksmaſſe allein hat patrio- tiſche Gefühle, das der Geldmenſchen hat ſich nicht geſteigert. Die uns jetzt bedrohende Gefahr iſt aber bedeutend größer als 1830. Es handelt ſich nicht mehr von der Freiheit der Klöſter und den Schulen der Frères-Igno- rantins, ſondern von allen auf dem Boden der Menſchenwürde wurzelnden Freiheiten, von der des Denkens an bis zu der ſeine Cigarre zu rauchen! Frankreichs Spione haben eine europäiſche Berühmtheit; wohin ſie kamen, blieben Spuren ihrer Thätigkeit zurück. Belgien erinnert ſich ihrer aus frühern Zeiten noch ganz wohl, ja ſogar der ſogenannten Kellerrat- ten, die in unzähliger Menge 1813 aus den annexirt geweſenen Ländern flüchtend in Eile es durchzogen. 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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 166, 14. Juni 1860, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine166_1860/9>, abgerufen am 21.11.2024.