Allgemeine Zeitung, Nr. 32, 8. August 1914.8. August 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Unsere heiligsten Güter, das Vaterland, den eigenen Herd, Feinde ringsum! Das ist das Kennzeichen der Lage. Ein Ich vertraue, daß der alte kriegerische Geist noch in dem deut- Ich vertraue auf Euch, Ihr deutschen Soldaten! In jedem von Gedenkt unserer großen, ruhmreichen Vergangenheit! Gedenkt, daß Ihr Deutsche seid! Gott helfe uns! Berlin, Schloß, den 6. August 1914. (gez.) Wilhelm. Vor der Pforte des Weltkriegs! Mars regiert die Stunde, Europa, die ganze Welt. Und vor Worin also liegt das Wesen, die Bedeutung und Zwecksetzung Deutschland als das "Rückgrat Europas" hat seit alters einen Die Anfänge des Vordrängens der zarischen Politik gegen den 8. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Unſere heiligſten Güter, das Vaterland, den eigenen Herd, Feinde ringsum! Das iſt das Kennzeichen der Lage. Ein Ich vertraue, daß der alte kriegeriſche Geiſt noch in dem deut- Ich vertraue auf Euch, Ihr deutſchen Soldaten! In jedem von Gedenkt unſerer großen, ruhmreichen Vergangenheit! Gedenkt, daß Ihr Deutſche ſeid! Gott helfe uns! Berlin, Schloß, den 6. Auguſt 1914. (gez.) Wilhelm. Vor der Pforte des Weltkriegs! Mars regiert die Stunde, Europa, die ganze Welt. Und vor Worin alſo liegt das Weſen, die Bedeutung und Zweckſetzung Deutſchland als das „Rückgrat Europas“ hat ſeit alters einen Die Anfänge des Vordrängens der zariſchen Politik gegen den <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <floatingText> <body> <div type="letter" n="1"> <pb facs="#f0005" n="503"/> <fw place="top" type="header">8. 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Sind das etwa<lb/> geringe Dinge, wie ſie im Spiegel der Gedankenbläſſe der Friedens-<lb/> ſchwärmer erſcheinen, ſind es nicht vielmehr Ewigkeitswerte, die<lb/> fortwirken müſſen in alle Zeit und vielen Geſchlechtern von Enkeln<lb/> und Enkelkindern Atem und Schwungkraft geben werden zu allem,<lb/> was wahrhaft gut, adelig, erhaben, gottnahe iſt?</p><lb/> <p>Worin alſo liegt das Weſen, die Bedeutung und Zweckſetzung<lb/> dieſes gewaltigen Ringens des Deutſchtums mit dem Aufgebot aller<lb/> ſeiner politiſchen, ſittlichen und ethiſchen Kräfte im weiteſten Rahmen<lb/> der weltgeſchichtlichen Entwicklungsprozeſſe, die über der Völker, der<lb/> Raſſen, der ganzen Menſchheit Schickſalsfragen entſcheiden?</p><lb/> <p>Deutſchland als das „Rückgrat Europas“ hat ſeit alters einen<lb/> bald offenen, bald in verdeckten Minengängen ſich bewegenden Zwei-<lb/> frontenkampf um ſein nationales Daſein und die Befeſtigung und<lb/> Ausweitung ſeiner ſtaatlichen und kulturellen Macht zu führen ge-<lb/> habt: im Weſten gegen das Franzoſentum, im Oſten gegen das Sla-<lb/> wentum. Der Charakter beider Kämpfe war ſehr verſchieden. Gegen<lb/> Frankreich wogte das Ringen in Ebbe und Flut unregelmäßig hin<lb/> und her. Zeitweilig vermochten die galliſchen Eroberer ihre Fahnen<lb/> bis in das Herz Deutſchlands zu tragen, während wir uns auf Ab-<lb/> wehrkriege beſchränkten und dabei der Beeinfluſſung durch den Geiſt<lb/> romaniſcher Kultur nur zu mattherzig Raum gaben, bis ſchließlich<lb/> die Siege von 1870/71 endgültig die Einigung der Mehrheit der<lb/> deutſchen Stämme in einem großen Bundesreich und damit deſſen<lb/> Uebergewicht über den Vogeſennachbarn ſtabiliſierten, ſo zwar, daß<lb/> dieſer allein uns anzugreifen fraglos nicht mehr wagen würde. Er<lb/> bedarf dazu eines Bundesgenoſſen, den er eben an der anderen<lb/> Kampflinie, der öſtlichen, gefunden hat. Hier ſchuf das Fundament<lb/> unſerer Machtſtellung die Glanzzeit des deutſchen Ordens, der nicht<lb/> durch kriegeriſche Eroberung, ſondern durch friedliche Kulturarbeit<lb/> „das größte koloniſatoriſche Werk vollbrachte, das die Welt ſeit den<lb/> Tagen von Roms Weltherrſchaft geſehen“. Weit über die heutigen<lb/> oſtpreußiſchen und poſenſchen Grenzen hinaus drang der germaniſche<lb/> Siedler vor und wurde überall, von den Polen und Litauern, freu-<lb/> dig bewillkommnet als arbeitswilliger, erzieheriſch und organiſa-<lb/> toriſch befähigter Gaſt: Kiew hatte Jahrhunderte lang deutſches<lb/> Stadtrecht, in Krakau herrſchte bis 1500 die deutſche Sprache vor.<lb/> Genau wie Preußen, deſſen Bevölkerung heute zur Hälfte auf Boden<lb/> wohnt, der vor tauſend Jahren nicht in deutſchem Beſitz war, iſt die<lb/> Habsburgiſche Doppelmonarchie überwiegend auf koloniſiertem<lb/> Boden erwachſen. Belgrad, das heute wiederum belagerte, erwies<lb/> ſich noch bei einer Volkszählung zur Zeit Karls <hi rendition="#aq">VI.</hi> als „eine rein<lb/> deutſche Kommunität“, und der weit in das Reich des Madjarentums<lb/> vorgeſchobene Poſten der ſiebenbürgiſchen Sachſen iſt nur ein ver-<lb/><cb/> einzeltes beſonders charakteriſtiſches Beiſpiel deſſen, wie weitgreifend<lb/> und kühn einſt die deutſche Kulturarbeit auf dem verwilderten<lb/> Kampfgebiet des ſüdoſteuropäiſchen Völkermiſchmaſches ſich betätigte.<lb/> In weiterer ſcharfer Antitheſe zu der weſtlichen deutſch-franzöſiſchen<lb/> Prozeßſache iſt aber dieſes öſtliche Ringen mit dem Slawentum bis<lb/> auf die Gegenwart zu keinerlei Abſchluß gelangt. Im Gegenteil! Die<lb/> Balkankataſtrophe der letzten Jahre mit ihren revolutionierenden<lb/> Fernwirkungen auf das Verhältnis Oeſterreich-Ungarns zu ſeinen<lb/> ſlawiſchen Nachbarmächten wies bereits nur zu eindringlich redenden<lb/> Zeugniſſes darauf hin, daß heute erſt dieſes Völkerdrama den ſchärf-<lb/> ſten Kriſen ſich zubewegt und das Stadium ſtändig wachſender Ent-<lb/> ladungsgefährlichkeit durchläuft, und ſtellte zugleich klar ins Licht,<lb/> wie in dieſem Zerſetzungsprozeß Rußland eine ſtändig aktiver wer-<lb/> dende bedrohliche Rolle ſpielt.</p><lb/> <p>Die Anfänge des Vordrängens der zariſchen Politik gegen den<lb/> Balkan reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Damals, 1472, ver-<lb/> mählte ſich der Großfürſt Iwan mit Sophie, der Nichte des letzten<lb/> byzantiniſchen Kaiſers Konſtantin Paläologos. Als dann mit der<lb/> Perſonalunion unter Bochdan Chmelnicki (1654) das politiſche<lb/> Schwergewicht des Reichs endgültig nach dem Norden verlegt wurde,<lb/> um den Sieg des moskowitiſchen Großfürſtentums mit ſeinem tata-<lb/> riſch-deſpotiſchen Geiſt und Charakter über das liberalere Klein-<lb/> ruſſentum zu beſiegeln, als gleichzeitig die Grenzen des Staates<lb/> bis zum Schwarzen Meer vorgerückt wurden und nun aus dem<lb/> Balkan ſcharenweiſe Südſlawen auf der Flucht vor den osmaniſchen<lb/> Eroberern nach Rußland einwanderten und den weißen Zaren um<lb/> ſeinen Schutz anriefen: da wirkte alles das zuſammen, daß mit Er-<lb/> folg dem ruſſiſchen Volk die Idee ſuggeriert werden konnte, es ſei<lb/> ſeine große heilige nationale Aufgabe und apoſtoliſche Sendung, das<lb/> griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia als Wahrzeichen zariſcher<lb/> und orthodox-katholiſcher Weltmacht aufzurichten und zugleich der<lb/> Schutzherr der verfolgten ſüdſlawiſchen Völker zu ſein. Dieſe, das<lb/> Jugoſlawentum, teilen ſich bekanntlich in die vier „Plemena“ der<lb/> Slowenen, Kroaten, Serben, Bulgaren. Irgendwelche Einheit zwi-<lb/> ſchen den Stämmen hat nie beſtanden und konnte nicht beſtehen.<lb/> National nicht, weil die ganze Geſchichte dieſer Völker von ewigen<lb/> Bruderkämpfen erfüllt iſt, moraliſch nicht, weil ſie keinerlei kultu-<lb/> relle Harmonien binden, ja im Grunde überhaupt keine Kultur außer<lb/> den von anderen Nationen entlehnten Geſittungsgütern beſitzen,<lb/> raſſenpolitiſch nicht, weil die angebliche Blutsverwandſchaft mit ſehr<lb/> viel fremdartigen Säuren durchſetzt iſt: beiſpielsweiſe ſind die Bul-<lb/> garen zum guten Teil Turanen, während der ſogenannte Illyrismus,<lb/> der eine ingoſlawiſche Sprachgemeinſchaft behauptet, als völlig phan-<lb/> taſtiſch ſchon deshalb erſcheint, weil er den großen thrakoillyriſchen<lb/> von den Albanern und Arumanen (Kutzowalachen) gebildeten Zweig<lb/> ganz außer Acht läßt. Die „Obſtſcheſkro ſojedinenniſch ſlavjan“, die<lb/> Geſellſchaft der vereinigten Slawen, war und blieb eine Herde, die<lb/> von allen möglichen Abſtoßungskräften geplagt, durch keinerlei wirk-<lb/> liche Brüderlichkeitsempfindungen zuſammengehalten wurde. Die<lb/> Bulgaren haben ſich ſtets abſeits der allſlawiſchen Propaganda ge-<lb/> halten; der Tſcheche Havlicek, einer der erſten Schrittmacher der<lb/> ſlovanſka vzayemnoſt (ſlaviſchen Wechſelſeitigkeit) predigte: „Je macht-<lb/> voller das Habsburgiſche Reich emporwachſen wird, deſto kräftiger<lb/> werden auch unſere Nationen ſich erheben“; bei den Polen wirkte die<lb/> Furcht vor dem ruſſiſchen Druck aus leicht begreiflichen Gründen<lb/> noch ſtärker und die Kroaten waren im allgemeinen ebenfalls durch-<lb/> aus öſterreichiſch geſtimmt, um über Rückendeckung gegen die Ueber-<lb/> griffe des Serbentums zu verfügen. Und dieſes ſelbſt? Mit der<lb/> nationalen Erneuerung Serbiens wurden in Belgrad die leiden-<lb/> ſchaftlichen Hoffnungen auf Wiederherſtellung des alten Großſerbiens<lb/> König Duſchans, das mit der Schlacht auf dem Amſelfelde zuſam-<lb/> brach, heißer und heißer: da machte, 1878, der Berliner Kongreß<lb/> einen Strich durch derlei Zukunftsträume, indem er Oeſterreich-<lb/> Ungarn die Anwartſchaft auf Bosnien und die Herzegowina zuſprach.<lb/> Mit deren endgültiger Einverleibung 1908 wurde daher der Ge-<lb/> danke der großſtaatlichen Einigung des geſamten Serbentums völlig<lb/> ſchimäriſch; demgemäß mahnte Nowakowitſch, der frühere Miniſter-<lb/> präſident und Vorſitzende der weiland Londoner Friedenskonferenz,<lb/> als Führer der ſogenannten Habsburgiſchen Partei, die noch bis<lb/> in die Anfänge dieſes Jahrhunderts hinein dem nationaliſtiſchen<lb/> Chauvinismus wacker Stand hielt und die geiſtig, politiſch und wirt-<lb/> ſchaftlich bedeutendſten Köpfe des Landes in ihrem Lager vereinte:<lb/> „Sehen wir zu, daß wir wenigſtens die nationale Einheit uns ſichern;<lb/> das iſt nur möglich in Anlehnung an die benachbarte Doppel-<lb/> monarchie!“ Die Petersburger allruſſiſche Politik, wie die allſlawiſche<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [503/0005]
8. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
Unſere heiligſten Güter, das Vaterland, den eigenen Herd,
gilt es gegen einen ruchloſen Ueberfall zu ſchützen!
Feinde ringsum! Das iſt das Kennzeichen der Lage. Ein
ſchwerer Kampf und große Opfer ſtehen uns bevor.
Ich vertraue, daß der alte kriegeriſche Geiſt noch in dem deut-
ſchen Volke lebt, jener gewaltige kriegeriſche Geiſt, der den Feind,
wo er ihn findet, angreift, koſte es, was es wolle, und der von
jeher die Furcht und der Schrecken unſerer Feinde geweſen iſt.
Ich vertraue auf Euch, Ihr deutſchen Soldaten! In jedem von
Euch lebt der heiße, durch nichts zu bezwingende Wille zum Sieg.
Jeder von Euch weiß, wenn es ſein muß, wie ein Held zu ſterben.
Gedenkt unſerer großen, ruhmreichen Vergangenheit!
Gedenkt, daß Ihr Deutſche ſeid!
Gott helfe uns!
Berlin, Schloß, den 6. Auguſt 1914.
(gez.) Wilhelm.
Vor der Pforte des Weltkriegs!
Mars regiert die Stunde, Europa, die ganze Welt. Und vor
ſeinem ehernen Tritt verſchwinden die theoretiſchen Schreckgeſpenſter
und die Verfehmungen des Kriegs durch Sozialiſten, Pazifiſten und
andere Illuſioniſten vom Schlag des Verfaſſers der Great Illuſion
wie ein nächtlicher Spuck vor aufgehender Morgenröte! Die Ner-
ven ſtraffen ſich, die Pulſe fliegen, alle deutſchen Gaue brennen, wie
einſt Bismarck prophezeite, auf gleich einer Pulvermine. Der Tra-
gik des Völkergerichtes, deſſen dramatiſche Entſcheidungen nahen, iſt
ſich jedes Herz bewußt; aber ihren Druck überwinden aufſtürmend
die Spannkräfte einer großen Zeit, die durch die außerordentlichen
Maßſtäbe ihres Geſchehens die Menſchheit von den Verſtrickungen
des Alltäglich-Kleinlichen und -Gemeinen unabhängig macht. Das
körperlich, geiſtig, ſittlich Tüchtige, Ariſtokratiſche, Ungewöhnliche er-
hebt ſich, heldiſcher Sinn wird wach und allerwärts, vom Belt bis
zu den Alpen, fluten Begeiſterungswogen auf als Offenbarungen
von heißer Vaterlandsliebe, Pflichtbewußtſein, ſoldatiſcher und bür-
gerlicher Zucht, Aufopferungsfähigkeit, Bundestreue. Sind das etwa
geringe Dinge, wie ſie im Spiegel der Gedankenbläſſe der Friedens-
ſchwärmer erſcheinen, ſind es nicht vielmehr Ewigkeitswerte, die
fortwirken müſſen in alle Zeit und vielen Geſchlechtern von Enkeln
und Enkelkindern Atem und Schwungkraft geben werden zu allem,
was wahrhaft gut, adelig, erhaben, gottnahe iſt?
Worin alſo liegt das Weſen, die Bedeutung und Zweckſetzung
dieſes gewaltigen Ringens des Deutſchtums mit dem Aufgebot aller
ſeiner politiſchen, ſittlichen und ethiſchen Kräfte im weiteſten Rahmen
der weltgeſchichtlichen Entwicklungsprozeſſe, die über der Völker, der
Raſſen, der ganzen Menſchheit Schickſalsfragen entſcheiden?
Deutſchland als das „Rückgrat Europas“ hat ſeit alters einen
bald offenen, bald in verdeckten Minengängen ſich bewegenden Zwei-
frontenkampf um ſein nationales Daſein und die Befeſtigung und
Ausweitung ſeiner ſtaatlichen und kulturellen Macht zu führen ge-
habt: im Weſten gegen das Franzoſentum, im Oſten gegen das Sla-
wentum. Der Charakter beider Kämpfe war ſehr verſchieden. Gegen
Frankreich wogte das Ringen in Ebbe und Flut unregelmäßig hin
und her. Zeitweilig vermochten die galliſchen Eroberer ihre Fahnen
bis in das Herz Deutſchlands zu tragen, während wir uns auf Ab-
wehrkriege beſchränkten und dabei der Beeinfluſſung durch den Geiſt
romaniſcher Kultur nur zu mattherzig Raum gaben, bis ſchließlich
die Siege von 1870/71 endgültig die Einigung der Mehrheit der
deutſchen Stämme in einem großen Bundesreich und damit deſſen
Uebergewicht über den Vogeſennachbarn ſtabiliſierten, ſo zwar, daß
dieſer allein uns anzugreifen fraglos nicht mehr wagen würde. Er
bedarf dazu eines Bundesgenoſſen, den er eben an der anderen
Kampflinie, der öſtlichen, gefunden hat. Hier ſchuf das Fundament
unſerer Machtſtellung die Glanzzeit des deutſchen Ordens, der nicht
durch kriegeriſche Eroberung, ſondern durch friedliche Kulturarbeit
„das größte koloniſatoriſche Werk vollbrachte, das die Welt ſeit den
Tagen von Roms Weltherrſchaft geſehen“. Weit über die heutigen
oſtpreußiſchen und poſenſchen Grenzen hinaus drang der germaniſche
Siedler vor und wurde überall, von den Polen und Litauern, freu-
dig bewillkommnet als arbeitswilliger, erzieheriſch und organiſa-
toriſch befähigter Gaſt: Kiew hatte Jahrhunderte lang deutſches
Stadtrecht, in Krakau herrſchte bis 1500 die deutſche Sprache vor.
Genau wie Preußen, deſſen Bevölkerung heute zur Hälfte auf Boden
wohnt, der vor tauſend Jahren nicht in deutſchem Beſitz war, iſt die
Habsburgiſche Doppelmonarchie überwiegend auf koloniſiertem
Boden erwachſen. Belgrad, das heute wiederum belagerte, erwies
ſich noch bei einer Volkszählung zur Zeit Karls VI. als „eine rein
deutſche Kommunität“, und der weit in das Reich des Madjarentums
vorgeſchobene Poſten der ſiebenbürgiſchen Sachſen iſt nur ein ver-
einzeltes beſonders charakteriſtiſches Beiſpiel deſſen, wie weitgreifend
und kühn einſt die deutſche Kulturarbeit auf dem verwilderten
Kampfgebiet des ſüdoſteuropäiſchen Völkermiſchmaſches ſich betätigte.
In weiterer ſcharfer Antitheſe zu der weſtlichen deutſch-franzöſiſchen
Prozeßſache iſt aber dieſes öſtliche Ringen mit dem Slawentum bis
auf die Gegenwart zu keinerlei Abſchluß gelangt. Im Gegenteil! Die
Balkankataſtrophe der letzten Jahre mit ihren revolutionierenden
Fernwirkungen auf das Verhältnis Oeſterreich-Ungarns zu ſeinen
ſlawiſchen Nachbarmächten wies bereits nur zu eindringlich redenden
Zeugniſſes darauf hin, daß heute erſt dieſes Völkerdrama den ſchärf-
ſten Kriſen ſich zubewegt und das Stadium ſtändig wachſender Ent-
ladungsgefährlichkeit durchläuft, und ſtellte zugleich klar ins Licht,
wie in dieſem Zerſetzungsprozeß Rußland eine ſtändig aktiver wer-
dende bedrohliche Rolle ſpielt.
Die Anfänge des Vordrängens der zariſchen Politik gegen den
Balkan reichen bis ins 15. Jahrhundert zurück. Damals, 1472, ver-
mählte ſich der Großfürſt Iwan mit Sophie, der Nichte des letzten
byzantiniſchen Kaiſers Konſtantin Paläologos. Als dann mit der
Perſonalunion unter Bochdan Chmelnicki (1654) das politiſche
Schwergewicht des Reichs endgültig nach dem Norden verlegt wurde,
um den Sieg des moskowitiſchen Großfürſtentums mit ſeinem tata-
riſch-deſpotiſchen Geiſt und Charakter über das liberalere Klein-
ruſſentum zu beſiegeln, als gleichzeitig die Grenzen des Staates
bis zum Schwarzen Meer vorgerückt wurden und nun aus dem
Balkan ſcharenweiſe Südſlawen auf der Flucht vor den osmaniſchen
Eroberern nach Rußland einwanderten und den weißen Zaren um
ſeinen Schutz anriefen: da wirkte alles das zuſammen, daß mit Er-
folg dem ruſſiſchen Volk die Idee ſuggeriert werden konnte, es ſei
ſeine große heilige nationale Aufgabe und apoſtoliſche Sendung, das
griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia als Wahrzeichen zariſcher
und orthodox-katholiſcher Weltmacht aufzurichten und zugleich der
Schutzherr der verfolgten ſüdſlawiſchen Völker zu ſein. Dieſe, das
Jugoſlawentum, teilen ſich bekanntlich in die vier „Plemena“ der
Slowenen, Kroaten, Serben, Bulgaren. Irgendwelche Einheit zwi-
ſchen den Stämmen hat nie beſtanden und konnte nicht beſtehen.
National nicht, weil die ganze Geſchichte dieſer Völker von ewigen
Bruderkämpfen erfüllt iſt, moraliſch nicht, weil ſie keinerlei kultu-
relle Harmonien binden, ja im Grunde überhaupt keine Kultur außer
den von anderen Nationen entlehnten Geſittungsgütern beſitzen,
raſſenpolitiſch nicht, weil die angebliche Blutsverwandſchaft mit ſehr
viel fremdartigen Säuren durchſetzt iſt: beiſpielsweiſe ſind die Bul-
garen zum guten Teil Turanen, während der ſogenannte Illyrismus,
der eine ingoſlawiſche Sprachgemeinſchaft behauptet, als völlig phan-
taſtiſch ſchon deshalb erſcheint, weil er den großen thrakoillyriſchen
von den Albanern und Arumanen (Kutzowalachen) gebildeten Zweig
ganz außer Acht läßt. Die „Obſtſcheſkro ſojedinenniſch ſlavjan“, die
Geſellſchaft der vereinigten Slawen, war und blieb eine Herde, die
von allen möglichen Abſtoßungskräften geplagt, durch keinerlei wirk-
liche Brüderlichkeitsempfindungen zuſammengehalten wurde. Die
Bulgaren haben ſich ſtets abſeits der allſlawiſchen Propaganda ge-
halten; der Tſcheche Havlicek, einer der erſten Schrittmacher der
ſlovanſka vzayemnoſt (ſlaviſchen Wechſelſeitigkeit) predigte: „Je macht-
voller das Habsburgiſche Reich emporwachſen wird, deſto kräftiger
werden auch unſere Nationen ſich erheben“; bei den Polen wirkte die
Furcht vor dem ruſſiſchen Druck aus leicht begreiflichen Gründen
noch ſtärker und die Kroaten waren im allgemeinen ebenfalls durch-
aus öſterreichiſch geſtimmt, um über Rückendeckung gegen die Ueber-
griffe des Serbentums zu verfügen. Und dieſes ſelbſt? Mit der
nationalen Erneuerung Serbiens wurden in Belgrad die leiden-
ſchaftlichen Hoffnungen auf Wiederherſtellung des alten Großſerbiens
König Duſchans, das mit der Schlacht auf dem Amſelfelde zuſam-
brach, heißer und heißer: da machte, 1878, der Berliner Kongreß
einen Strich durch derlei Zukunftsträume, indem er Oeſterreich-
Ungarn die Anwartſchaft auf Bosnien und die Herzegowina zuſprach.
Mit deren endgültiger Einverleibung 1908 wurde daher der Ge-
danke der großſtaatlichen Einigung des geſamten Serbentums völlig
ſchimäriſch; demgemäß mahnte Nowakowitſch, der frühere Miniſter-
präſident und Vorſitzende der weiland Londoner Friedenskonferenz,
als Führer der ſogenannten Habsburgiſchen Partei, die noch bis
in die Anfänge dieſes Jahrhunderts hinein dem nationaliſtiſchen
Chauvinismus wacker Stand hielt und die geiſtig, politiſch und wirt-
ſchaftlich bedeutendſten Köpfe des Landes in ihrem Lager vereinte:
„Sehen wir zu, daß wir wenigſtens die nationale Einheit uns ſichern;
das iſt nur möglich in Anlehnung an die benachbarte Doppel-
monarchie!“ Die Petersburger allruſſiſche Politik, wie die allſlawiſche
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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