Allgemeine Zeitung, Nr. 42, 17. Oktober 1914.17. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Boden stehen, dessen Bevölkerung, staatliche und kulturelle Entwick-lung durchaus deutscher Wurzel, deutschen Wesen ist. Diese Tat- sache läßt sich nicht leugnen, so gering der Teil der Belgier selbst ist, bei dem sie Anerkennung und Würdigung findet. Der römische Eroberer, der erstmals in der Weltgeschichte den Schließt euch zusammen Wie der Pendel der psychologischen Unwägbarkeiten so schnell Gleichwohl wäre es sehr verkehrt, darum anzunehmen, daß Zur Stimmung in Amerika geht uns von befreundeter Seite ein Brief, datiert vom 19. Sep- "Mit Genugtuung hatten wir hier schon aus den Zeitungen 17. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Boden ſtehen, deſſen Bevölkerung, ſtaatliche und kulturelle Entwick-lung durchaus deutſcher Wurzel, deutſchen Weſen iſt. Dieſe Tat- ſache läßt ſich nicht leugnen, ſo gering der Teil der Belgier ſelbſt iſt, bei dem ſie Anerkennung und Würdigung findet. Der römiſche Eroberer, der erſtmals in der Weltgeſchichte den Schließt euch zuſammen Wie der Pendel der pſychologiſchen Unwägbarkeiten ſo ſchnell Gleichwohl wäre es ſehr verkehrt, darum anzunehmen, daß Zur Stimmung in Amerika geht uns von befreundeter Seite ein Brief, datiert vom 19. Sep- „Mit Genugtuung hatten wir hier ſchon aus den Zeitungen <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <p><pb facs="#f0009" n="613"/><fw place="top" type="header">17. Oktober 1914. <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/><cb/> Boden ſtehen, deſſen Bevölkerung, ſtaatliche und kulturelle Entwick-<lb/> lung durchaus deutſcher Wurzel, deutſchen Weſen iſt. Dieſe Tat-<lb/> ſache läßt ſich nicht leugnen, ſo gering der Teil der Belgier ſelbſt<lb/> iſt, bei dem ſie Anerkennung und Würdigung findet.</p><lb/> <p>Der römiſche Eroberer, der erſtmals in der Weltgeſchichte den<lb/> Namen des belgiſchen Volkes auftreten läßt, Julius Caeſar, be-<lb/> zeichnet es ausdrücklich als germaniſchen Stamm. Die Sprache der<lb/> einen Volksgruppe, der flämiſchen, iſt rein niederdeutſch, das Idiom<lb/> der anderen, der walloniſchen, der plattdeutſchen, nicht aber der<lb/> fränkiſchen Zunge nahe verwandt. Im ganzen Mittelalter war<lb/> und fühlte ſich alles flandriſch-brabantes Land als unlösliches deut-<lb/> ſches Reichsgebiet, von dem es erſt 1797 losgeriſſen wurde. Aber<lb/> welche Segnungen hat es feitdem dem Schutz andrer Mächte zu<lb/> danken gehabt? Gleich im folgenden Jahre flammte ein Bauern-<lb/> aufftand auf gegen die welſche Unterdrückung, den Frankreich mit<lb/> einem Erdroſſelungskrieg begegnete, wie er grauſamer nicht ge-<lb/> dacht werden kann und als Spiegelbild der Greueltaten erſcheint,<lb/> die Paris heute den „deutſchen Barbaren“ andichtet. Napoleon<lb/> machte das Land zum Schemel ſeiner ehrgeizigen Welteroberungs-<lb/> politik, auf dem ſeine in aller Herren Länder geworbenen Armeen<lb/> verwüſtend herumſtrampelten. Als Belgien in blutigem Ringen<lb/> mit den niederländiſchen Generalſtaaten ſeine Selbſtändigkeit errun-<lb/> gen und dieſe durch die Londoner Punktationen von 1829 und 1830<lb/> von den Großmächten anerkannt war, erhoben doch ſofort wieder<lb/> die Orl<hi rendition="#aq">é</hi>ans Anſpruch auf den neuen Brüſſeler Thron, und das<lb/> junge Staatsweſen hat es lediglich dem Einſpruch Preußens, das<lb/> mit militäriſchen Maßregeln drohte, zu danken, wenn es vor dieſem<lb/> Prätendententum Louis Philipps, das offenſichtlich auf nichts<lb/> anderes als eine verdeckte Angliederung des jugendlich-ſchwachen<lb/> Nachbarreiches an Frankreich hinauslief, geſchützt wurde. Sogleich,<lb/> als die Napoleoniden wieder die Krone Frankreichs zurückgewonnen<lb/> hatten, begann dasſelbe Spiel in anderer Form: der Nachfolger des<lb/> großen Korſen forderte rundheraus Belgien als Preis ſeiner Zu-<lb/> ſtimmung zu der deutſchen Reichseinigung. Dagegen hat, ſeitdem<lb/> dieſe zuſtande gekommen, Belgien ſeinem deutſchen Nachbarn nur<lb/> Gutes zu danken. Ohne Bismarcks Eintreten wäre ihm die Errich-<lb/> tung des Kongo-Freiſtaates niemals möglich geweſen, und als dieſe<lb/> vollzogen, bot Leopold <hi rendition="#aq">II.</hi> ſogar aus freien Stücken dem Deutſchen<lb/> Reich das Patronat der Oberhoheit an, das vom eiſernen Kanzler<lb/> lediglich aus vielleicht übertriebener Rückſicht auf Frankreich und<lb/> England abgelehnt wurde. Und wie ganz anders war damals die<lb/> Volksſtimmung in Belgien, namentlich beim Flämentum! Deſſen<lb/> geiſtiger Führer, der Nederduitche Verband, in deſſen Reihen Män-<lb/> ner von glänzendem Namen und Ruf, wie Blommaert, van Ryswick,<lb/> Conſcience, Dautzenberg, Snellaert, de Decker, Coremans, de Briendt<lb/> ſtanden, begeiſterte ſich bei der Schilderhebung von 1870 gegen den<lb/> welſchen Erbfeind förmlich für die deutſche Sache und richtete an<lb/> „die Wacht am Rhein“ einen <hi rendition="#aq">„Oproep“,</hi> der in den flammenden<lb/> Verſen endete:</p><lb/> <cit> <quote>Schließt euch zuſammen<lb/> Süden und Norden,<lb/> Eint euer Streben<lb/> Für’s neue Reich! ..<lb/> Frei in Gedanken,<lb/> Mächtig in Werken<lb/> Beherrſchet voll Kühnheit<lb/> Wieder die See!<lb/> Werdet nun wieder<lb/> Die mächtigen Führer,<lb/> Führet zur Freiheit<lb/> Die Völker empor!</quote> </cit><lb/> <p>Wie der Pendel der pſychologiſchen Unwägbarkeiten ſo ſchnell<lb/> und vollkommen nach der franzöſiſchen Seite hin umſchwingen<lb/> konnte, dieſe Wendung gehört zu den am wenigſten erfreulichen<lb/> Schwächeerſcheinungen am Horizont der neuen reichsdeutſchen Poli-<lb/> tik. Da Paris nach dem Frankfurter Frieden endgültig auf ſeine<lb/> Einverleibungsgelüſte Belgiens gegenüber verzichten mußte, ſo<lb/> ſuchte es, wenigſtens das Land „moraliſch zu erobern“; in dieſem<lb/> Sinn arbeitete alsbald die Diplomatie des Quai d’Orſay brüder-<lb/> lich vereint mit der Preſſe, um alles Deutſche bei den Belgiern zu<lb/> verunglimpfen, Frankreich ſelbſt als Hort demokratiſcher Freiheit<lb/> und als einzig wahre Kulturleuchte hinzuſtellen. Mit dem Beginn<lb/> der Marokkokriſe und der Ententeverbrüderung zwiſchen Frankreich<lb/> und England wurde die Hetze von beiden Kampfgenoſſen mit dop-<lb/> peltem Hochdruck fortgeſetzt; der Erfolg der Wühlerei zeigte ſich<lb/> ſehr bald. Während Holland auf die Londoner Lockungen, ſich in<lb/> den Ring der Eduardſchen Einkreiſungspolitik hineindrängen zu<lb/> laſſen, mit der ſtarken Befeſtigung Vliſſingens und Terneuzens ant-<lb/> wortete, war es in Belgien möglich, daß die Miniſterpräſidentſchaft<lb/> vereint mit dem Kriegsportefeuille ein Broqueville übernahm, der<lb/> nicht nur Franzoſe der Abſtammung, ſondern auch ſeiner politi-<lb/><cb/> ſchen Richtung nach war, und wie weit ſchon in jener Zeit das<lb/> Land zu Handlangerdienſten für den Dreiverband breitgeſchlagen<lb/> und ſeine Neutralitätsrechte zu einem wertloſen Stück Aktienpapier<lb/> gemacht worden, beweiſt heute unumſtößlichen geſchichtlichen Zeug-<lb/> niſſes die amtliche Veröffentlichung der in Brüſſel vorgefundenen<lb/> Dokumente über die „<hi rendition="#aq">Intervention anglaise en Belgique</hi>“. Als<lb/> König Leopold <hi rendition="#aq">II.</hi> geſtorben, drehte der belgiſche Regierungswind<lb/> unter dem Thronnachfolger gänzlich nach der franzöſiſch-britiſchen<lb/> Richtung um. Andrerſeits ſetzte die deutſche politiſche Sorgloſigkeit<lb/> und Fremdtümelei dieſer Verwelſchung Belgiens kaum irgend-<lb/> welchen Widerſtand entgegen. Im Gegenteil: obwohl der ge-<lb/> waltige Auffchwung des Landes, namentlich des heute gefallenen<lb/> Antwerpens ſeit den ſiebziger Jahren gar nicht denkbar iſt ohne<lb/> die ſchöpferiſche Mitarbeit, welche die deutſche Schiffahrt, der<lb/> deutſche Handel zur See und zu Land und deutſche Organiſa-<lb/> tion des kaufmänniſchen Lebens, wie die Oſterrieth, Griſar,<lb/> Malinckrodt leiſteten, blieb doch unſer Einfluß eben auf das wirt-<lb/> ſchaftliche Leben ſchon deshalb faſt vollkommen beſchränkt, weil<lb/> dieſe deutſchen Pioniere ſelbſt das Franzöſiſche als angeblich feinere<lb/> Gebildetenſprache bevorzugten.</p><lb/> <p>Gleichwohl wäre es ſehr verkehrt, darum anzunehmen, daß<lb/> Belgien bereits durch und durch mit franzöſiſchem Geiſt durchtränkt<lb/> iſt. Jeder, der das Reich und ſein Volk etwas genauer durchforſcht<lb/> hat, als es der am Leitſeil eines Reiſebureaus Gegängelte tut,<lb/> überzeugt ſich ſehr bald, daß das Land lediglich einen äußeren<lb/> welſchen Firnis angenommen hat. Selbſt in Brüſſel iſt in den<lb/> unteren Vierteln, wo das arbeitende Volk hauſt, flämiſch die Um-<lb/> gangsſprache, weiſen die hochfirſtigen Giebelhäuſer rein nieder-<lb/> deutſchen Charakter auf und ſpielt ſich das ganze eigentümliche<lb/> Leben und Treiben in Formen ab, daß man meinen könnte, plötz-<lb/> lich nach Amſterdam oder Rotterdam verſetzt zu ſein. Hier iſt das<lb/> verdeckte Felsgeſtein, auf dem die unterbrochene Brücke der Wieder-<lb/> verſtändigung zwiſchen dem Deutſchtum und dem belgiſchen Volk<lb/> aufzubauen verſucht werden muß. Wer ſich unparteiiſch und mit<lb/> geſchichtlichem Sinn die Vergangenheit und die neuzeitliche Ent-<lb/> wicklung des alten einſt habsburgiſchen Südflandern und Brabant<lb/> vor Augen hält, der kann kaum zu einem anderen Schluß kommen,<lb/> als daß das naturgemäße politiſche Ideal dieſer Länder nicht in<lb/> einer Anlehnung an Frankreich liegen kann, ſondern nach einer<lb/> Vereinigung der niederdeutſchen Stämme hingerichtet ſein muß, ſo-<lb/> wie die mitteldeutſchen Völker Jahrhunderte lang um die Verwirk-<lb/> lichung eines gleichen Zieles bis zum ſchließlichen glücklichen Erfolg<lb/> gekämpft haben. Iſt das aber richtig, dann wird das belgiſche Volk<lb/> bei ruhiger Beſinnung ſich der Einſicht nicht verſchließen können,<lb/> daß Deutſchland unter dem von ſeiner eigenen Regierung geſchaf-<lb/> fenen politiſchen Druck als ein harter, ſchließlich jedoch wohltätiger<lb/> Führer eben zu den nationalen Zielen in ſein Land gekommen iſt,<lb/> die ſeinem Lebensgang und ſeinen wohlverſtandenen Intereſſen un-<lb/> veräußerlich ſind. Gerade in Stunden der Not, bitterer Enttäu-<lb/> ſchung und der Entlarvung falſcher Freunde iſt eine Nation zu<lb/> ſolcher Selbſtbeſinnung auf ihre wahren Daſeinsgrundgeſetze am<lb/> leichteſten zurückzuführen. Hier gilt es, daß die ſtillen Streiter für<lb/> die deutſche Sache daheim in vornehmer, ruhiger Weiſe Aufklä-<lb/> rungsarbeit leiſten und das Eiſen ſchmieden, ſolange es heiß iſt:<lb/> die Mühe wird, wenn einſt die Friedensglocken läuten und die<lb/> Stunde der Generalabrechnung über die Kriegserfolge da iſt, reich-<lb/> lich ſich lohnen.</p><lb/> <byline>Dr. <hi rendition="#g">Frhr. v. Mackay.</hi></byline> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Zur Stimmung in Amerika</hi> </hi> </head><lb/> <p>geht uns von befreundeter Seite ein Brief, datiert vom 19. 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17. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung
Boden ſtehen, deſſen Bevölkerung, ſtaatliche und kulturelle Entwick-
lung durchaus deutſcher Wurzel, deutſchen Weſen iſt. Dieſe Tat-
ſache läßt ſich nicht leugnen, ſo gering der Teil der Belgier ſelbſt
iſt, bei dem ſie Anerkennung und Würdigung findet.
Der römiſche Eroberer, der erſtmals in der Weltgeſchichte den
Namen des belgiſchen Volkes auftreten läßt, Julius Caeſar, be-
zeichnet es ausdrücklich als germaniſchen Stamm. Die Sprache der
einen Volksgruppe, der flämiſchen, iſt rein niederdeutſch, das Idiom
der anderen, der walloniſchen, der plattdeutſchen, nicht aber der
fränkiſchen Zunge nahe verwandt. Im ganzen Mittelalter war
und fühlte ſich alles flandriſch-brabantes Land als unlösliches deut-
ſches Reichsgebiet, von dem es erſt 1797 losgeriſſen wurde. Aber
welche Segnungen hat es feitdem dem Schutz andrer Mächte zu
danken gehabt? Gleich im folgenden Jahre flammte ein Bauern-
aufftand auf gegen die welſche Unterdrückung, den Frankreich mit
einem Erdroſſelungskrieg begegnete, wie er grauſamer nicht ge-
dacht werden kann und als Spiegelbild der Greueltaten erſcheint,
die Paris heute den „deutſchen Barbaren“ andichtet. Napoleon
machte das Land zum Schemel ſeiner ehrgeizigen Welteroberungs-
politik, auf dem ſeine in aller Herren Länder geworbenen Armeen
verwüſtend herumſtrampelten. Als Belgien in blutigem Ringen
mit den niederländiſchen Generalſtaaten ſeine Selbſtändigkeit errun-
gen und dieſe durch die Londoner Punktationen von 1829 und 1830
von den Großmächten anerkannt war, erhoben doch ſofort wieder
die Orléans Anſpruch auf den neuen Brüſſeler Thron, und das
junge Staatsweſen hat es lediglich dem Einſpruch Preußens, das
mit militäriſchen Maßregeln drohte, zu danken, wenn es vor dieſem
Prätendententum Louis Philipps, das offenſichtlich auf nichts
anderes als eine verdeckte Angliederung des jugendlich-ſchwachen
Nachbarreiches an Frankreich hinauslief, geſchützt wurde. Sogleich,
als die Napoleoniden wieder die Krone Frankreichs zurückgewonnen
hatten, begann dasſelbe Spiel in anderer Form: der Nachfolger des
großen Korſen forderte rundheraus Belgien als Preis ſeiner Zu-
ſtimmung zu der deutſchen Reichseinigung. Dagegen hat, ſeitdem
dieſe zuſtande gekommen, Belgien ſeinem deutſchen Nachbarn nur
Gutes zu danken. Ohne Bismarcks Eintreten wäre ihm die Errich-
tung des Kongo-Freiſtaates niemals möglich geweſen, und als dieſe
vollzogen, bot Leopold II. ſogar aus freien Stücken dem Deutſchen
Reich das Patronat der Oberhoheit an, das vom eiſernen Kanzler
lediglich aus vielleicht übertriebener Rückſicht auf Frankreich und
England abgelehnt wurde. Und wie ganz anders war damals die
Volksſtimmung in Belgien, namentlich beim Flämentum! Deſſen
geiſtiger Führer, der Nederduitche Verband, in deſſen Reihen Män-
ner von glänzendem Namen und Ruf, wie Blommaert, van Ryswick,
Conſcience, Dautzenberg, Snellaert, de Decker, Coremans, de Briendt
ſtanden, begeiſterte ſich bei der Schilderhebung von 1870 gegen den
welſchen Erbfeind förmlich für die deutſche Sache und richtete an
„die Wacht am Rhein“ einen „Oproep“, der in den flammenden
Verſen endete:
Schließt euch zuſammen
Süden und Norden,
Eint euer Streben
Für’s neue Reich! ..
Frei in Gedanken,
Mächtig in Werken
Beherrſchet voll Kühnheit
Wieder die See!
Werdet nun wieder
Die mächtigen Führer,
Führet zur Freiheit
Die Völker empor!
Wie der Pendel der pſychologiſchen Unwägbarkeiten ſo ſchnell
und vollkommen nach der franzöſiſchen Seite hin umſchwingen
konnte, dieſe Wendung gehört zu den am wenigſten erfreulichen
Schwächeerſcheinungen am Horizont der neuen reichsdeutſchen Poli-
tik. Da Paris nach dem Frankfurter Frieden endgültig auf ſeine
Einverleibungsgelüſte Belgiens gegenüber verzichten mußte, ſo
ſuchte es, wenigſtens das Land „moraliſch zu erobern“; in dieſem
Sinn arbeitete alsbald die Diplomatie des Quai d’Orſay brüder-
lich vereint mit der Preſſe, um alles Deutſche bei den Belgiern zu
verunglimpfen, Frankreich ſelbſt als Hort demokratiſcher Freiheit
und als einzig wahre Kulturleuchte hinzuſtellen. Mit dem Beginn
der Marokkokriſe und der Ententeverbrüderung zwiſchen Frankreich
und England wurde die Hetze von beiden Kampfgenoſſen mit dop-
peltem Hochdruck fortgeſetzt; der Erfolg der Wühlerei zeigte ſich
ſehr bald. Während Holland auf die Londoner Lockungen, ſich in
den Ring der Eduardſchen Einkreiſungspolitik hineindrängen zu
laſſen, mit der ſtarken Befeſtigung Vliſſingens und Terneuzens ant-
wortete, war es in Belgien möglich, daß die Miniſterpräſidentſchaft
vereint mit dem Kriegsportefeuille ein Broqueville übernahm, der
nicht nur Franzoſe der Abſtammung, ſondern auch ſeiner politi-
ſchen Richtung nach war, und wie weit ſchon in jener Zeit das
Land zu Handlangerdienſten für den Dreiverband breitgeſchlagen
und ſeine Neutralitätsrechte zu einem wertloſen Stück Aktienpapier
gemacht worden, beweiſt heute unumſtößlichen geſchichtlichen Zeug-
niſſes die amtliche Veröffentlichung der in Brüſſel vorgefundenen
Dokumente über die „Intervention anglaise en Belgique“. Als
König Leopold II. geſtorben, drehte der belgiſche Regierungswind
unter dem Thronnachfolger gänzlich nach der franzöſiſch-britiſchen
Richtung um. Andrerſeits ſetzte die deutſche politiſche Sorgloſigkeit
und Fremdtümelei dieſer Verwelſchung Belgiens kaum irgend-
welchen Widerſtand entgegen. Im Gegenteil: obwohl der ge-
waltige Auffchwung des Landes, namentlich des heute gefallenen
Antwerpens ſeit den ſiebziger Jahren gar nicht denkbar iſt ohne
die ſchöpferiſche Mitarbeit, welche die deutſche Schiffahrt, der
deutſche Handel zur See und zu Land und deutſche Organiſa-
tion des kaufmänniſchen Lebens, wie die Oſterrieth, Griſar,
Malinckrodt leiſteten, blieb doch unſer Einfluß eben auf das wirt-
ſchaftliche Leben ſchon deshalb faſt vollkommen beſchränkt, weil
dieſe deutſchen Pioniere ſelbſt das Franzöſiſche als angeblich feinere
Gebildetenſprache bevorzugten.
Gleichwohl wäre es ſehr verkehrt, darum anzunehmen, daß
Belgien bereits durch und durch mit franzöſiſchem Geiſt durchtränkt
iſt. Jeder, der das Reich und ſein Volk etwas genauer durchforſcht
hat, als es der am Leitſeil eines Reiſebureaus Gegängelte tut,
überzeugt ſich ſehr bald, daß das Land lediglich einen äußeren
welſchen Firnis angenommen hat. Selbſt in Brüſſel iſt in den
unteren Vierteln, wo das arbeitende Volk hauſt, flämiſch die Um-
gangsſprache, weiſen die hochfirſtigen Giebelhäuſer rein nieder-
deutſchen Charakter auf und ſpielt ſich das ganze eigentümliche
Leben und Treiben in Formen ab, daß man meinen könnte, plötz-
lich nach Amſterdam oder Rotterdam verſetzt zu ſein. Hier iſt das
verdeckte Felsgeſtein, auf dem die unterbrochene Brücke der Wieder-
verſtändigung zwiſchen dem Deutſchtum und dem belgiſchen Volk
aufzubauen verſucht werden muß. Wer ſich unparteiiſch und mit
geſchichtlichem Sinn die Vergangenheit und die neuzeitliche Ent-
wicklung des alten einſt habsburgiſchen Südflandern und Brabant
vor Augen hält, der kann kaum zu einem anderen Schluß kommen,
als daß das naturgemäße politiſche Ideal dieſer Länder nicht in
einer Anlehnung an Frankreich liegen kann, ſondern nach einer
Vereinigung der niederdeutſchen Stämme hingerichtet ſein muß, ſo-
wie die mitteldeutſchen Völker Jahrhunderte lang um die Verwirk-
lichung eines gleichen Zieles bis zum ſchließlichen glücklichen Erfolg
gekämpft haben. Iſt das aber richtig, dann wird das belgiſche Volk
bei ruhiger Beſinnung ſich der Einſicht nicht verſchließen können,
daß Deutſchland unter dem von ſeiner eigenen Regierung geſchaf-
fenen politiſchen Druck als ein harter, ſchließlich jedoch wohltätiger
Führer eben zu den nationalen Zielen in ſein Land gekommen iſt,
die ſeinem Lebensgang und ſeinen wohlverſtandenen Intereſſen un-
veräußerlich ſind. Gerade in Stunden der Not, bitterer Enttäu-
ſchung und der Entlarvung falſcher Freunde iſt eine Nation zu
ſolcher Selbſtbeſinnung auf ihre wahren Daſeinsgrundgeſetze am
leichteſten zurückzuführen. Hier gilt es, daß die ſtillen Streiter für
die deutſche Sache daheim in vornehmer, ruhiger Weiſe Aufklä-
rungsarbeit leiſten und das Eiſen ſchmieden, ſolange es heiß iſt:
die Mühe wird, wenn einſt die Friedensglocken läuten und die
Stunde der Generalabrechnung über die Kriegserfolge da iſt, reich-
lich ſich lohnen.
Dr. Frhr. v. Mackay.
Zur Stimmung in Amerika
geht uns von befreundeter Seite ein Brief, datiert vom 19. Sep-
tember, aus New-York zu, welchen wir auszugsweiſe hier
folgen laſſen:
„Mit Genugtuung hatten wir hier ſchon aus den Zeitungen
über die Aufnahme der Kriegserklärung im Reichstage und von
der einſtimmigen Annahme oder vielmehr Bewilligung des Kriegs-
kredites geleſen. Auch hier ſchlugen die Wogen der Begeiſterung
hoch, als die Kriegserklärungen bekannt wurden. Endloſe Züge
von Deutſchen und Oeſterreichern durchzogen die Stadt, obgleich der
Bürgermeiſter die Genehmigung dazu verſagt hatte. Das deutſche
Konſulat wußte ſich nicht zu retten vor den Reſerviſten, von denen
ſich mehr als 25,000 ſchon in den erſten zwei Tagen gemeldet hat-
ten. Eine ganze Reihe hat es gewagt, auf ſogenannte neutrale
Schiffe zu gehen, um nach drüben zu kommen, aber bis jetzt iſt es
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(2023-04-27T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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