Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 12. September 1914.12. September 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Vaterländische Theaterabende. Nach dem Vorbilde der Berliner Hofbühne hat auch die Am vorigen Sonntag fand der erste dieser Abende statt, Das Schauspielhaus sucht auch weiter in seinem Spiel- Der Autor dieses eigenartigen Trauerspiels führt uns in die Wildenbruch hat sein Stück etwas später umgearbeitet An Begeisterung fehlt es bei Aufführung vaterländischer [irrelevantes Material] 12. September 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Vaterländiſche Theaterabende. Nach dem Vorbilde der Berliner Hofbühne hat auch die Am vorigen Sonntag fand der erſte dieſer Abende ſtatt, Das Schauſpielhaus ſucht auch weiter in ſeinem Spiel- Der Autor dieſes eigenartigen Trauerſpiels führt uns in die Wildenbruch hat ſein Stück etwas ſpäter umgearbeitet An Begeiſterung fehlt es bei Aufführung vaterländiſcher [irrelevantes Material] <TEI> <text> <body> <div type="jFeuilleton" n="1"> <pb facs="#f0011" n="561"/> <fw place="top" type="header">12. September 1914. <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/> <cb/> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Vaterländiſche Theaterabende.</hi> </head><lb/> <p>Nach dem Vorbilde der Berliner Hofbühne hat auch die<lb/> unſere der ſchweren Zeit zum Trotz ihre Pforten dem allge-<lb/> meinen Beſuche wieder geöffnet. Dort wie da aber nicht<lb/> zum Beginn einer regelmäßigen täglichen Spielzeit für Schau-<lb/> ſpiel und Oper, ſondern, der Volksſtimmung Rechnung tra-<lb/> gend, zur Veranſtaltung vaterländiſcher Abende, bei denen<lb/> wohl unſere Hofkapelle und Mitglieder unſerer Oper mit-<lb/> wirken, das Theater aber ausgeſchaltet bleibt.</p><lb/> <p>Am vorigen Sonntag fand der erſte dieſer Abende ſtatt,<lb/> und zwar zugunſten des Roten Kreuzes: es war ein im Hof-<lb/> theater veranſtaltetes Konzert der k. Hofmuſik, das nur einen<lb/> Namen trug, freilich den Namen unſeres größten und<lb/> deutſcheſten Tonmeiſters: den Namen Beethoven. Die Wahl<lb/> war gut, denn, wenn etwas zu Stimmung unſerer Tage paßt,<lb/> dann ſind es die hehren Klänge der Eroica, deren Siegesjubel<lb/> wie deren Trauermarſch ſo erhebende und ergreifende<lb/> Parallelen in unſeren Tagen finden. Direktor Walter diri-<lb/> gierte das ganze Konzert ſelbſt: die Eroica ſowohl, wie die<lb/> ſpäteren Ouverturen zum Egmont und die große dritte<lb/> Leonoren-Ouverture. Nach der Egmont-Ouverture ſang die<lb/> eben zur Hofopernſängerin ernannte Frau Perard-Petzl die<lb/> zur Egmont-Muſik gehörenden Lieder Klärchens: „Die<lb/> Trommel gerühret“ und „Freudvoll und leidvoll“. Frau<lb/> Perard-Petzl iſt, wie ja die meiſten Bühnenſängerinnen, keine<lb/> Konzertſängerin; aber darauf kam es bei dieſer Gelegenheit<lb/> auch gar nicht an. Die Hauptſache blieb doch der erhebende<lb/> und begeiſternde Eindruck, den Beethovens erhabene Muſik<lb/> auch auf dieſes Publikum, deſſen Gedanken wohl meiſtens an die<lb/> bedrohten Grenzen ſchweiften, ſeines tiefen Eindrucks nicht<lb/> verfehlte. Obwohl die Preiſe für dieſe Gelegenheit auf ein<lb/> Mindeſtmaß heruntergeſchraubt waren, dürfte dem Roten<lb/> Kreuz doch ein rundes Sümmchen zugekommen ſein, denn<lb/> das Haus war bis zum letzten Platz ausverkauft. Als das<lb/> Programm abgeſpielt war, erhoben ſich alle Zuhörer, und<lb/> unter Begleitung des Hoforcheſters ſang man die „Wacht am<lb/> Rhein“, die Königshymne und „Deutſchland über alles“, unter<lb/> großer Begeiſterung und beifälligem Dank für das Gebotene.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Das Schauſpielhaus ſucht auch weiter in ſeinem Spiel-<lb/> plan die patriotiſche Note möglichſt zu wahren. Es hat den<lb/> gar nicht üblen Einfall gehabt, Wildenbruchs alten<lb/> „Mennoniten“ aufzugreifen und ihn zum erſtenmal zur Auf-<lb/> führung zu bringen. In München ſelbſt iſt er nicht ganz<lb/> neu: er wurde am 31. Mai 1882 in unſerem Hoftheater zum<lb/> erſtenmal aufgeführt. Der Mennonit iſt zugleich Wilden-<lb/> bruchs überhaupt erſtes aufgeführtes Stück. Ihm folgten<lb/> in den 80er und 90er Jahren auf unſerer Hofbühne eine<lb/> Reihe ſeiner Stücke, bis es mit einem Schlage aus war und<lb/> Wildenbruch aus unerfindlichen Gründen in München über-<lb/> haupt keine Gaſtſtätte für ſeine Stücke mehr fand. Es kam<lb/> die Zeit des rohen Naturalismus und der literariſchen<lb/> Decadence, die vor allem jeden Patriotismus auf der Bühne<lb/> verbannte. Nun kommt Wildenbruch zu ſpäten Ehren. Sein<lb/> edles vaterländiſches Feuer, das in allen ſeinen Stücken ſo<lb/> kraftvolle Worte findet, wird heute wieder verſtanden. Dabei<lb/> braucht man ſeine Schwächen gar nicht einmal zu überſehen.<lb/> Die Hauptſchwäche iſt die willkürliche und unwahrſcheinliche<lb/> Motivierung ſeiner Konflikte. Gleich in der erſten Szene des<lb/> Mennoniten kommt dieſer Fehler zu ſchärfſtem Ausdruck.<lb/> Auf die große Unwahrſcheinlichkeit, daß der Mennoniten-<lb/> älteſte ſeine Tochter abſolut nicht ſeinem über alles geliebten<lb/> Pflegeſohn, ſondern einem heimtückiſchen Glaubensgenoſſen,<lb/> den er allerdings in ſeinem Schwachſinn nicht durchſchaut, zur<lb/> Frau geben will, iſt der ganze Konflikt aufgebaut. Für uns<lb/> iſt heute allerdings die politiſche Seite die weit wichtigere.</p><lb/> <p>Der Autor dieſes eigenartigen Trauerſpiels führt uns in die<lb/> Zeit der größten Bedrängnis Deutſchlands zurück, in jene<lb/> traurige Zeit der tiefſten Schmach und Erniedrigung, wo das<lb/> Gefühl nationaler Zuſammengehörigkeit durch Napoleon in<lb/> der Art zu Boden getreten war, daß ein engliſches Organ<lb/> damals die tödliche Beleidigung: „Die Deutſchen ſind das<lb/> feigſte und niederträchtigſte Volk der Erde“ ungeſtraft aus-<lb/> ſprechen durfte. In dieſe Zeit politiſcher Zerriſſenheit fällt<lb/><cb/> die Gründung zahlreicher geheimer Bünde, deren bedeutend-<lb/> ſter der von zwanzig Männern in Königsberg gegründete<lb/> „Tugendbund“ war, der mit Wiſſen der Regierung beſtand,<lb/> im Jahre 1809, in das „der Mennonit“ verlegt iſt, infolge<lb/> franzöſiſcher Einmiſchung der Form nach zwar aufgelöſt<lb/> wurde, trotzdem aber weiterbeſtand und an Ausdehnung ge-<lb/> wann. Das tätigſte und mutigſte Mitglied des Bundes, der<lb/> nach ſeinen Statuten durch „Wort, Schrift und Beiſpiel“ auf<lb/> die nationale Einigung und die Losreißung von der Fremd-<lb/> herrſchaft hinwirkte, war der Major Schill, der in dieſem<lb/> Jahre vorzeitig Deutſchlands Befreiung verſuchte und bei<lb/> dieſem Verſuche den Heldentod fand. Dies iſt der politiſche<lb/> Hintergrund der Handlung, welche uns Wildenbruch vorführt.<lb/> Die Franzoſen haben Danzig beſetzt, und Stadt und Um-<lb/> gebung leiden unter dem Drucke ihrer Forderungen. Ein<lb/> Dorf in der Nähe Danzigs iſt der engere Schauplatz des<lb/> Dramas. Das Dorf bewohnen Mennoniten, ſo genannt nach<lb/> ihrem Glaubensſtifter, dem frieſiſchen Wanderprediger Menno<lb/> Simons (1492—1559), der die zerſtreuten Reſte der Wieder-<lb/> täufer ſammelte und in Gemeinden zuerſt in den Nieder-<lb/> landen, dann in Norddeutſchland, wo es gegenwärtig deren<lb/> 14,000 geben mag, ordnete. Die Sekte verwirft die gericht-<lb/> liche Klage, den Eid, Krieg und Zweikampf; der letztere iſt<lb/> einer der Motoren des Stückes, wird aber in ganz anderer,<lb/> wir brauchen kaum zu ſagen, würdigerer Weiſe benützt als<lb/> z. B. in dem Blumenthal-Girndtſchen Stücke, „Um ein Nichts“.<lb/> Ein junger, feuriger Mennonitenjüngling wird durch ſeine<lb/> Begriffe von Mannesehre und Vaterlandsliebe, ſowie durch<lb/> einen heuchleriſchen nichtswürdigen Glaubensgenoſſen, der<lb/> die Geliebte des erſteren mit Hilfe ihres ſchwachen Vaters<lb/> ſeine Braut zu werden zwingt, aus der fanatiſchen Gemeinde<lb/> gedrängt und fällt, infolge dieſes Schrittes und als Anhänger<lb/> Schills von den Seinen den Franzoſen ausgeliefert, mit dem<lb/> geliebten Mädchen auf dem Sande von Danzig durch die<lb/> Kugel der letzteren.</p><lb/> <p>Wildenbruch hat ſein Stück etwas ſpäter umgearbeitet<lb/> und u. a. ſeine Maria doch nicht erſchießen, ſondern durch<lb/> einen Herzſchlag noch rechtzeitig ſterben laſſen. Im übrigen<lb/> hat er aber die Winke der damaligen Kritik in keiner Weiſe<lb/> befolgen zu müſſen geglaubt, allerdings hätte er dann ſchon<lb/> gleich ſeinen Unterbau zerſtören müſſen. Alles, was ſich auf<lb/> dieſem Unterbau erhebt, iſt aber konſequent und effektvoll<lb/> durchgeführt. Uebrigens haben meines Erinnerns die deut-<lb/> ſchen Mennoniten ſpäter einen geharniſchten Proteſt<lb/> gegen Wildenbruchs wenig ſchmeichelhafte Zeichnung des<lb/> Mennonitentums verbreitet. Vielleicht hat auch dies dazu<lb/> beigetragen, daß das Stück allgemach von der deutſchen<lb/> Bühne verſchwand. Ich erinnere mich noch jener Premiere<lb/> vor 32 Jahren im Hoftheater. Schneider, Häuſſer, Poſſart,<lb/> Keppler und Rohde ſpielten die Hauptrollen, den jungen ab-<lb/> trünnigen Mennoniten aber kein anderer als der junge Kainz<lb/> in der Maienblüte ſeines feurigen Talents. Das war nun<lb/> freilich eine beſcheidenere Aufführung neulich im Schauſpiel-<lb/> hauſe, aber ſie konnte ſich immerhin ſehen laſſen. Die Dar-<lb/> ſteller waren die Herren Peppler, Hans und Siegfried Raabe,<lb/> Weydner und Jeſſen. Die einzige Frauenrolle des Stückes<lb/> gab Annie Roſar und den jungen Mennoniten ſehr kraftvoll<lb/> und glaubhaft Herr Randolf. Natürlich griff das leider nicht<lb/> ſehr zahlreiche Publikum gerade jene Kraftſtellen vaterländi-<lb/> ſchen Geiſtes, die 1882 noch faſt unter dem Tiſch fielen, mit be-<lb/> ſonderer Begeiſterung auf.</p><lb/> <p>An Begeiſterung fehlt es bei Aufführung vaterländiſcher<lb/> Stücke unſerem Publikum überhaupt nicht, wohl aber an<lb/> Zahl. Man hat den Eindruck, daß unſere Theater viel mehr<lb/> ſpielen, um ihre Mitglieder in ſchwerer Zeit zu beſchäftigen,<lb/> als um dem Publikum ein würdiges Vergnügen zu bieten,<lb/> das es doch nur ungern aufſucht. So fand denn auch Ernſt<lb/> Wicherts aus dem Jahre 1871 ſtammender Einakter „Das<lb/> eiſerne Kreuz“ nur eine ſchwache Zuhörerſchaft. Das kleine<lb/> Lebensbild ſpielt am 18. Oktober 1870, iſt literariſch ja gewiß<lb/> nicht bedeutend, aber kann auch gerade in unſerer Zeit durch<lb/><floatingText><body><div type="jAn" n="1"><gap reason="insignificant"/></div></body></floatingText> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [561/0011]
12. September 1914. Allgemeine Zeitung
Vaterländiſche Theaterabende.
Nach dem Vorbilde der Berliner Hofbühne hat auch die
unſere der ſchweren Zeit zum Trotz ihre Pforten dem allge-
meinen Beſuche wieder geöffnet. Dort wie da aber nicht
zum Beginn einer regelmäßigen täglichen Spielzeit für Schau-
ſpiel und Oper, ſondern, der Volksſtimmung Rechnung tra-
gend, zur Veranſtaltung vaterländiſcher Abende, bei denen
wohl unſere Hofkapelle und Mitglieder unſerer Oper mit-
wirken, das Theater aber ausgeſchaltet bleibt.
Am vorigen Sonntag fand der erſte dieſer Abende ſtatt,
und zwar zugunſten des Roten Kreuzes: es war ein im Hof-
theater veranſtaltetes Konzert der k. Hofmuſik, das nur einen
Namen trug, freilich den Namen unſeres größten und
deutſcheſten Tonmeiſters: den Namen Beethoven. Die Wahl
war gut, denn, wenn etwas zu Stimmung unſerer Tage paßt,
dann ſind es die hehren Klänge der Eroica, deren Siegesjubel
wie deren Trauermarſch ſo erhebende und ergreifende
Parallelen in unſeren Tagen finden. Direktor Walter diri-
gierte das ganze Konzert ſelbſt: die Eroica ſowohl, wie die
ſpäteren Ouverturen zum Egmont und die große dritte
Leonoren-Ouverture. Nach der Egmont-Ouverture ſang die
eben zur Hofopernſängerin ernannte Frau Perard-Petzl die
zur Egmont-Muſik gehörenden Lieder Klärchens: „Die
Trommel gerühret“ und „Freudvoll und leidvoll“. Frau
Perard-Petzl iſt, wie ja die meiſten Bühnenſängerinnen, keine
Konzertſängerin; aber darauf kam es bei dieſer Gelegenheit
auch gar nicht an. Die Hauptſache blieb doch der erhebende
und begeiſternde Eindruck, den Beethovens erhabene Muſik
auch auf dieſes Publikum, deſſen Gedanken wohl meiſtens an die
bedrohten Grenzen ſchweiften, ſeines tiefen Eindrucks nicht
verfehlte. Obwohl die Preiſe für dieſe Gelegenheit auf ein
Mindeſtmaß heruntergeſchraubt waren, dürfte dem Roten
Kreuz doch ein rundes Sümmchen zugekommen ſein, denn
das Haus war bis zum letzten Platz ausverkauft. Als das
Programm abgeſpielt war, erhoben ſich alle Zuhörer, und
unter Begleitung des Hoforcheſters ſang man die „Wacht am
Rhein“, die Königshymne und „Deutſchland über alles“, unter
großer Begeiſterung und beifälligem Dank für das Gebotene.
Das Schauſpielhaus ſucht auch weiter in ſeinem Spiel-
plan die patriotiſche Note möglichſt zu wahren. Es hat den
gar nicht üblen Einfall gehabt, Wildenbruchs alten
„Mennoniten“ aufzugreifen und ihn zum erſtenmal zur Auf-
führung zu bringen. In München ſelbſt iſt er nicht ganz
neu: er wurde am 31. Mai 1882 in unſerem Hoftheater zum
erſtenmal aufgeführt. Der Mennonit iſt zugleich Wilden-
bruchs überhaupt erſtes aufgeführtes Stück. Ihm folgten
in den 80er und 90er Jahren auf unſerer Hofbühne eine
Reihe ſeiner Stücke, bis es mit einem Schlage aus war und
Wildenbruch aus unerfindlichen Gründen in München über-
haupt keine Gaſtſtätte für ſeine Stücke mehr fand. Es kam
die Zeit des rohen Naturalismus und der literariſchen
Decadence, die vor allem jeden Patriotismus auf der Bühne
verbannte. Nun kommt Wildenbruch zu ſpäten Ehren. Sein
edles vaterländiſches Feuer, das in allen ſeinen Stücken ſo
kraftvolle Worte findet, wird heute wieder verſtanden. Dabei
braucht man ſeine Schwächen gar nicht einmal zu überſehen.
Die Hauptſchwäche iſt die willkürliche und unwahrſcheinliche
Motivierung ſeiner Konflikte. Gleich in der erſten Szene des
Mennoniten kommt dieſer Fehler zu ſchärfſtem Ausdruck.
Auf die große Unwahrſcheinlichkeit, daß der Mennoniten-
älteſte ſeine Tochter abſolut nicht ſeinem über alles geliebten
Pflegeſohn, ſondern einem heimtückiſchen Glaubensgenoſſen,
den er allerdings in ſeinem Schwachſinn nicht durchſchaut, zur
Frau geben will, iſt der ganze Konflikt aufgebaut. Für uns
iſt heute allerdings die politiſche Seite die weit wichtigere.
Der Autor dieſes eigenartigen Trauerſpiels führt uns in die
Zeit der größten Bedrängnis Deutſchlands zurück, in jene
traurige Zeit der tiefſten Schmach und Erniedrigung, wo das
Gefühl nationaler Zuſammengehörigkeit durch Napoleon in
der Art zu Boden getreten war, daß ein engliſches Organ
damals die tödliche Beleidigung: „Die Deutſchen ſind das
feigſte und niederträchtigſte Volk der Erde“ ungeſtraft aus-
ſprechen durfte. In dieſe Zeit politiſcher Zerriſſenheit fällt
die Gründung zahlreicher geheimer Bünde, deren bedeutend-
ſter der von zwanzig Männern in Königsberg gegründete
„Tugendbund“ war, der mit Wiſſen der Regierung beſtand,
im Jahre 1809, in das „der Mennonit“ verlegt iſt, infolge
franzöſiſcher Einmiſchung der Form nach zwar aufgelöſt
wurde, trotzdem aber weiterbeſtand und an Ausdehnung ge-
wann. Das tätigſte und mutigſte Mitglied des Bundes, der
nach ſeinen Statuten durch „Wort, Schrift und Beiſpiel“ auf
die nationale Einigung und die Losreißung von der Fremd-
herrſchaft hinwirkte, war der Major Schill, der in dieſem
Jahre vorzeitig Deutſchlands Befreiung verſuchte und bei
dieſem Verſuche den Heldentod fand. Dies iſt der politiſche
Hintergrund der Handlung, welche uns Wildenbruch vorführt.
Die Franzoſen haben Danzig beſetzt, und Stadt und Um-
gebung leiden unter dem Drucke ihrer Forderungen. Ein
Dorf in der Nähe Danzigs iſt der engere Schauplatz des
Dramas. Das Dorf bewohnen Mennoniten, ſo genannt nach
ihrem Glaubensſtifter, dem frieſiſchen Wanderprediger Menno
Simons (1492—1559), der die zerſtreuten Reſte der Wieder-
täufer ſammelte und in Gemeinden zuerſt in den Nieder-
landen, dann in Norddeutſchland, wo es gegenwärtig deren
14,000 geben mag, ordnete. Die Sekte verwirft die gericht-
liche Klage, den Eid, Krieg und Zweikampf; der letztere iſt
einer der Motoren des Stückes, wird aber in ganz anderer,
wir brauchen kaum zu ſagen, würdigerer Weiſe benützt als
z. B. in dem Blumenthal-Girndtſchen Stücke, „Um ein Nichts“.
Ein junger, feuriger Mennonitenjüngling wird durch ſeine
Begriffe von Mannesehre und Vaterlandsliebe, ſowie durch
einen heuchleriſchen nichtswürdigen Glaubensgenoſſen, der
die Geliebte des erſteren mit Hilfe ihres ſchwachen Vaters
ſeine Braut zu werden zwingt, aus der fanatiſchen Gemeinde
gedrängt und fällt, infolge dieſes Schrittes und als Anhänger
Schills von den Seinen den Franzoſen ausgeliefert, mit dem
geliebten Mädchen auf dem Sande von Danzig durch die
Kugel der letzteren.
Wildenbruch hat ſein Stück etwas ſpäter umgearbeitet
und u. a. ſeine Maria doch nicht erſchießen, ſondern durch
einen Herzſchlag noch rechtzeitig ſterben laſſen. Im übrigen
hat er aber die Winke der damaligen Kritik in keiner Weiſe
befolgen zu müſſen geglaubt, allerdings hätte er dann ſchon
gleich ſeinen Unterbau zerſtören müſſen. Alles, was ſich auf
dieſem Unterbau erhebt, iſt aber konſequent und effektvoll
durchgeführt. Uebrigens haben meines Erinnerns die deut-
ſchen Mennoniten ſpäter einen geharniſchten Proteſt
gegen Wildenbruchs wenig ſchmeichelhafte Zeichnung des
Mennonitentums verbreitet. Vielleicht hat auch dies dazu
beigetragen, daß das Stück allgemach von der deutſchen
Bühne verſchwand. Ich erinnere mich noch jener Premiere
vor 32 Jahren im Hoftheater. Schneider, Häuſſer, Poſſart,
Keppler und Rohde ſpielten die Hauptrollen, den jungen ab-
trünnigen Mennoniten aber kein anderer als der junge Kainz
in der Maienblüte ſeines feurigen Talents. Das war nun
freilich eine beſcheidenere Aufführung neulich im Schauſpiel-
hauſe, aber ſie konnte ſich immerhin ſehen laſſen. Die Dar-
ſteller waren die Herren Peppler, Hans und Siegfried Raabe,
Weydner und Jeſſen. Die einzige Frauenrolle des Stückes
gab Annie Roſar und den jungen Mennoniten ſehr kraftvoll
und glaubhaft Herr Randolf. Natürlich griff das leider nicht
ſehr zahlreiche Publikum gerade jene Kraftſtellen vaterländi-
ſchen Geiſtes, die 1882 noch faſt unter dem Tiſch fielen, mit be-
ſonderer Begeiſterung auf.
An Begeiſterung fehlt es bei Aufführung vaterländiſcher
Stücke unſerem Publikum überhaupt nicht, wohl aber an
Zahl. Man hat den Eindruck, daß unſere Theater viel mehr
ſpielen, um ihre Mitglieder in ſchwerer Zeit zu beſchäftigen,
als um dem Publikum ein würdiges Vergnügen zu bieten,
das es doch nur ungern aufſucht. So fand denn auch Ernſt
Wicherts aus dem Jahre 1871 ſtammender Einakter „Das
eiſerne Kreuz“ nur eine ſchwache Zuhörerſchaft. Das kleine
Lebensbild ſpielt am 18. Oktober 1870, iſt literariſch ja gewiß
nicht bedeutend, aber kann auch gerade in unſerer Zeit durch
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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