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Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 8. Mai 1915.

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8. Mai 1915. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Luise von Francois, alle Meisterwerke Anzengrubers, Vischers
"Auch Einer", Kellers und Meyers "Gesammelte Gedichte". Da-
neben Werke von Döllinger, Ranke und Strauß, Fechners "Vor-
schule der Aesthetik", die Vorlesungen über Goethe von Hermann
Grimm, seine und Hillebrands Essais, Treitschkes "Deutsche Ge-
schichte", Scherers Literaturgeschichte, den ganzen Nietzsche bis zum
"Zarathustra". In der Musik alle Hauptwerke von Brahms und
Bruckner, in der Malerei die Schöpfungen jener Maler, die wir
jetzt am höchsten schätzen.

Die Liste, die sich leicht verdoppeln ließe, dürfte für anspruchs-
vollen Kulturverbrauch genügen. Man wende nicht ein, die
Schweizer dürften nicht mitgezählt werden. Was Meyer anlangt,
so wissen wir aus seinem eigenen Munde, daß erst der Krieg 1870
ihn zum deutschen Schriftsteller gemacht hat. Man vergesse vor
allem nicht die Gründung der "Deutschen Rundschau" 1874. Sie
wirkte wie ein Magnet auf alles Bedeutende der Zeit. Man stelle
neben die "Deutsche Rundschau" von 1874 bis 1890 das Beste der
Jungdeutschen Entwicklung seit 1890 und wähle! Mehr: man stelle
neben die deutsche Kunst und Literatur dieses Zeitraumes die fran-
zösische und wähle! Keller neben Zola, Meyer neben Daudet,
Raabe neben die Goncourts, Wildenbruch neben Dumas, und
wähle! Daß wir nach Siebzig kein blühendes deutsches Theater
bekamen, ist wieder eine sehr komplizierte Sache. Es war naiv,
es zu erwarten. Die es heute beklagen, sind die Geistesverwandten
derer, die es damals verhinderten. Wer heute ein deutsches Theater
will, muß drei Dinge wollen: Schließung der Kinos, weil sie Schund-
literatur für Analphabeten bieten müssen, wenn sie existieren wollen.
Schließung der Varietes mit literarischen Ansprüchen, weil sie die
Literatur verschweinen müssen, wenn sie existieren wollen. Schlie-
ßung der Hälfte der Theater, weil sie von Anfang an überflüssige
Spekulationen ohne Existenzberechtigung waren. Weil alle drei
durch die Konkurrenz rettungslos ins Sensationelle und ins Ordi-
näre getrieben werden.

Nein, die Gefahr ist nicht, daß es schlechter werde als vor dem
Krieg. Schlechter kann es nicht werden. Spielpläne, Belletristik,
Malerei, Lyrik im Sommer 1914 -- der Weltkrieg mußte kommen.
Aber die Gefahr ist, daß die Männer fallen und die Intellektuellen
übrig bleiben."



Die Gesellschaft für künstlerische Kultur veranstaltete im Kon-
zertsaal Schmid am Freitag, den 30. April, einen Vortrags-
Abend,
dessen tiefe und bedeutende Eindrücke wohl in jedem Be-
sucher noch lange nachklingen werden. Helene v. Willemoes-
Suhm
las ihre fünfaktige Tragödie "Savonarola" vor. Die
Dichterin schildert uns in dieser Schöpfung mit psychologischer und
künstlerischer Meisterschaft den Werdegang, die Wandlung und Ent-
wicklung einer urmächtigen großen und reinen Seele, den sie in der
gigantischen geistigen Feuergestalt des Florentiner Dominikaner-
mönches typisch vermenschlicht. Im letzten Akt erreicht der geistige
Lebensgang und Aufstieg seinen Höhepunkt; er gipfelt in einem
ungeheueren, unaussprechbaren inneren Erlebnis, das Savonarola
in die Formel "Ich habe Gott geschaut" zusammenfaßt. Dieses
Seelenerlebnis ist das natürliche Ergebnis, die notwendige Frucht
aller seiner heißen furchtbaren Geistes- und Herzenskämpfe. Es
führt ihn auf den höchsten wolkenlosen Gipfel der Erkenntnis und
des Lebens, von dem aus sein befreiter Blick mit unsagbarer Selig-
keit die ganzen Welten und Weiten des Menschlichen, der Völker und
Zeiten überschaut, bis zu den fernsten Horizontgrenzen, wo die
Sonne der Gottheit leuchtend aufgeht. Von dieser Höhe aus erscheint
ihm alles Alltägliche, alles, was unter der Herrschaft der "Gegen-
wart" steht, klein und unbedeutend, auch sein eigenes Streiten und
Kämpfen im engen Rahmen der Kirche und des Staates. Aber so
klein und unwichtig alles das ist, all dieses "Diesseits", so notwendig
ist es andrerseits im Zusammenhange der großen Entwicklung, als
Vorstufe, als Vorwelt zum "Jenseits", an dessen Tor er jetzt steht.
Dieses Tor ist der Tod. Wohl das Ende des kleinen "Dies-
seits", aber der Anfang, der Zugang zum großen "Jenseits",
[zu] einer neuen höheren Region auf dem Wege zu Gott, zu dem
er "die ganze Menschheit auf der Wanderung" sieht. So ist ihm
der große Gottgedanke des Werdens in seiner ganzen Tiefe auf-
gegangen. So verstehen wir das namenlose Glück seines Sterbens.
So verstehen wir aber auch die Notwendigkeit seines Todes. Denn
mit der Erkenntnis ist das Ziel seines Erdenlebens erreicht, mit
diesem Erlebnis ist er reif zum großen Uebergang geworden.

[Spaltenumbruch]

Die große starke Kunst von Helene von Willemoes zeigt sich
darin, daß sie uns diese ganze tiefinnerliche Handlung in wunder-
barer psychologischer Plastik und lebendig-dramatischer Persönlich-
keitsgestaltung und mittelbar zu Sinn und Seele führt, so daß der
Savonarola auch für den Hörer ein Erlebnis von hoher innerer
Schönheit wird. Mit sicherer Charakterzeichnung und echter Lebens-
farbe sind die Personen und das Leben von Florenz im Cinquecento
dargestellt und die Gegensätze verkörpert, aus denen sich der tragische
Konflikt zu seiner ganzen Größe entwickelt. Der in wirkungsvoller
Steigerung gegliederte Aufbau des Werkes legt Zeugnis ab von
einer vollkommenen Beherrschung der dramatischen Architektur.

Es ist kaum zu bezweifeln, daß der "Savonarola" von Helene
von Willemoes-Suhm, der schon einer Kunststätte wie dem Hof-
theater zu Weimar, mit Karl Weiser in der Titelrolle, seine Feuer-
probe glänzend bestanden hat, bei wiederholter Aufführung immer
mehr ein Repertoirestück der deutschen Bühne von hohem dichteri-
schen Rang und nie versagender Wirkung werden würde. Die
Dichterin verstand es, ihre Schöpfung mit schlichter Natürlichkeit und
Lebendigkeit, dabei mit eindringlicher Feinheit zum Vortrag zu
bringen, wie die Ergriffenheit und der spontane Beifall der zahl-
reichen verständnisvollen Zuhörerschaft aufs beste bestätigten.

Feuilleton
Die schwere Weltenstunde.
In Schicksalswehen liegt die alte Zeit:
Der Gottheit soll sie neue Welt gebären.
Durch ihren Erdenleib zuckt Werdezittern,
Da sinken Völker röchelnd hin im Blut,
Da brechen Städte, flammensturmdurchwühlt ...
Gequälte Mutter, welcher Art ein Kind
Wird deinem Schoß entsteigen? Welch ein Los
Bestimmt ihm ewige Notwendigkeit?
Wird götterschön sie auf zum Himmel wachsen,
Die Tochter deiner angstbedrängten Stunde,
Und, treu von dir gehegt, genährt, geführt,
Dir ähnlich, dich an Glanze überstrahlen?
Bringt sie Erfüllung deinem Sehnsuchtstraume?
Bringt sie dem Dater guten Kindes Dank
Im Strahlenkranze rein'rer Menschlichkeit?
Wie, oder wird sie in zu heißem Ringen
Nach Licht und Kraft dich schmerzzerissne Mutter
Dem Tode weihen und verwegnen Sinns
Nach eigner Führung unerhörte Wege
In Blut und Qual und dumpfem Wahne wandeln,
Bis lange Not sie späte Weisheit lehrt?
Wer kündet's? Tretet doch, Propheten, vor!
Zeigt eure Kunst, wenn ihr ins Eingeweide,
Ins lebensschwangre, saht der dunkeln Zeit!
Jedoch ihr faselt nur! Wer kann das Regen
Der hunderttausendfältigen Kräfte deuten?
Die Zukunft offenbarts. Was sie auch bringe,
Wir wollen's still erwarten, stark es tragen
Und größer werden durch die Not des Tags!


Deutschlands Zukunft.

Robert Hamerling, der Dichter des "Ahasver in Rom"
(geboren am 24. März 1830 in Kirchberg am Wald (Niederöster-
reich), gestorben am 25. Januar 1889), brachte kurz vor seinem
Tode die folgende Weissagung in Verse:

8. Mai 1915. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Luiſe von François, alle Meiſterwerke Anzengrubers, Viſchers
„Auch Einer“, Kellers und Meyers „Geſammelte Gedichte“. Da-
neben Werke von Döllinger, Ranke und Strauß, Fechners „Vor-
ſchule der Aeſthetik“, die Vorleſungen über Goethe von Hermann
Grimm, ſeine und Hillebrands Eſſais, Treitſchkes „Deutſche Ge-
ſchichte“, Scherers Literaturgeſchichte, den ganzen Nietzſche bis zum
„Zarathuſtra“. In der Muſik alle Hauptwerke von Brahms und
Bruckner, in der Malerei die Schöpfungen jener Maler, die wir
jetzt am höchſten ſchätzen.

Die Liſte, die ſich leicht verdoppeln ließe, dürfte für anſpruchs-
vollen Kulturverbrauch genügen. Man wende nicht ein, die
Schweizer dürften nicht mitgezählt werden. Was Meyer anlangt,
ſo wiſſen wir aus ſeinem eigenen Munde, daß erſt der Krieg 1870
ihn zum deutſchen Schriftſteller gemacht hat. Man vergeſſe vor
allem nicht die Gründung der „Deutſchen Rundſchau“ 1874. Sie
wirkte wie ein Magnet auf alles Bedeutende der Zeit. Man ſtelle
neben die „Deutſche Rundſchau“ von 1874 bis 1890 das Beſte der
Jungdeutſchen Entwicklung ſeit 1890 und wähle! Mehr: man ſtelle
neben die deutſche Kunſt und Literatur dieſes Zeitraumes die fran-
zöſiſche und wähle! Keller neben Zola, Meyer neben Daudet,
Raabe neben die Goncourts, Wildenbruch neben Dumas, und
wähle! Daß wir nach Siebzig kein blühendes deutſches Theater
bekamen, iſt wieder eine ſehr komplizierte Sache. Es war naiv,
es zu erwarten. Die es heute beklagen, ſind die Geiſtesverwandten
derer, die es damals verhinderten. Wer heute ein deutſches Theater
will, muß drei Dinge wollen: Schließung der Kinos, weil ſie Schund-
literatur für Analphabeten bieten müſſen, wenn ſie exiſtieren wollen.
Schließung der Varietés mit literariſchen Anſprüchen, weil ſie die
Literatur verſchweinen müſſen, wenn ſie exiſtieren wollen. Schlie-
ßung der Hälfte der Theater, weil ſie von Anfang an überflüſſige
Spekulationen ohne Exiſtenzberechtigung waren. Weil alle drei
durch die Konkurrenz rettungslos ins Senſationelle und ins Ordi-
näre getrieben werden.

Nein, die Gefahr iſt nicht, daß es ſchlechter werde als vor dem
Krieg. Schlechter kann es nicht werden. Spielpläne, Belletriſtik,
Malerei, Lyrik im Sommer 1914 — der Weltkrieg mußte kommen.
Aber die Gefahr iſt, daß die Männer fallen und die Intellektuellen
übrig bleiben.“



Die Geſellſchaft für künſtleriſche Kultur veranſtaltete im Kon-
zertſaal Schmid am Freitag, den 30. April, einen Vortrags-
Abend,
deſſen tiefe und bedeutende Eindrücke wohl in jedem Be-
ſucher noch lange nachklingen werden. Helene v. Willemoës-
Suhm
las ihre fünfaktige Tragödie „Savonarola“ vor. Die
Dichterin ſchildert uns in dieſer Schöpfung mit pſychologiſcher und
künſtleriſcher Meiſterſchaft den Werdegang, die Wandlung und Ent-
wicklung einer urmächtigen großen und reinen Seele, den ſie in der
gigantiſchen geiſtigen Feuergeſtalt des Florentiner Dominikaner-
mönches typiſch vermenſchlicht. Im letzten Akt erreicht der geiſtige
Lebensgang und Aufſtieg ſeinen Höhepunkt; er gipfelt in einem
ungeheueren, unausſprechbaren inneren Erlebnis, das Savonarola
in die Formel „Ich habe Gott geſchaut“ zuſammenfaßt. Dieſes
Seelenerlebnis iſt das natürliche Ergebnis, die notwendige Frucht
aller ſeiner heißen furchtbaren Geiſtes- und Herzenskämpfe. Es
führt ihn auf den höchſten wolkenloſen Gipfel der Erkenntnis und
des Lebens, von dem aus ſein befreiter Blick mit unſagbarer Selig-
keit die ganzen Welten und Weiten des Menſchlichen, der Völker und
Zeiten überſchaut, bis zu den fernſten Horizontgrenzen, wo die
Sonne der Gottheit leuchtend aufgeht. Von dieſer Höhe aus erſcheint
ihm alles Alltägliche, alles, was unter der Herrſchaft der „Gegen-
wart“ ſteht, klein und unbedeutend, auch ſein eigenes Streiten und
Kämpfen im engen Rahmen der Kirche und des Staates. Aber ſo
klein und unwichtig alles das iſt, all dieſes „Diesſeits“, ſo notwendig
iſt es andrerſeits im Zuſammenhange der großen Entwicklung, als
Vorſtufe, als Vorwelt zum „Jenſeits“, an deſſen Tor er jetzt ſteht.
Dieſes Tor iſt der Tod. Wohl das Ende des kleinen „Dies-
ſeits“, aber der Anfang, der Zugang zum großen „Jenſeits“,
[zu] einer neuen höheren Region auf dem Wege zu Gott, zu dem
er „die ganze Menſchheit auf der Wanderung“ ſieht. So iſt ihm
der große Gottgedanke des Werdens in ſeiner ganzen Tiefe auf-
gegangen. So verſtehen wir das namenloſe Glück ſeines Sterbens.
So verſtehen wir aber auch die Notwendigkeit ſeines Todes. Denn
mit der Erkenntnis iſt das Ziel ſeines Erdenlebens erreicht, mit
dieſem Erlebnis iſt er reif zum großen Uebergang geworden.

[Spaltenumbruch]

Die große ſtarke Kunſt von Helene von Willemoës zeigt ſich
darin, daß ſie uns dieſe ganze tiefinnerliche Handlung in wunder-
barer pſychologiſcher Plaſtik und lebendig-dramatiſcher Perſönlich-
keitsgeſtaltung und mittelbar zu Sinn und Seele führt, ſo daß der
Savonarola auch für den Hörer ein Erlebnis von hoher innerer
Schönheit wird. Mit ſicherer Charakterzeichnung und echter Lebens-
farbe ſind die Perſonen und das Leben von Florenz im Cinquecento
dargeſtellt und die Gegenſätze verkörpert, aus denen ſich der tragiſche
Konflikt zu ſeiner ganzen Größe entwickelt. Der in wirkungsvoller
Steigerung gegliederte Aufbau des Werkes legt Zeugnis ab von
einer vollkommenen Beherrſchung der dramatiſchen Architektur.

Es iſt kaum zu bezweifeln, daß der „Savonarola“ von Helene
von Willemoës-Suhm, der ſchon einer Kunſtſtätte wie dem Hof-
theater zu Weimar, mit Karl Weiſer in der Titelrolle, ſeine Feuer-
probe glänzend beſtanden hat, bei wiederholter Aufführung immer
mehr ein Repertoireſtück der deutſchen Bühne von hohem dichteri-
ſchen Rang und nie verſagender Wirkung werden würde. Die
Dichterin verſtand es, ihre Schöpfung mit ſchlichter Natürlichkeit und
Lebendigkeit, dabei mit eindringlicher Feinheit zum Vortrag zu
bringen, wie die Ergriffenheit und der ſpontane Beifall der zahl-
reichen verſtändnisvollen Zuhörerſchaft aufs beſte beſtätigten.

Feuilleton
Die ſchwere Weltenſtunde.
In Schickſalswehen liegt die alte Zeit:
Der Gottheit ſoll ſie neue Welt gebären.
Durch ihren Erdenleib zuckt Werdezittern,
Da ſinken Völker röchelnd hin im Blut,
Da brechen Städte, flammenſturmdurchwühlt ...
Gequälte Mutter, welcher Art ein Kind
Wird deinem Schoß entſteigen? Welch ein Los
Beſtimmt ihm ewige Notwendigkeit?
Wird götterſchön ſie auf zum Himmel wachſen,
Die Tochter deiner angſtbedrängten Stunde,
Und, treu von dir gehegt, genährt, geführt,
Dir ähnlich, dich an Glanze überſtrahlen?
Bringt ſie Erfüllung deinem Sehnſuchtſtraume?
Bringt ſie dem Dater guten Kindes Dank
Im Strahlenkranze rein’rer Menſchlichkeit?
Wie, oder wird ſie in zu heißem Ringen
Nach Licht und Kraft dich ſchmerzzeriſſne Mutter
Dem Tode weihen und verwegnen Sinns
Nach eigner Führung unerhörte Wege
In Blut und Qual und dumpfem Wahne wandeln,
Bis lange Not ſie ſpäte Weisheit lehrt?
Wer kündet’s? Tretet doch, Propheten, vor!
Zeigt eure Kunſt, wenn ihr ins Eingeweide,
Ins lebensſchwangre, ſaht der dunkeln Zeit!
Jedoch ihr faſelt nur! Wer kann das Regen
Der hunderttauſendfältigen Kräfte deuten?
Die Zukunft offenbarts. Was ſie auch bringe,
Wir wollen’s ſtill erwarten, ſtark es tragen
Und größer werden durch die Not des Tags!


Deutſchlands Zukunft.

Robert Hamerling, der Dichter des „Ahasver in Rom“
(geboren am 24. März 1830 in Kirchberg am Wald (Niederöſter-
reich), geſtorben am 25. Januar 1889), brachte kurz vor ſeinem
Tode die folgende Weisſagung in Verſe:

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[Seite 285.[285]/0011] 8. Mai 1915. Allgemeine Zeitung Luiſe von François, alle Meiſterwerke Anzengrubers, Viſchers „Auch Einer“, Kellers und Meyers „Geſammelte Gedichte“. Da- neben Werke von Döllinger, Ranke und Strauß, Fechners „Vor- ſchule der Aeſthetik“, die Vorleſungen über Goethe von Hermann Grimm, ſeine und Hillebrands Eſſais, Treitſchkes „Deutſche Ge- ſchichte“, Scherers Literaturgeſchichte, den ganzen Nietzſche bis zum „Zarathuſtra“. In der Muſik alle Hauptwerke von Brahms und Bruckner, in der Malerei die Schöpfungen jener Maler, die wir jetzt am höchſten ſchätzen. Die Liſte, die ſich leicht verdoppeln ließe, dürfte für anſpruchs- vollen Kulturverbrauch genügen. Man wende nicht ein, die Schweizer dürften nicht mitgezählt werden. Was Meyer anlangt, ſo wiſſen wir aus ſeinem eigenen Munde, daß erſt der Krieg 1870 ihn zum deutſchen Schriftſteller gemacht hat. Man vergeſſe vor allem nicht die Gründung der „Deutſchen Rundſchau“ 1874. Sie wirkte wie ein Magnet auf alles Bedeutende der Zeit. Man ſtelle neben die „Deutſche Rundſchau“ von 1874 bis 1890 das Beſte der Jungdeutſchen Entwicklung ſeit 1890 und wähle! Mehr: man ſtelle neben die deutſche Kunſt und Literatur dieſes Zeitraumes die fran- zöſiſche und wähle! Keller neben Zola, Meyer neben Daudet, Raabe neben die Goncourts, Wildenbruch neben Dumas, und wähle! Daß wir nach Siebzig kein blühendes deutſches Theater bekamen, iſt wieder eine ſehr komplizierte Sache. Es war naiv, es zu erwarten. Die es heute beklagen, ſind die Geiſtesverwandten derer, die es damals verhinderten. Wer heute ein deutſches Theater will, muß drei Dinge wollen: Schließung der Kinos, weil ſie Schund- literatur für Analphabeten bieten müſſen, wenn ſie exiſtieren wollen. Schließung der Varietés mit literariſchen Anſprüchen, weil ſie die Literatur verſchweinen müſſen, wenn ſie exiſtieren wollen. Schlie- ßung der Hälfte der Theater, weil ſie von Anfang an überflüſſige Spekulationen ohne Exiſtenzberechtigung waren. Weil alle drei durch die Konkurrenz rettungslos ins Senſationelle und ins Ordi- näre getrieben werden. Nein, die Gefahr iſt nicht, daß es ſchlechter werde als vor dem Krieg. Schlechter kann es nicht werden. Spielpläne, Belletriſtik, Malerei, Lyrik im Sommer 1914 — der Weltkrieg mußte kommen. Aber die Gefahr iſt, daß die Männer fallen und die Intellektuellen übrig bleiben.“ Die Geſellſchaft für künſtleriſche Kultur veranſtaltete im Kon- zertſaal Schmid am Freitag, den 30. April, einen Vortrags- Abend, deſſen tiefe und bedeutende Eindrücke wohl in jedem Be- ſucher noch lange nachklingen werden. Helene v. Willemoës- Suhm las ihre fünfaktige Tragödie „Savonarola“ vor. Die Dichterin ſchildert uns in dieſer Schöpfung mit pſychologiſcher und künſtleriſcher Meiſterſchaft den Werdegang, die Wandlung und Ent- wicklung einer urmächtigen großen und reinen Seele, den ſie in der gigantiſchen geiſtigen Feuergeſtalt des Florentiner Dominikaner- mönches typiſch vermenſchlicht. Im letzten Akt erreicht der geiſtige Lebensgang und Aufſtieg ſeinen Höhepunkt; er gipfelt in einem ungeheueren, unausſprechbaren inneren Erlebnis, das Savonarola in die Formel „Ich habe Gott geſchaut“ zuſammenfaßt. Dieſes Seelenerlebnis iſt das natürliche Ergebnis, die notwendige Frucht aller ſeiner heißen furchtbaren Geiſtes- und Herzenskämpfe. Es führt ihn auf den höchſten wolkenloſen Gipfel der Erkenntnis und des Lebens, von dem aus ſein befreiter Blick mit unſagbarer Selig- keit die ganzen Welten und Weiten des Menſchlichen, der Völker und Zeiten überſchaut, bis zu den fernſten Horizontgrenzen, wo die Sonne der Gottheit leuchtend aufgeht. Von dieſer Höhe aus erſcheint ihm alles Alltägliche, alles, was unter der Herrſchaft der „Gegen- wart“ ſteht, klein und unbedeutend, auch ſein eigenes Streiten und Kämpfen im engen Rahmen der Kirche und des Staates. Aber ſo klein und unwichtig alles das iſt, all dieſes „Diesſeits“, ſo notwendig iſt es andrerſeits im Zuſammenhange der großen Entwicklung, als Vorſtufe, als Vorwelt zum „Jenſeits“, an deſſen Tor er jetzt ſteht. Dieſes Tor iſt der Tod. Wohl das Ende des kleinen „Dies- ſeits“, aber der Anfang, der Zugang zum großen „Jenſeits“, zu einer neuen höheren Region auf dem Wege zu Gott, zu dem er „die ganze Menſchheit auf der Wanderung“ ſieht. So iſt ihm der große Gottgedanke des Werdens in ſeiner ganzen Tiefe auf- gegangen. So verſtehen wir das namenloſe Glück ſeines Sterbens. So verſtehen wir aber auch die Notwendigkeit ſeines Todes. Denn mit der Erkenntnis iſt das Ziel ſeines Erdenlebens erreicht, mit dieſem Erlebnis iſt er reif zum großen Uebergang geworden. Die große ſtarke Kunſt von Helene von Willemoës zeigt ſich darin, daß ſie uns dieſe ganze tiefinnerliche Handlung in wunder- barer pſychologiſcher Plaſtik und lebendig-dramatiſcher Perſönlich- keitsgeſtaltung und mittelbar zu Sinn und Seele führt, ſo daß der Savonarola auch für den Hörer ein Erlebnis von hoher innerer Schönheit wird. Mit ſicherer Charakterzeichnung und echter Lebens- farbe ſind die Perſonen und das Leben von Florenz im Cinquecento dargeſtellt und die Gegenſätze verkörpert, aus denen ſich der tragiſche Konflikt zu ſeiner ganzen Größe entwickelt. Der in wirkungsvoller Steigerung gegliederte Aufbau des Werkes legt Zeugnis ab von einer vollkommenen Beherrſchung der dramatiſchen Architektur. Es iſt kaum zu bezweifeln, daß der „Savonarola“ von Helene von Willemoës-Suhm, der ſchon einer Kunſtſtätte wie dem Hof- theater zu Weimar, mit Karl Weiſer in der Titelrolle, ſeine Feuer- probe glänzend beſtanden hat, bei wiederholter Aufführung immer mehr ein Repertoireſtück der deutſchen Bühne von hohem dichteri- ſchen Rang und nie verſagender Wirkung werden würde. Die Dichterin verſtand es, ihre Schöpfung mit ſchlichter Natürlichkeit und Lebendigkeit, dabei mit eindringlicher Feinheit zum Vortrag zu bringen, wie die Ergriffenheit und der ſpontane Beifall der zahl- reichen verſtändnisvollen Zuhörerſchaft aufs beſte beſtätigten. Dr. Max Zerbſt. Feuilleton Die ſchwere Weltenſtunde. In Schickſalswehen liegt die alte Zeit: Der Gottheit ſoll ſie neue Welt gebären. Durch ihren Erdenleib zuckt Werdezittern, Da ſinken Völker röchelnd hin im Blut, Da brechen Städte, flammenſturmdurchwühlt ... Gequälte Mutter, welcher Art ein Kind Wird deinem Schoß entſteigen? Welch ein Los Beſtimmt ihm ewige Notwendigkeit? Wird götterſchön ſie auf zum Himmel wachſen, Die Tochter deiner angſtbedrängten Stunde, Und, treu von dir gehegt, genährt, geführt, Dir ähnlich, dich an Glanze überſtrahlen? Bringt ſie Erfüllung deinem Sehnſuchtſtraume? Bringt ſie dem Dater guten Kindes Dank Im Strahlenkranze rein’rer Menſchlichkeit? Wie, oder wird ſie in zu heißem Ringen Nach Licht und Kraft dich ſchmerzzeriſſne Mutter Dem Tode weihen und verwegnen Sinns Nach eigner Führung unerhörte Wege In Blut und Qual und dumpfem Wahne wandeln, Bis lange Not ſie ſpäte Weisheit lehrt? Wer kündet’s? Tretet doch, Propheten, vor! Zeigt eure Kunſt, wenn ihr ins Eingeweide, Ins lebensſchwangre, ſaht der dunkeln Zeit! Jedoch ihr faſelt nur! Wer kann das Regen Der hunderttauſendfältigen Kräfte deuten? Die Zukunft offenbarts. Was ſie auch bringe, Wir wollen’s ſtill erwarten, ſtark es tragen Und größer werden durch die Not des Tags! Wolfgang Oskar. Deutſchlands Zukunft. Robert Hamerling, der Dichter des „Ahasver in Rom“ (geboren am 24. März 1830 in Kirchberg am Wald (Niederöſter- reich), geſtorben am 25. Januar 1889), brachte kurz vor ſeinem Tode die folgende Weisſagung in Verſe:

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 8. Mai 1915, S. Seite 285.[285]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine19_1915/11>, abgerufen am 23.11.2024.