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Allgemeine Zeitung, Nr. 42, 17. Oktober 1914.

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[Spaltenumbruch] Boden stehen, dessen Bevölkerung, staatliche und kulturelle Entwick-
lung durchaus deutscher Wurzel, deutschen Wesen ist. Diese Tat-
sache läßt sich nicht leugnen, so gering der Teil der Belgier selbst
ist, bei dem sie Anerkennung und Würdigung findet.

Der römische Eroberer, der erstmals in der Weltgeschichte den
Namen des belgischen Volkes auftreten läßt, Julius Caesar, be-
zeichnet es ausdrücklich als germanischen Stamm. Die Sprache der
einen Volksgruppe, der flämischen, ist rein niederdeutsch, das Idiom
der anderen, der wallonischen, der plattdeutschen, nicht aber der
fränkischen Zunge nahe verwandt. Im ganzen Mittelalter war
und fühlte sich alles flandrisch-brabantes Land als unlösliches deut-
sches Reichsgebiet, von dem es erst 1797 losgerissen wurde. Aber
welche Segnungen hat es feitdem dem Schutz andrer Mächte zu
danken gehabt? Gleich im folgenden Jahre flammte ein Bauern-
aufftand auf gegen die welsche Unterdrückung, den Frankreich mit
einem Erdrosselungskrieg begegnete, wie er grausamer nicht ge-
dacht werden kann und als Spiegelbild der Greueltaten erscheint,
die Paris heute den "deutschen Barbaren" andichtet. Napoleon
machte das Land zum Schemel seiner ehrgeizigen Welteroberungs-
politik, auf dem seine in aller Herren Länder geworbenen Armeen
verwüstend herumstrampelten. Als Belgien in blutigem Ringen
mit den niederländischen Generalstaaten seine Selbständigkeit errun-
gen und diese durch die Londoner Punktationen von 1829 und 1830
von den Großmächten anerkannt war, erhoben doch sofort wieder
die Orleans Anspruch auf den neuen Brüsseler Thron, und das
junge Staatswesen hat es lediglich dem Einspruch Preußens, das
mit militärischen Maßregeln drohte, zu danken, wenn es vor diesem
Prätendententum Louis Philipps, das offensichtlich auf nichts
anderes als eine verdeckte Angliederung des jugendlich-schwachen
Nachbarreiches an Frankreich hinauslief, geschützt wurde. Sogleich,
als die Napoleoniden wieder die Krone Frankreichs zurückgewonnen
hatten, begann dasselbe Spiel in anderer Form: der Nachfolger des
großen Korsen forderte rundheraus Belgien als Preis seiner Zu-
stimmung zu der deutschen Reichseinigung. Dagegen hat, seitdem
diese zustande gekommen, Belgien seinem deutschen Nachbarn nur
Gutes zu danken. Ohne Bismarcks Eintreten wäre ihm die Errich-
tung des Kongo-Freistaates niemals möglich gewesen, und als diese
vollzogen, bot Leopold II. sogar aus freien Stücken dem Deutschen
Reich das Patronat der Oberhoheit an, das vom eisernen Kanzler
lediglich aus vielleicht übertriebener Rücksicht auf Frankreich und
England abgelehnt wurde. Und wie ganz anders war damals die
Volksstimmung in Belgien, namentlich beim Flämentum! Dessen
geistiger Führer, der Nederduitche Verband, in dessen Reihen Män-
ner von glänzendem Namen und Ruf, wie Blommaert, van Ryswick,
Conscience, Dautzenberg, Snellaert, de Decker, Coremans, de Briendt
standen, begeisterte sich bei der Schilderhebung von 1870 gegen den
welschen Erbfeind förmlich für die deutsche Sache und richtete an
"die Wacht am Rhein" einen "Oproep", der in den flammenden
Versen endete:

Schließt euch zusammen
Süden und Norden,
Eint euer Streben
Für's neue Reich! ..
Frei in Gedanken,
Mächtig in Werken
Beherrschet voll Kühnheit
Wieder die See!
Werdet nun wieder
Die mächtigen Führer,
Führet zur Freiheit
Die Völker empor!

Wie der Pendel der psychologischen Unwägbarkeiten so schnell
und vollkommen nach der französischen Seite hin umschwingen
konnte, diese Wendung gehört zu den am wenigsten erfreulichen
Schwächeerscheinungen am Horizont der neuen reichsdeutschen Poli-
tik. Da Paris nach dem Frankfurter Frieden endgültig auf seine
Einverleibungsgelüste Belgiens gegenüber verzichten mußte, so
suchte es, wenigstens das Land "moralisch zu erobern"; in diesem
Sinn arbeitete alsbald die Diplomatie des Quai d'Orsay brüder-
lich vereint mit der Presse, um alles Deutsche bei den Belgiern zu
verunglimpfen, Frankreich selbst als Hort demokratischer Freiheit
und als einzig wahre Kulturleuchte hinzustellen. Mit dem Beginn
der Marokkokrise und der Ententeverbrüderung zwischen Frankreich
und England wurde die Hetze von beiden Kampfgenossen mit dop-
peltem Hochdruck fortgesetzt; der Erfolg der Wühlerei zeigte sich
sehr bald. Während Holland auf die Londoner Lockungen, sich in
den Ring der Eduardschen Einkreisungspolitik hineindrängen zu
lassen, mit der starken Befestigung Vlissingens und Terneuzens ant-
wortete, war es in Belgien möglich, daß die Ministerpräsidentschaft
vereint mit dem Kriegsportefeuille ein Broqueville übernahm, der
nicht nur Franzose der Abstammung, sondern auch seiner politi-
[Spaltenumbruch] schen Richtung nach war, und wie weit schon in jener Zeit das
Land zu Handlangerdiensten für den Dreiverband breitgeschlagen
und seine Neutralitätsrechte zu einem wertlosen Stück Aktienpapier
gemacht worden, beweist heute unumstößlichen geschichtlichen Zeug-
nisses die amtliche Veröffentlichung der in Brüssel vorgefundenen
Dokumente über die "Intervention anglaise en Belgique". Als
König Leopold II. gestorben, drehte der belgische Regierungswind
unter dem Thronnachfolger gänzlich nach der französisch-britischen
Richtung um. Andrerseits setzte die deutsche politische Sorglosigkeit
und Fremdtümelei dieser Verwelschung Belgiens kaum irgend-
welchen Widerstand entgegen. Im Gegenteil: obwohl der ge-
waltige Auffchwung des Landes, namentlich des heute gefallenen
Antwerpens seit den siebziger Jahren gar nicht denkbar ist ohne
die schöpferische Mitarbeit, welche die deutsche Schiffahrt, der
deutsche Handel zur See und zu Land und deutsche Organisa-
tion des kaufmännischen Lebens, wie die Osterrieth, Grisar,
Malinckrodt leisteten, blieb doch unser Einfluß eben auf das wirt-
schaftliche Leben schon deshalb fast vollkommen beschränkt, weil
diese deutschen Pioniere selbst das Französische als angeblich feinere
Gebildetensprache bevorzugten.

Gleichwohl wäre es sehr verkehrt, darum anzunehmen, daß
Belgien bereits durch und durch mit französischem Geist durchtränkt
ist. Jeder, der das Reich und sein Volk etwas genauer durchforscht
hat, als es der am Leitseil eines Reisebureaus Gegängelte tut,
überzeugt sich sehr bald, daß das Land lediglich einen äußeren
welschen Firnis angenommen hat. Selbst in Brüssel ist in den
unteren Vierteln, wo das arbeitende Volk haust, flämisch die Um-
gangssprache, weisen die hochfirstigen Giebelhäuser rein nieder-
deutschen Charakter auf und spielt sich das ganze eigentümliche
Leben und Treiben in Formen ab, daß man meinen könnte, plötz-
lich nach Amsterdam oder Rotterdam versetzt zu sein. Hier ist das
verdeckte Felsgestein, auf dem die unterbrochene Brücke der Wieder-
verständigung zwischen dem Deutschtum und dem belgischen Volk
aufzubauen versucht werden muß. Wer sich unparteiisch und mit
geschichtlichem Sinn die Vergangenheit und die neuzeitliche Ent-
wicklung des alten einst habsburgischen Südflandern und Brabant
vor Augen hält, der kann kaum zu einem anderen Schluß kommen,
als daß das naturgemäße politische Ideal dieser Länder nicht in
einer Anlehnung an Frankreich liegen kann, sondern nach einer
Vereinigung der niederdeutschen Stämme hingerichtet sein muß, so-
wie die mitteldeutschen Völker Jahrhunderte lang um die Verwirk-
lichung eines gleichen Zieles bis zum schließlichen glücklichen Erfolg
gekämpft haben. Ist das aber richtig, dann wird das belgische Volk
bei ruhiger Besinnung sich der Einsicht nicht verschließen können,
daß Deutschland unter dem von seiner eigenen Regierung geschaf-
fenen politischen Druck als ein harter, schließlich jedoch wohltätiger
Führer eben zu den nationalen Zielen in sein Land gekommen ist,
die seinem Lebensgang und seinen wohlverstandenen Interessen un-
veräußerlich sind. Gerade in Stunden der Not, bitterer Enttäu-
schung und der Entlarvung falscher Freunde ist eine Nation zu
solcher Selbstbesinnung auf ihre wahren Daseinsgrundgesetze am
leichtesten zurückzuführen. Hier gilt es, daß die stillen Streiter für
die deutsche Sache daheim in vornehmer, ruhiger Weise Aufklä-
rungsarbeit leisten und das Eisen schmieden, solange es heiß ist:
die Mühe wird, wenn einst die Friedensglocken läuten und die
Stunde der Generalabrechnung über die Kriegserfolge da ist, reich-
lich sich lohnen.



Zur Stimmung in Amerika

geht uns von befreundeter Seite ein Brief, datiert vom 19. Sep-
tember, aus New-York zu, welchen wir auszugsweise hier
folgen lassen:

"Mit Genugtuung hatten wir hier schon aus den Zeitungen
über die Aufnahme der Kriegserklärung im Reichstage und von
der einstimmigen Annahme oder vielmehr Bewilligung des Kriegs-
kredites gelesen. Auch hier schlugen die Wogen der Begeisterung
hoch, als die Kriegserklärungen bekannt wurden. Endlose Züge
von Deutschen und Oesterreichern durchzogen die Stadt, obgleich der
Bürgermeister die Genehmigung dazu versagt hatte. Das deutsche
Konsulat wußte sich nicht zu retten vor den Reservisten, von denen
sich mehr als 25,000 schon in den ersten zwei Tagen gemeldet hat-
ten. Eine ganze Reihe hat es gewagt, auf sogenannte neutrale
Schiffe zu gehen, um nach drüben zu kommen, aber bis jetzt ist es

17. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Boden ſtehen, deſſen Bevölkerung, ſtaatliche und kulturelle Entwick-
lung durchaus deutſcher Wurzel, deutſchen Weſen iſt. Dieſe Tat-
ſache läßt ſich nicht leugnen, ſo gering der Teil der Belgier ſelbſt
iſt, bei dem ſie Anerkennung und Würdigung findet.

Der römiſche Eroberer, der erſtmals in der Weltgeſchichte den
Namen des belgiſchen Volkes auftreten läßt, Julius Caeſar, be-
zeichnet es ausdrücklich als germaniſchen Stamm. Die Sprache der
einen Volksgruppe, der flämiſchen, iſt rein niederdeutſch, das Idiom
der anderen, der walloniſchen, der plattdeutſchen, nicht aber der
fränkiſchen Zunge nahe verwandt. Im ganzen Mittelalter war
und fühlte ſich alles flandriſch-brabantes Land als unlösliches deut-
ſches Reichsgebiet, von dem es erſt 1797 losgeriſſen wurde. Aber
welche Segnungen hat es feitdem dem Schutz andrer Mächte zu
danken gehabt? Gleich im folgenden Jahre flammte ein Bauern-
aufftand auf gegen die welſche Unterdrückung, den Frankreich mit
einem Erdroſſelungskrieg begegnete, wie er grauſamer nicht ge-
dacht werden kann und als Spiegelbild der Greueltaten erſcheint,
die Paris heute den „deutſchen Barbaren“ andichtet. Napoleon
machte das Land zum Schemel ſeiner ehrgeizigen Welteroberungs-
politik, auf dem ſeine in aller Herren Länder geworbenen Armeen
verwüſtend herumſtrampelten. Als Belgien in blutigem Ringen
mit den niederländiſchen Generalſtaaten ſeine Selbſtändigkeit errun-
gen und dieſe durch die Londoner Punktationen von 1829 und 1830
von den Großmächten anerkannt war, erhoben doch ſofort wieder
die Orléans Anſpruch auf den neuen Brüſſeler Thron, und das
junge Staatsweſen hat es lediglich dem Einſpruch Preußens, das
mit militäriſchen Maßregeln drohte, zu danken, wenn es vor dieſem
Prätendententum Louis Philipps, das offenſichtlich auf nichts
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Nachbarreiches an Frankreich hinauslief, geſchützt wurde. Sogleich,
als die Napoleoniden wieder die Krone Frankreichs zurückgewonnen
hatten, begann dasſelbe Spiel in anderer Form: der Nachfolger des
großen Korſen forderte rundheraus Belgien als Preis ſeiner Zu-
ſtimmung zu der deutſchen Reichseinigung. Dagegen hat, ſeitdem
dieſe zuſtande gekommen, Belgien ſeinem deutſchen Nachbarn nur
Gutes zu danken. Ohne Bismarcks Eintreten wäre ihm die Errich-
tung des Kongo-Freiſtaates niemals möglich geweſen, und als dieſe
vollzogen, bot Leopold II. ſogar aus freien Stücken dem Deutſchen
Reich das Patronat der Oberhoheit an, das vom eiſernen Kanzler
lediglich aus vielleicht übertriebener Rückſicht auf Frankreich und
England abgelehnt wurde. Und wie ganz anders war damals die
Volksſtimmung in Belgien, namentlich beim Flämentum! Deſſen
geiſtiger Führer, der Nederduitche Verband, in deſſen Reihen Män-
ner von glänzendem Namen und Ruf, wie Blommaert, van Ryswick,
Conſcience, Dautzenberg, Snellaert, de Decker, Coremans, de Briendt
ſtanden, begeiſterte ſich bei der Schilderhebung von 1870 gegen den
welſchen Erbfeind förmlich für die deutſche Sache und richtete an
„die Wacht am Rhein“ einen „Oproep“, der in den flammenden
Verſen endete:

Schließt euch zuſammen
Süden und Norden,
Eint euer Streben
Für’s neue Reich! ..
Frei in Gedanken,
Mächtig in Werken
Beherrſchet voll Kühnheit
Wieder die See!
Werdet nun wieder
Die mächtigen Führer,
Führet zur Freiheit
Die Völker empor!

Wie der Pendel der pſychologiſchen Unwägbarkeiten ſo ſchnell
und vollkommen nach der franzöſiſchen Seite hin umſchwingen
konnte, dieſe Wendung gehört zu den am wenigſten erfreulichen
Schwächeerſcheinungen am Horizont der neuen reichsdeutſchen Poli-
tik. Da Paris nach dem Frankfurter Frieden endgültig auf ſeine
Einverleibungsgelüſte Belgiens gegenüber verzichten mußte, ſo
ſuchte es, wenigſtens das Land „moraliſch zu erobern“; in dieſem
Sinn arbeitete alsbald die Diplomatie des Quai d’Orſay brüder-
lich vereint mit der Preſſe, um alles Deutſche bei den Belgiern zu
verunglimpfen, Frankreich ſelbſt als Hort demokratiſcher Freiheit
und als einzig wahre Kulturleuchte hinzuſtellen. Mit dem Beginn
der Marokkokriſe und der Ententeverbrüderung zwiſchen Frankreich
und England wurde die Hetze von beiden Kampfgenoſſen mit dop-
peltem Hochdruck fortgeſetzt; der Erfolg der Wühlerei zeigte ſich
ſehr bald. Während Holland auf die Londoner Lockungen, ſich in
den Ring der Eduardſchen Einkreiſungspolitik hineindrängen zu
laſſen, mit der ſtarken Befeſtigung Vliſſingens und Terneuzens ant-
wortete, war es in Belgien möglich, daß die Miniſterpräſidentſchaft
vereint mit dem Kriegsportefeuille ein Broqueville übernahm, der
nicht nur Franzoſe der Abſtammung, ſondern auch ſeiner politi-
[Spaltenumbruch] ſchen Richtung nach war, und wie weit ſchon in jener Zeit das
Land zu Handlangerdienſten für den Dreiverband breitgeſchlagen
und ſeine Neutralitätsrechte zu einem wertloſen Stück Aktienpapier
gemacht worden, beweiſt heute unumſtößlichen geſchichtlichen Zeug-
niſſes die amtliche Veröffentlichung der in Brüſſel vorgefundenen
Dokumente über die „Intervention anglaise en Belgique“. Als
König Leopold II. geſtorben, drehte der belgiſche Regierungswind
unter dem Thronnachfolger gänzlich nach der franzöſiſch-britiſchen
Richtung um. Andrerſeits ſetzte die deutſche politiſche Sorgloſigkeit
und Fremdtümelei dieſer Verwelſchung Belgiens kaum irgend-
welchen Widerſtand entgegen. Im Gegenteil: obwohl der ge-
waltige Auffchwung des Landes, namentlich des heute gefallenen
Antwerpens ſeit den ſiebziger Jahren gar nicht denkbar iſt ohne
die ſchöpferiſche Mitarbeit, welche die deutſche Schiffahrt, der
deutſche Handel zur See und zu Land und deutſche Organiſa-
tion des kaufmänniſchen Lebens, wie die Oſterrieth, Griſar,
Malinckrodt leiſteten, blieb doch unſer Einfluß eben auf das wirt-
ſchaftliche Leben ſchon deshalb faſt vollkommen beſchränkt, weil
dieſe deutſchen Pioniere ſelbſt das Franzöſiſche als angeblich feinere
Gebildetenſprache bevorzugten.

Gleichwohl wäre es ſehr verkehrt, darum anzunehmen, daß
Belgien bereits durch und durch mit franzöſiſchem Geiſt durchtränkt
iſt. Jeder, der das Reich und ſein Volk etwas genauer durchforſcht
hat, als es der am Leitſeil eines Reiſebureaus Gegängelte tut,
überzeugt ſich ſehr bald, daß das Land lediglich einen äußeren
welſchen Firnis angenommen hat. Selbſt in Brüſſel iſt in den
unteren Vierteln, wo das arbeitende Volk hauſt, flämiſch die Um-
gangsſprache, weiſen die hochfirſtigen Giebelhäuſer rein nieder-
deutſchen Charakter auf und ſpielt ſich das ganze eigentümliche
Leben und Treiben in Formen ab, daß man meinen könnte, plötz-
lich nach Amſterdam oder Rotterdam verſetzt zu ſein. Hier iſt das
verdeckte Felsgeſtein, auf dem die unterbrochene Brücke der Wieder-
verſtändigung zwiſchen dem Deutſchtum und dem belgiſchen Volk
aufzubauen verſucht werden muß. Wer ſich unparteiiſch und mit
geſchichtlichem Sinn die Vergangenheit und die neuzeitliche Ent-
wicklung des alten einſt habsburgiſchen Südflandern und Brabant
vor Augen hält, der kann kaum zu einem anderen Schluß kommen,
als daß das naturgemäße politiſche Ideal dieſer Länder nicht in
einer Anlehnung an Frankreich liegen kann, ſondern nach einer
Vereinigung der niederdeutſchen Stämme hingerichtet ſein muß, ſo-
wie die mitteldeutſchen Völker Jahrhunderte lang um die Verwirk-
lichung eines gleichen Zieles bis zum ſchließlichen glücklichen Erfolg
gekämpft haben. Iſt das aber richtig, dann wird das belgiſche Volk
bei ruhiger Beſinnung ſich der Einſicht nicht verſchließen können,
daß Deutſchland unter dem von ſeiner eigenen Regierung geſchaf-
fenen politiſchen Druck als ein harter, ſchließlich jedoch wohltätiger
Führer eben zu den nationalen Zielen in ſein Land gekommen iſt,
die ſeinem Lebensgang und ſeinen wohlverſtandenen Intereſſen un-
veräußerlich ſind. Gerade in Stunden der Not, bitterer Enttäu-
ſchung und der Entlarvung falſcher Freunde iſt eine Nation zu
ſolcher Selbſtbeſinnung auf ihre wahren Daſeinsgrundgeſetze am
leichteſten zurückzuführen. Hier gilt es, daß die ſtillen Streiter für
die deutſche Sache daheim in vornehmer, ruhiger Weiſe Aufklä-
rungsarbeit leiſten und das Eiſen ſchmieden, ſolange es heiß iſt:
die Mühe wird, wenn einſt die Friedensglocken läuten und die
Stunde der Generalabrechnung über die Kriegserfolge da iſt, reich-
lich ſich lohnen.



Zur Stimmung in Amerika

geht uns von befreundeter Seite ein Brief, datiert vom 19. Sep-
tember, aus New-York zu, welchen wir auszugsweiſe hier
folgen laſſen:

„Mit Genugtuung hatten wir hier ſchon aus den Zeitungen
über die Aufnahme der Kriegserklärung im Reichstage und von
der einſtimmigen Annahme oder vielmehr Bewilligung des Kriegs-
kredites geleſen. Auch hier ſchlugen die Wogen der Begeiſterung
hoch, als die Kriegserklärungen bekannt wurden. Endloſe Züge
von Deutſchen und Oeſterreichern durchzogen die Stadt, obgleich der
Bürgermeiſter die Genehmigung dazu verſagt hatte. Das deutſche
Konſulat wußte ſich nicht zu retten vor den Reſerviſten, von denen
ſich mehr als 25,000 ſchon in den erſten zwei Tagen gemeldet hat-
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[613/0009] 17. Oktober 1914. Allgemeine Zeitung Boden ſtehen, deſſen Bevölkerung, ſtaatliche und kulturelle Entwick- lung durchaus deutſcher Wurzel, deutſchen Weſen iſt. Dieſe Tat- ſache läßt ſich nicht leugnen, ſo gering der Teil der Belgier ſelbſt iſt, bei dem ſie Anerkennung und Würdigung findet. Der römiſche Eroberer, der erſtmals in der Weltgeſchichte den Namen des belgiſchen Volkes auftreten läßt, Julius Caeſar, be- zeichnet es ausdrücklich als germaniſchen Stamm. Die Sprache der einen Volksgruppe, der flämiſchen, iſt rein niederdeutſch, das Idiom der anderen, der walloniſchen, der plattdeutſchen, nicht aber der fränkiſchen Zunge nahe verwandt. Im ganzen Mittelalter war und fühlte ſich alles flandriſch-brabantes Land als unlösliches deut- ſches Reichsgebiet, von dem es erſt 1797 losgeriſſen wurde. Aber welche Segnungen hat es feitdem dem Schutz andrer Mächte zu danken gehabt? Gleich im folgenden Jahre flammte ein Bauern- aufftand auf gegen die welſche Unterdrückung, den Frankreich mit einem Erdroſſelungskrieg begegnete, wie er grauſamer nicht ge- dacht werden kann und als Spiegelbild der Greueltaten erſcheint, die Paris heute den „deutſchen Barbaren“ andichtet. Napoleon machte das Land zum Schemel ſeiner ehrgeizigen Welteroberungs- politik, auf dem ſeine in aller Herren Länder geworbenen Armeen verwüſtend herumſtrampelten. Als Belgien in blutigem Ringen mit den niederländiſchen Generalſtaaten ſeine Selbſtändigkeit errun- gen und dieſe durch die Londoner Punktationen von 1829 und 1830 von den Großmächten anerkannt war, erhoben doch ſofort wieder die Orléans Anſpruch auf den neuen Brüſſeler Thron, und das junge Staatsweſen hat es lediglich dem Einſpruch Preußens, das mit militäriſchen Maßregeln drohte, zu danken, wenn es vor dieſem Prätendententum Louis Philipps, das offenſichtlich auf nichts anderes als eine verdeckte Angliederung des jugendlich-ſchwachen Nachbarreiches an Frankreich hinauslief, geſchützt wurde. Sogleich, als die Napoleoniden wieder die Krone Frankreichs zurückgewonnen hatten, begann dasſelbe Spiel in anderer Form: der Nachfolger des großen Korſen forderte rundheraus Belgien als Preis ſeiner Zu- ſtimmung zu der deutſchen Reichseinigung. Dagegen hat, ſeitdem dieſe zuſtande gekommen, Belgien ſeinem deutſchen Nachbarn nur Gutes zu danken. Ohne Bismarcks Eintreten wäre ihm die Errich- tung des Kongo-Freiſtaates niemals möglich geweſen, und als dieſe vollzogen, bot Leopold II. ſogar aus freien Stücken dem Deutſchen Reich das Patronat der Oberhoheit an, das vom eiſernen Kanzler lediglich aus vielleicht übertriebener Rückſicht auf Frankreich und England abgelehnt wurde. Und wie ganz anders war damals die Volksſtimmung in Belgien, namentlich beim Flämentum! Deſſen geiſtiger Führer, der Nederduitche Verband, in deſſen Reihen Män- ner von glänzendem Namen und Ruf, wie Blommaert, van Ryswick, Conſcience, Dautzenberg, Snellaert, de Decker, Coremans, de Briendt ſtanden, begeiſterte ſich bei der Schilderhebung von 1870 gegen den welſchen Erbfeind förmlich für die deutſche Sache und richtete an „die Wacht am Rhein“ einen „Oproep“, der in den flammenden Verſen endete: Schließt euch zuſammen Süden und Norden, Eint euer Streben Für’s neue Reich! .. Frei in Gedanken, Mächtig in Werken Beherrſchet voll Kühnheit Wieder die See! Werdet nun wieder Die mächtigen Führer, Führet zur Freiheit Die Völker empor! Wie der Pendel der pſychologiſchen Unwägbarkeiten ſo ſchnell und vollkommen nach der franzöſiſchen Seite hin umſchwingen konnte, dieſe Wendung gehört zu den am wenigſten erfreulichen Schwächeerſcheinungen am Horizont der neuen reichsdeutſchen Poli- tik. Da Paris nach dem Frankfurter Frieden endgültig auf ſeine Einverleibungsgelüſte Belgiens gegenüber verzichten mußte, ſo ſuchte es, wenigſtens das Land „moraliſch zu erobern“; in dieſem Sinn arbeitete alsbald die Diplomatie des Quai d’Orſay brüder- lich vereint mit der Preſſe, um alles Deutſche bei den Belgiern zu verunglimpfen, Frankreich ſelbſt als Hort demokratiſcher Freiheit und als einzig wahre Kulturleuchte hinzuſtellen. Mit dem Beginn der Marokkokriſe und der Ententeverbrüderung zwiſchen Frankreich und England wurde die Hetze von beiden Kampfgenoſſen mit dop- peltem Hochdruck fortgeſetzt; der Erfolg der Wühlerei zeigte ſich ſehr bald. Während Holland auf die Londoner Lockungen, ſich in den Ring der Eduardſchen Einkreiſungspolitik hineindrängen zu laſſen, mit der ſtarken Befeſtigung Vliſſingens und Terneuzens ant- wortete, war es in Belgien möglich, daß die Miniſterpräſidentſchaft vereint mit dem Kriegsportefeuille ein Broqueville übernahm, der nicht nur Franzoſe der Abſtammung, ſondern auch ſeiner politi- ſchen Richtung nach war, und wie weit ſchon in jener Zeit das Land zu Handlangerdienſten für den Dreiverband breitgeſchlagen und ſeine Neutralitätsrechte zu einem wertloſen Stück Aktienpapier gemacht worden, beweiſt heute unumſtößlichen geſchichtlichen Zeug- niſſes die amtliche Veröffentlichung der in Brüſſel vorgefundenen Dokumente über die „Intervention anglaise en Belgique“. Als König Leopold II. geſtorben, drehte der belgiſche Regierungswind unter dem Thronnachfolger gänzlich nach der franzöſiſch-britiſchen Richtung um. Andrerſeits ſetzte die deutſche politiſche Sorgloſigkeit und Fremdtümelei dieſer Verwelſchung Belgiens kaum irgend- welchen Widerſtand entgegen. Im Gegenteil: obwohl der ge- waltige Auffchwung des Landes, namentlich des heute gefallenen Antwerpens ſeit den ſiebziger Jahren gar nicht denkbar iſt ohne die ſchöpferiſche Mitarbeit, welche die deutſche Schiffahrt, der deutſche Handel zur See und zu Land und deutſche Organiſa- tion des kaufmänniſchen Lebens, wie die Oſterrieth, Griſar, Malinckrodt leiſteten, blieb doch unſer Einfluß eben auf das wirt- ſchaftliche Leben ſchon deshalb faſt vollkommen beſchränkt, weil dieſe deutſchen Pioniere ſelbſt das Franzöſiſche als angeblich feinere Gebildetenſprache bevorzugten. Gleichwohl wäre es ſehr verkehrt, darum anzunehmen, daß Belgien bereits durch und durch mit franzöſiſchem Geiſt durchtränkt iſt. Jeder, der das Reich und ſein Volk etwas genauer durchforſcht hat, als es der am Leitſeil eines Reiſebureaus Gegängelte tut, überzeugt ſich ſehr bald, daß das Land lediglich einen äußeren welſchen Firnis angenommen hat. Selbſt in Brüſſel iſt in den unteren Vierteln, wo das arbeitende Volk hauſt, flämiſch die Um- gangsſprache, weiſen die hochfirſtigen Giebelhäuſer rein nieder- deutſchen Charakter auf und ſpielt ſich das ganze eigentümliche Leben und Treiben in Formen ab, daß man meinen könnte, plötz- lich nach Amſterdam oder Rotterdam verſetzt zu ſein. Hier iſt das verdeckte Felsgeſtein, auf dem die unterbrochene Brücke der Wieder- verſtändigung zwiſchen dem Deutſchtum und dem belgiſchen Volk aufzubauen verſucht werden muß. Wer ſich unparteiiſch und mit geſchichtlichem Sinn die Vergangenheit und die neuzeitliche Ent- wicklung des alten einſt habsburgiſchen Südflandern und Brabant vor Augen hält, der kann kaum zu einem anderen Schluß kommen, als daß das naturgemäße politiſche Ideal dieſer Länder nicht in einer Anlehnung an Frankreich liegen kann, ſondern nach einer Vereinigung der niederdeutſchen Stämme hingerichtet ſein muß, ſo- wie die mitteldeutſchen Völker Jahrhunderte lang um die Verwirk- lichung eines gleichen Zieles bis zum ſchließlichen glücklichen Erfolg gekämpft haben. Iſt das aber richtig, dann wird das belgiſche Volk bei ruhiger Beſinnung ſich der Einſicht nicht verſchließen können, daß Deutſchland unter dem von ſeiner eigenen Regierung geſchaf- fenen politiſchen Druck als ein harter, ſchließlich jedoch wohltätiger Führer eben zu den nationalen Zielen in ſein Land gekommen iſt, die ſeinem Lebensgang und ſeinen wohlverſtandenen Intereſſen un- veräußerlich ſind. Gerade in Stunden der Not, bitterer Enttäu- ſchung und der Entlarvung falſcher Freunde iſt eine Nation zu ſolcher Selbſtbeſinnung auf ihre wahren Daſeinsgrundgeſetze am leichteſten zurückzuführen. Hier gilt es, daß die ſtillen Streiter für die deutſche Sache daheim in vornehmer, ruhiger Weiſe Aufklä- rungsarbeit leiſten und das Eiſen ſchmieden, ſolange es heiß iſt: die Mühe wird, wenn einſt die Friedensglocken läuten und die Stunde der Generalabrechnung über die Kriegserfolge da iſt, reich- lich ſich lohnen. Dr. Frhr. v. Mackay. Zur Stimmung in Amerika geht uns von befreundeter Seite ein Brief, datiert vom 19. Sep- tember, aus New-York zu, welchen wir auszugsweiſe hier folgen laſſen: „Mit Genugtuung hatten wir hier ſchon aus den Zeitungen über die Aufnahme der Kriegserklärung im Reichstage und von der einſtimmigen Annahme oder vielmehr Bewilligung des Kriegs- kredites geleſen. Auch hier ſchlugen die Wogen der Begeiſterung hoch, als die Kriegserklärungen bekannt wurden. Endloſe Züge von Deutſchen und Oeſterreichern durchzogen die Stadt, obgleich der Bürgermeiſter die Genehmigung dazu verſagt hatte. Das deutſche Konſulat wußte ſich nicht zu retten vor den Reſerviſten, von denen ſich mehr als 25,000 ſchon in den erſten zwei Tagen gemeldet hat- ten. Eine ganze Reihe hat es gewagt, auf ſogenannte neutrale Schiffe zu gehen, um nach drüben zu kommen, aber bis jetzt iſt es

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-27T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 42, 17. Oktober 1914, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine42_1914/9>, abgerufen am 23.11.2024.