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Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920.

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Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920
[Spaltenumbruch]

hängige Studienrat Paul Oestreich, ruft in einer Ab-
rechnung dem ihm allzu weichen und zaghaften preußi-
schen Kultusminister Konrad Hänisch wörtlich zu: "Konrad,
werde hart! Konrad, vermittle nicht mehr! Wir sind wenige,
aber rücksichtslose Gesellen!" Von solchem Geiste sind alle
Ausführungen getragen. Es herrscht eitel Sturm und Drang.
Man rechnet kaum mit praktischen Möglichkeiten, man schleu-
dert nur Ideen in die Massen, oft genug in scharfem Wider-
spruch zueinander. Bezeichnend ist ihre Auffassung vom
Wesen der Freiheit. Oberlehrer Karsen, jetzt Direktor der
ehemaligen Kadettenanstalt in Groß-Lichterfelde, eifert feurig
gegen jede äußere Autorität, möge sie Vater oder Lehrer oder
Vorgesetzter ausüben wollen, und verkündet in großen Tönen
das innere Recht des Menschen, auch des Kindes. Aber
Oestreich wettert gegen jene mutigen Schüler, die ihre
deutschnationale Gesinnung bekunden, und ruft sofort die
volle Autorität des Herrn Ministers gegen diese Schulbuben
auf; wer sich dem neuen Geiste nicht füge, müsse eben über
die Klinge springen. Und Herr Direktor Karsen selbst
wirst jetzt die armen Kadetten, die ihr Recht auf christliche
und nationale Erziehung geltend machen, erbarmungslos auf
die Straßen -- alles Kriegerwaisen! Das ist aber die wahre
Freiheit.

Wie gefährlich diese Leute in ihrer sinnlosen Joeologie
sind, mag noch ein Beispiel zeigen. Ein 31jähriger Berliner
Oberlehrer Felix Emmel verbreitet sich über den "Gefühls-
gehalt in der neuen Erziehung" und regt sich heftig über die
"verderbliche, rasende Wirkung des Geschlechtstriebes" auf
Er fordert "Triebbejahung. Die Schule muß Mut zu rückhalt-
loser Offenheit in allen körperlichen Dingen finden. Knaben
und Mädchen müssen zusammen erzogen werden und von
früh an sich an den Anblick ihrer nackten Körper ge-
wöhnen. Die geschlechtliche Unterweisung muß zwanglos und
offen erfolgen." Er verlangt außerdem ein "Pausenjahr" für
die Zeit von 14--15 Jahren, das "jene Erlebniserzie-
hung
vermitteln soll, die den Eros für das sittliche Leben
mobilisiert". Das ist ungefähr das Stärkste, was diese reifen
Pädagogen und Volkserzieher sich leisten, aber ihre sonstigen
Anschauungen über Staat, Volkstum, Sittlichkeit und andere
Güter, die wir früher hochzuschätzen gewohnt waren, stehen
auf gleicher Höhe, auf derselben etwa wie das Schulpro-
gramm der Unabhängigen sozialdemokratischen Partei, das
soeben von deren Zentraikomitee veröffentlicht wird und
nichts Geringeres als die "Sozialisierung der Familie" er-
strebt. -- Das Lesen dieses Buches ist weitesten Kreisen der
Philologen und der Elternschaft, besonders soweit sie den
bürgerlichen Parteien angehören, zu empfehlen. Denn es
muß allgemein bekannt werden, was uns blüht, wenn diese
Herrschaften den Sieg davontragen. Man muß den Gegner
genau kennen, um den Kampf gegen ihn erfolgreich aufneh-
men zu können.

Glücklicherweise sind aber auch noch andere, wertvollere
Hilfsmittel vorhanden, um ein Bild von der Lage der Schul-
reformbestrebungen zu gewinnen, auch für solche, die nicht
die Möglichkeit haben, sich selbst durch die fast schon unüber-
sehbar gewordene Masse der pädagogischen Literatur hin-
durchzuarbeiten. Da ist namentlich ein drittes Sammelweck
zu nennen, das von katholischer Seite ausgeht, sich aber durch
hervorragende Sachlichkeit und Unparteilichkeit auszeichnet:
"Schulsorderungen der Gegenwart", herausge-
geben für den Ausschuß für Fragen der Schulreform, Verein
Kathol. Deutscher Lehrerinnen und Verband Kath. Ober-
lehrerinnen Deutschlands, von A. Pfennings und M.
Rüberg (Paderborn, Ferd. Schöningh, 1919; 171 Seiten,
6.25 M.). Seinem Ursprunge nach ist es selbstverständlich,
daß die katholische Weltanschauung für die Stellungnahme bei
der Erörterung von allerhand besonderen Erziehungs- und
Bildungsfragen, die den ersten Teil umfassen, ausschlag-
gebend ist. Aber alle Darlegungen sind so sachlich und ver-
ständnisvoll gehalten, daß sie jeder auf christlichem Boden
stehende Leser, auch der protestantische, in allen grundlegen-
den Hauptsachen -- abgesehen von den menigen ausschließlich
konfessionellen Punkten -- als zutreffend anerkennen kann;
denn die Verfasser sind sich durchweg vollbewußt, daß es sich
bei unserer Schulreform nicht so sehr um Bekenntnisfragen
als vielmehr um Sein oder Nichtsein des christlichen

[Spaltenumbruch]

Erziehungsideals handelt. Noch wichtiger aber als der theo-
retische Teil mit seinen Einzelaufsätzen ist der Inhalt des
zweiten Teiles; dieser bringt eine ganz vorzügliche Zu-
sammenstellung von Quellenstoff, wie man sie sonst nirgends
findet. Er enthält alle wichtigen, bis etwa zum Herbst
1919 vorliegenden Schulprogramme der Gegenwart,
der großen Lehrer- und Lehrerinnenverbände und -vereine
aller Gruppen, der katholischen und evangelischen, der preußt-
schen und außerpreußischen, der Oberlehrerschaft, der poli-
tischen Parteien mit Einschluß der Sozialdemokraten und
jungsozialen Lehrer und schließlich auch noch die einschlägigen
Artikel der Verfassung und den vom preußischen Kultus-
ministerium aufgestellten Entwurf über die Neuordnung des
deutschen Schulwesens. Solches Material hätte auch das
"Handbuch" bringen sollen; denn von den Leuten, die pflicht-
gemäß zu den einzelnen Fragen der Schulreform Stellung zu
nehmen haben, war zu verlangen, daß sie die Quellen kennen
und aus ihnen ihre Ansicht gewönnen.

Von der Reichsschulkonferenz aber darf man erwarten,
daß dort auch nicht alles so heiß gegessen wird, wie man es
kocht. Heinrich Schulz sagt selbst von ihr -- und das ist wirk-
lich staatsmännische Weisheit --, unsere Hoffnung dürfe sich
nicht auf Mehrheitsbeschlüsse einstellen, die etwa der zukünf-
tigen Reichsschulgesetzgebung eine gebundene Marschroute zu
geben hätten. Dazu ist das deutsche Schulwesen noch zu sehr
in gärender Bewegung. Aber sie wird viel Material zusam-
menbringen, vielleicht sogar schätzenswertes; ob es "an in-
nerer Bedeutung unübertrefflich" sein wird, wie Herr Schulz
in stolzer Vaterfreude etwas voreilig meint, werden erst die
Verhandlungen selbst lehren müssen.

Eine wirklich gesunde Neuordnung unseres Schul-
wesens dürfen wir erst erhoffen, wenn das deutsche Volk
wieder gesundet und aus dem Taumel aller bösen Leiden-
schaften erwacht sein wird, in dem es sich bis jetzt selbst zer-
fleischt. Dann aber wird es gelten. drei wichtigste Grund-
forderungen aufzustellen und durchzuführen: Erziehung un-
seres Nachwuchses zu Arbeitsamkeit, Pflichtge-
fühl
und zu starker Liebe, Erkenntnis und Schätzung
deutschen Volkstums.

Theater und Musik
Münchener Theater.

Prinzregenten-Theater. Aus Lope de Vegas' Stoff
"Las pazes de los Reyes y Judia de Toledo" von Grillparzer
mit den modernen Mitteln seiner eigenen Zeit geformt und aus
den Anschauungen des 19. Jahrhunderts gestaltet, bleibt die

[irrelevantes Material]
Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920
[Spaltenumbruch]

hängige Studienrat Paul Oeſtreich, ruft in einer Ab-
rechnung dem ihm allzu weichen und zaghaften preußi-
ſchen Kultusminiſter Konrad Häniſch wörtlich zu: „Konrad,
werde hart! Konrad, vermittle nicht mehr! Wir ſind wenige,
aber rückſichtsloſe Geſellen!“ Von ſolchem Geiſte ſind alle
Ausführungen getragen. Es herrſcht eitel Sturm und Drang.
Man rechnet kaum mit praktiſchen Möglichkeiten, man ſchleu-
dert nur Ideen in die Maſſen, oft genug in ſcharfem Wider-
ſpruch zueinander. Bezeichnend iſt ihre Auffaſſung vom
Weſen der Freiheit. Oberlehrer Karſen, jetzt Direktor der
ehemaligen Kadettenanſtalt in Groß-Lichterfelde, eifert feurig
gegen jede äußere Autorität, möge ſie Vater oder Lehrer oder
Vorgeſetzter ausüben wollen, und verkündet in großen Tönen
das innere Recht des Menſchen, auch des Kindes. Aber
Oeſtreich wettert gegen jene mutigen Schüler, die ihre
deutſchnationale Geſinnung bekunden, und ruft ſofort die
volle Autorität des Herrn Miniſters gegen dieſe Schulbuben
auf; wer ſich dem neuen Geiſte nicht füge, müſſe eben über
die Klinge ſpringen. Und Herr Direktor Karſen ſelbſt
wirſt jetzt die armen Kadetten, die ihr Recht auf chriſtliche
und nationale Erziehung geltend machen, erbarmungslos auf
die Straßen — alles Kriegerwaiſen! Das iſt aber die wahre
Freiheit.

Wie gefährlich dieſe Leute in ihrer ſinnloſen Joeologie
ſind, mag noch ein Beiſpiel zeigen. Ein 31jähriger Berliner
Oberlehrer Felix Emmel verbreitet ſich über den „Gefühls-
gehalt in der neuen Erziehung“ und regt ſich heftig über die
„verderbliche, raſende Wirkung des Geſchlechtstriebes“ auf
Er fordert „Triebbejahung. Die Schule muß Mut zu rückhalt-
loſer Offenheit in allen körperlichen Dingen finden. Knaben
und Mädchen müſſen zuſammen erzogen werden und von
früh an ſich an den Anblick ihrer nackten Körper ge-
wöhnen. Die geſchlechtliche Unterweiſung muß zwanglos und
offen erfolgen.“ Er verlangt außerdem ein „Pauſenjahr“ für
die Zeit von 14—15 Jahren, das „jene Erlebniserzie-
hung
vermitteln ſoll, die den Eros für das ſittliche Leben
mobiliſiert“. Das iſt ungefähr das Stärkſte, was dieſe reifen
Pädagogen und Volkserzieher ſich leiſten, aber ihre ſonſtigen
Anſchauungen über Staat, Volkstum, Sittlichkeit und andere
Güter, die wir früher hochzuſchätzen gewohnt waren, ſtehen
auf gleicher Höhe, auf derſelben etwa wie das Schulpro-
gramm der Unabhängigen ſozialdemokratiſchen Partei, das
ſoeben von deren Zentraikomitee veröffentlicht wird und
nichts Geringeres als die „Sozialiſierung der Familie“ er-
ſtrebt. — Das Leſen dieſes Buches iſt weiteſten Kreiſen der
Philologen und der Elternſchaft, beſonders ſoweit ſie den
bürgerlichen Parteien angehören, zu empfehlen. Denn es
muß allgemein bekannt werden, was uns blüht, wenn dieſe
Herrſchaften den Sieg davontragen. Man muß den Gegner
genau kennen, um den Kampf gegen ihn erfolgreich aufneh-
men zu können.

Glücklicherweiſe ſind aber auch noch andere, wertvollere
Hilfsmittel vorhanden, um ein Bild von der Lage der Schul-
reformbeſtrebungen zu gewinnen, auch für ſolche, die nicht
die Möglichkeit haben, ſich ſelbſt durch die faſt ſchon unüber-
ſehbar gewordene Maſſe der pädagogiſchen Literatur hin-
durchzuarbeiten. Da iſt namentlich ein drittes Sammelweck
zu nennen, das von katholiſcher Seite ausgeht, ſich aber durch
hervorragende Sachlichkeit und Unparteilichkeit auszeichnet:
Schulſorderungen der Gegenwart“, herausge-
geben für den Ausſchuß für Fragen der Schulreform, Verein
Kathol. Deutſcher Lehrerinnen und Verband Kath. Ober-
lehrerinnen Deutſchlands, von A. Pfennings und M.
Rüberg (Paderborn, Ferd. Schöningh, 1919; 171 Seiten,
6.25 M.). Seinem Urſprunge nach iſt es ſelbſtverſtändlich,
daß die katholiſche Weltanſchauung für die Stellungnahme bei
der Erörterung von allerhand beſonderen Erziehungs- und
Bildungsfragen, die den erſten Teil umfaſſen, ausſchlag-
gebend iſt. Aber alle Darlegungen ſind ſo ſachlich und ver-
ſtändnisvoll gehalten, daß ſie jeder auf chriſtlichem Boden
ſtehende Leſer, auch der proteſtantiſche, in allen grundlegen-
den Hauptſachen — abgeſehen von den menigen ausſchließlich
konfeſſionellen Punkten — als zutreffend anerkennen kann;
denn die Verfaſſer ſind ſich durchweg vollbewußt, daß es ſich
bei unſerer Schulreform nicht ſo ſehr um Bekenntnisfragen
als vielmehr um Sein oder Nichtſein des chriſtlichen

[Spaltenumbruch]

Erziehungsideals handelt. Noch wichtiger aber als der theo-
retiſche Teil mit ſeinen Einzelaufſätzen iſt der Inhalt des
zweiten Teiles; dieſer bringt eine ganz vorzügliche Zu-
ſammenſtellung von Quellenſtoff, wie man ſie ſonſt nirgends
findet. Er enthält alle wichtigen, bis etwa zum Herbſt
1919 vorliegenden Schulprogramme der Gegenwart,
der großen Lehrer- und Lehrerinnenverbände und -vereine
aller Gruppen, der katholiſchen und evangeliſchen, der preußt-
ſchen und außerpreußiſchen, der Oberlehrerſchaft, der poli-
tiſchen Parteien mit Einſchluß der Sozialdemokraten und
jungſozialen Lehrer und ſchließlich auch noch die einſchlägigen
Artikel der Verfaſſung und den vom preußiſchen Kultus-
miniſterium aufgeſtellten Entwurf über die Neuordnung des
deutſchen Schulweſens. Solches Material hätte auch das
„Handbuch“ bringen ſollen; denn von den Leuten, die pflicht-
gemäß zu den einzelnen Fragen der Schulreform Stellung zu
nehmen haben, war zu verlangen, daß ſie die Quellen kennen
und aus ihnen ihre Anſicht gewönnen.

Von der Reichsſchulkonferenz aber darf man erwarten,
daß dort auch nicht alles ſo heiß gegeſſen wird, wie man es
kocht. Heinrich Schulz ſagt ſelbſt von ihr — und das iſt wirk-
lich ſtaatsmänniſche Weisheit —, unſere Hoffnung dürfe ſich
nicht auf Mehrheitsbeſchlüſſe einſtellen, die etwa der zukünf-
tigen Reichsſchulgeſetzgebung eine gebundene Marſchroute zu
geben hätten. Dazu iſt das deutſche Schulweſen noch zu ſehr
in gärender Bewegung. Aber ſie wird viel Material zuſam-
menbringen, vielleicht ſogar ſchätzenswertes; ob es „an in-
nerer Bedeutung unübertrefflich“ ſein wird, wie Herr Schulz
in ſtolzer Vaterfreude etwas voreilig meint, werden erſt die
Verhandlungen ſelbſt lehren müſſen.

Eine wirklich geſunde Neuordnung unſeres Schul-
weſens dürfen wir erſt erhoffen, wenn das deutſche Volk
wieder geſundet und aus dem Taumel aller böſen Leiden-
ſchaften erwacht ſein wird, in dem es ſich bis jetzt ſelbſt zer-
fleiſcht. Dann aber wird es gelten. drei wichtigſte Grund-
forderungen aufzuſtellen und durchzuführen: Erziehung un-
ſeres Nachwuchſes zu Arbeitſamkeit, Pflichtge-
fühl
und zu ſtarker Liebe, Erkenntnis und Schätzung
deutſchen Volkstums.

Theater und Muſik
Münchener Theater.

Prinzregenten-Theater. Aus Lope de Vegas’ Stoff
Las pazes de los Reyes y Judia de Toledo“ von Grillparzer
mit den modernen Mitteln ſeiner eigenen Zeit geformt und aus
den Anſchauungen des 19. Jahrhunderts geſtaltet, bleibt die

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[230/0008] Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920 hängige Studienrat Paul Oeſtreich, ruft in einer Ab- rechnung dem ihm allzu weichen und zaghaften preußi- ſchen Kultusminiſter Konrad Häniſch wörtlich zu: „Konrad, werde hart! Konrad, vermittle nicht mehr! Wir ſind wenige, aber rückſichtsloſe Geſellen!“ Von ſolchem Geiſte ſind alle Ausführungen getragen. Es herrſcht eitel Sturm und Drang. Man rechnet kaum mit praktiſchen Möglichkeiten, man ſchleu- dert nur Ideen in die Maſſen, oft genug in ſcharfem Wider- ſpruch zueinander. Bezeichnend iſt ihre Auffaſſung vom Weſen der Freiheit. Oberlehrer Karſen, jetzt Direktor der ehemaligen Kadettenanſtalt in Groß-Lichterfelde, eifert feurig gegen jede äußere Autorität, möge ſie Vater oder Lehrer oder Vorgeſetzter ausüben wollen, und verkündet in großen Tönen das innere Recht des Menſchen, auch des Kindes. Aber Oeſtreich wettert gegen jene mutigen Schüler, die ihre deutſchnationale Geſinnung bekunden, und ruft ſofort die volle Autorität des Herrn Miniſters gegen dieſe Schulbuben auf; wer ſich dem neuen Geiſte nicht füge, müſſe eben über die Klinge ſpringen. Und Herr Direktor Karſen ſelbſt wirſt jetzt die armen Kadetten, die ihr Recht auf chriſtliche und nationale Erziehung geltend machen, erbarmungslos auf die Straßen — alles Kriegerwaiſen! Das iſt aber die wahre Freiheit. Wie gefährlich dieſe Leute in ihrer ſinnloſen Joeologie ſind, mag noch ein Beiſpiel zeigen. Ein 31jähriger Berliner Oberlehrer Felix Emmel verbreitet ſich über den „Gefühls- gehalt in der neuen Erziehung“ und regt ſich heftig über die „verderbliche, raſende Wirkung des Geſchlechtstriebes“ auf Er fordert „Triebbejahung. Die Schule muß Mut zu rückhalt- loſer Offenheit in allen körperlichen Dingen finden. Knaben und Mädchen müſſen zuſammen erzogen werden und von früh an ſich an den Anblick ihrer nackten Körper ge- wöhnen. Die geſchlechtliche Unterweiſung muß zwanglos und offen erfolgen.“ Er verlangt außerdem ein „Pauſenjahr“ für die Zeit von 14—15 Jahren, das „jene Erlebniserzie- hung vermitteln ſoll, die den Eros für das ſittliche Leben mobiliſiert“. Das iſt ungefähr das Stärkſte, was dieſe reifen Pädagogen und Volkserzieher ſich leiſten, aber ihre ſonſtigen Anſchauungen über Staat, Volkstum, Sittlichkeit und andere Güter, die wir früher hochzuſchätzen gewohnt waren, ſtehen auf gleicher Höhe, auf derſelben etwa wie das Schulpro- gramm der Unabhängigen ſozialdemokratiſchen Partei, das ſoeben von deren Zentraikomitee veröffentlicht wird und nichts Geringeres als die „Sozialiſierung der Familie“ er- ſtrebt. — Das Leſen dieſes Buches iſt weiteſten Kreiſen der Philologen und der Elternſchaft, beſonders ſoweit ſie den bürgerlichen Parteien angehören, zu empfehlen. Denn es muß allgemein bekannt werden, was uns blüht, wenn dieſe Herrſchaften den Sieg davontragen. Man muß den Gegner genau kennen, um den Kampf gegen ihn erfolgreich aufneh- men zu können. Glücklicherweiſe ſind aber auch noch andere, wertvollere Hilfsmittel vorhanden, um ein Bild von der Lage der Schul- reformbeſtrebungen zu gewinnen, auch für ſolche, die nicht die Möglichkeit haben, ſich ſelbſt durch die faſt ſchon unüber- ſehbar gewordene Maſſe der pädagogiſchen Literatur hin- durchzuarbeiten. Da iſt namentlich ein drittes Sammelweck zu nennen, das von katholiſcher Seite ausgeht, ſich aber durch hervorragende Sachlichkeit und Unparteilichkeit auszeichnet: „Schulſorderungen der Gegenwart“, herausge- geben für den Ausſchuß für Fragen der Schulreform, Verein Kathol. Deutſcher Lehrerinnen und Verband Kath. Ober- lehrerinnen Deutſchlands, von A. Pfennings und M. Rüberg (Paderborn, Ferd. Schöningh, 1919; 171 Seiten, 6.25 M.). Seinem Urſprunge nach iſt es ſelbſtverſtändlich, daß die katholiſche Weltanſchauung für die Stellungnahme bei der Erörterung von allerhand beſonderen Erziehungs- und Bildungsfragen, die den erſten Teil umfaſſen, ausſchlag- gebend iſt. Aber alle Darlegungen ſind ſo ſachlich und ver- ſtändnisvoll gehalten, daß ſie jeder auf chriſtlichem Boden ſtehende Leſer, auch der proteſtantiſche, in allen grundlegen- den Hauptſachen — abgeſehen von den menigen ausſchließlich konfeſſionellen Punkten — als zutreffend anerkennen kann; denn die Verfaſſer ſind ſich durchweg vollbewußt, daß es ſich bei unſerer Schulreform nicht ſo ſehr um Bekenntnisfragen als vielmehr um Sein oder Nichtſein des chriſtlichen Erziehungsideals handelt. Noch wichtiger aber als der theo- retiſche Teil mit ſeinen Einzelaufſätzen iſt der Inhalt des zweiten Teiles; dieſer bringt eine ganz vorzügliche Zu- ſammenſtellung von Quellenſtoff, wie man ſie ſonſt nirgends findet. Er enthält alle wichtigen, bis etwa zum Herbſt 1919 vorliegenden Schulprogramme der Gegenwart, der großen Lehrer- und Lehrerinnenverbände und -vereine aller Gruppen, der katholiſchen und evangeliſchen, der preußt- ſchen und außerpreußiſchen, der Oberlehrerſchaft, der poli- tiſchen Parteien mit Einſchluß der Sozialdemokraten und jungſozialen Lehrer und ſchließlich auch noch die einſchlägigen Artikel der Verfaſſung und den vom preußiſchen Kultus- miniſterium aufgeſtellten Entwurf über die Neuordnung des deutſchen Schulweſens. Solches Material hätte auch das „Handbuch“ bringen ſollen; denn von den Leuten, die pflicht- gemäß zu den einzelnen Fragen der Schulreform Stellung zu nehmen haben, war zu verlangen, daß ſie die Quellen kennen und aus ihnen ihre Anſicht gewönnen. Von der Reichsſchulkonferenz aber darf man erwarten, daß dort auch nicht alles ſo heiß gegeſſen wird, wie man es kocht. Heinrich Schulz ſagt ſelbſt von ihr — und das iſt wirk- lich ſtaatsmänniſche Weisheit —, unſere Hoffnung dürfe ſich nicht auf Mehrheitsbeſchlüſſe einſtellen, die etwa der zukünf- tigen Reichsſchulgeſetzgebung eine gebundene Marſchroute zu geben hätten. Dazu iſt das deutſche Schulweſen noch zu ſehr in gärender Bewegung. Aber ſie wird viel Material zuſam- menbringen, vielleicht ſogar ſchätzenswertes; ob es „an in- nerer Bedeutung unübertrefflich“ ſein wird, wie Herr Schulz in ſtolzer Vaterfreude etwas voreilig meint, werden erſt die Verhandlungen ſelbſt lehren müſſen. Eine wirklich geſunde Neuordnung unſeres Schul- weſens dürfen wir erſt erhoffen, wenn das deutſche Volk wieder geſundet und aus dem Taumel aller böſen Leiden- ſchaften erwacht ſein wird, in dem es ſich bis jetzt ſelbſt zer- fleiſcht. Dann aber wird es gelten. drei wichtigſte Grund- forderungen aufzuſtellen und durchzuführen: Erziehung un- ſeres Nachwuchſes zu Arbeitſamkeit, Pflichtge- fühl und zu ſtarker Liebe, Erkenntnis und Schätzung deutſchen Volkstums. —tz.—. Theater und Muſik Münchener Theater. Prinzregenten-Theater. Aus Lope de Vegas’ Stoff „Las pazes de los Reyes y Judia de Toledo“ von Grillparzer mit den modernen Mitteln ſeiner eigenen Zeit geformt und aus den Anſchauungen des 19. Jahrhunderts geſtaltet, bleibt die _

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine24_1920/8>, abgerufen am 03.12.2024.