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Allgemeine Zeitung, Nr. 44, 31. Oktober 1914.

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Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914.
[Spaltenumbruch]
Feuilleton
Aus der neutralen Schweiz.

Wer die denkwürdigen ersten Augusttage in einer deut-
schen Stadt, z. B. in München, mit bebendem Herzen miterlebt
hat, der findet sich auf neutralem Boden aus der Nähe der
Zeit des Alltags nur schwer in jene gehobene Stimmung zu-
rück, in der ihn das Brausen des "Rufs wie Donnerhall" so
mächtig ergriffen. Gäbe es keine deutschen Zeitungen auf
unserem geruhigen Eiland inmitten der gewaltigen Völkerbran-
dung, man müßte an der Aufgabe, kühl bis an's Herz hinan
sich seine Neutralität nicht von irgend einer Seite beeinflussen
zu lassen, verzweifeln. Denn wer, wie z. B. die Welschschweizer
nur auf einheimisches Pressegewächs angewiesen ist, dem kann
man es schließlich nicht verargen, wenn er sich daran in einen,
das sachliche Urteil trübenden Leidenschastsrausch, hineinliest.

Was Wunder, wenn, um vom Gleichnis zur Wirklichkeit
zu kommen, die heißspornigen Waadtländer ihren heurigen
Wein "Joffre" nennen wollen und damit unzweideutig zum
Ausdruck bringen, auf welcher Seite bei diesem Völkerkrieg
ihre Sympathien zu finden sind. Daß in solchen bewegten
Zeiten die Preßfreiheit auch im Lande der Freiheit der Obrig-
keit gelegentlich zu schaffen macht, kann man sich denken. Es
mag dem schweizerischen Bundesrat nicht leicht geworden sein,
gegen die ärgsten Schreihälse, richtige enfants terribles, ein-
zuschreiten und kurzer Hand vorläufig zwei westschweizerischen
Skandalblättchen das Erscheinen auf die Dauer des Krieges
zu verbieten. Ja, er ging noch einen Schritt weiter und
sistierte den öffentlichen Verkauf einiger ausländischer Witz-
blätter, darunter des "Simplizissimus", der freilich trotzdem
in Wirtschaften, wo er aufliegt, ruhig genossen werden darf.
Aber man will aus einem ganz richtigen Gefühl heraus, das
Empfinden der zahlreichen in der Schweiz sich aufhaltenden
Ausländer schonen, indem man solche Karrikaturen von den
Schaufenstern fernhält. Dafür ist der Deutsche Kaiser da und
dort in bücherischen Kunsthandlungen zu sehen, während in
Lausanne, Genf und dort herum die französischen Heerführer
in den Schaufenstern die Parade über die Vorübergehenden
abnehmen. "Schon in Biel", schreibt der Mitarbeiter eines
bernischen Blattes, "steht man ganz verblüfft vor dem Schau-
fenster einer "librairie" und fragt sich: bist du noch in der
Schweiz oder bereits auf französischem Boden? In Neuen-
burg, Lausanne und Genf ist die Erscheinung noch viel auf-
fallender.

Die Generale Joffre, Castelnau und Gallieni sind die Hei-
den der Schaufenster, die "Illustration" liegt auf, Bilder fran-
zösischer Kriegsmaler lenken mit ihren grellen Farben das
Auge auf sich. Ansichtskarten mit den Bildnissen Poincares,
des Zaren, der Könige von Belgien und England werden zum
Kauf angeboten, künstlich hergestellte Photographien der bren-
nenden Kathedrale von Reims rufen die Entrüstung des
staunenden Bürgers hervor. Die herrlichen Türme sind
lodernde Fackeln geworden und stehen eben im Begriff, zu-
sammenzustürzen (!) wie weiland die Türme "Jerichos" usw.
Vielleicht hat sich auch Hodlers Phantasie an solchen Schauer-
"helgen" entzündet, als er jenen törichten Protest unterschrieb.
Denn das Märchen, daß Hodler, der seine Bernerart weder in
seinem Aeußern, noch in seinen Werken verleugnet, während
seines Genfer Aufenthaltes ganz Welschschweizer geworden
sei und kaum noch eine deutsche Zeitung zu Gesicht bekomme,
dürfte wenige Gläubige finden. Dem Künstler und
Psychologen Hodler hätte schon ein Blick auf die prächtigen
Charakterköpfe der Männer im deutschen Generalstab sagen
müssen, daß "Barbaren" gewöhnlich weniger geteilt dreinzu-
schauen pflegen.

In Zürich herrscht zurzeit ein für den Spätherbst ganz
ungewöhnliches Fremdentreiben. An der baumbestandenen
Bahnhofstraße sieht man zu gewissen Stunden weit mehr
Polen, Russen, Franzosen usw. als Einheimische; zumeist ele-
gante Damen und Herren, die mehr der Not der Zeit, als dem
[Spaltenumbruch] eigenen Triebe gehorchend, in diesem Zentrum der deutschen
Schweiz friedlichere Tage abwarten. Da das Theater seine
Pforten wieder geöffnet hält, wenn auch nur dreimal zur
Woche, läßt man sich Aufführungen von "Cosi fan tutte",
"Fidelio" und des "fidelen Bauer" -- auch der Spielplan ist
von neutraler Buntheit -- gern gefallen. Als erste Schau-
spielnovität fand die vergröberte Sardouiade "Die Zarin" mit
ihren aktuell gewordenen neckischen Anspielungen auf das
französisch-russische Bündnis viel Beifall. Der prächtige Herbst
lockte zu Spaziergängen und Ausflügen an, die zum Teil noch
mit weingesegneten Gestade des lieblichen Zürichsees, auf des-
sen Insel Ufenau auch ein Freiheitskämpfer -- Ulrich von
Hutten -- begraben liegt.

Der Ausbruch des Krieges hat in den Fremdenverkehrs-
ziffern gewaltige Verheerungen angerichtet. So hat z. B. die
Vitznau-Rigibahn im August bloß 19,605 Franken Einnah-
men gehabt gegenüber 146,115 Fr. im gleichen Monat des
Vorjahres. Die Berninabahn verzeichnet 76,000 Fr. im
August gegenüber 303,040 Fr. im August 1913. Solche Zah-
len reden eine deutliche Sprache und beweisen, daß auch ein
kleines Land wie die Schweiz, von den eingetretenen Verhält-
nissen stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Es ist daher nur
zu begrüßen, wenn der Schweizer Bundesrat in ebenso weit-
sichtiger, als weitherziger Weise dafür gesorgt hat, daß Ver-
wundete und rekonvaleßente Kriegsteilnehmer aller Staaten,
sofern sie sich zum Zivilanzug bequemen, in den vielen Hotels
und Unterkunftshäusern der Schweiz ohne weiteres gast-
freundliche Aufnahme und Pflege finden sollen. In den
Höhen von St. Moritz, wo der deutsche Kronprinz mit seiner
Gemahlin so oft vergnügt dem Sport gehuldigt, werden sich
-- auf neutralem Boden -- gar viele begegnen, die sich jetzt
auf heißen Schlachtfeldern mit der Waffe in der Hand gegen-
überstehen. Auf Flügeln des Gesanges werden alle die inter-
nationalen Weisen aus dem Melodienschatz unserer großen
Meister, die jetzt gegenseitig in Acht und Bann getan sind,
wieder aufleben und die Herzen einander näher bringen. Ge-
schieht es doch schon jetzt, daß im selben Salon, wie ich es
kürzlich in Zürich erlebte, Damen und Herren einer von Schick-
salssturm zusammengewehten bunten Gesellschaft sich einander
in deutscher und französischer Sprache aus den "Meister-
singern", aus "Bajazzo", "Samson und Dalila" usw. vor-
sangen und der Schreiber dieser Zeilen als einziger Neutraler
die Herrschaften am Flügel begleitete. Alle diese Töne klangen
meinem Ohr vertrauter, als jenes ungewohnte Kommando-
wort "Avanti!", das ich jüngst bei einer um Zürich stationier-
ten Tessiner-Kompanie vernommen. Wie seltsam und fremd
mich diese südlich gebräunten, scharf profilierten Mannschaften
im Schweizer Waffenrock anmuteten, -- gewiß fremder als
die feldgrauen tapfern Bayern, mit denen ich schon so oft zu-
sammengesessen. Ich darf da wohl eines hübschen Wortes
Erwähnung tun, das ich während einer Bahnfahrt von Zürich
nach Winterthur aus dem Munde eines einrückenden Berner
Milizen vernommen. Er hatte sein Gewehr bei sich und
rauchte einen der kurzen "Schweizerstumpen", als er plötzlich,
zu mir gewandt, meinte, er glaube, wenn's los ginge, hätten's
die Berner wie die Bayern. Letztere würden vor Kriegsbe-
geisterung ganz wild ("verruckt") und gerade so würden die
Berner, deren ruhmreiche Geschichte ja lehrt, daß sie beim
Sturm auf den Feind auch nicht schüchtern waren, "mit dem
Kolben drein hauen".

Daß der Deutsche Kaiser, als er dem Schweizer Militär
vor zwei Jahren einen Besuch im Manöverfeld abstattete, in
Zürich und Bern von der Bevölkerung begeistert begrüßt
wurde, ist bekannt. Weniger bekannt dürfte sein, daß Kaiser
Wilhelm jüngst von einem biederen alten Bauernfrauchen,
irgendwo im Luzerner Hinterland, weiß der Himmel aus was
für Gründen, für einen -- Berner gehalten worden ist. Wie
Luzerner Blätter zu berichten wissen, hat diese Bäuerin nach
einer Sonntagspredigt, in welcher der diensttuende Kaplan
u. a. auch die Friedensliebe und den ritterlichen Charakter
des deutschen Reichsoberhauptes hervorgehoben, den ebenso
denkwürdigen als erheiternden Ausspruch getan: Jedenfalls
sei der Deutsche Kaiser ein frommer Herrscher und ein Mann
wie Gold, es sei nur ewig schad, "daß er en Bärner isch".



Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914.
[Spaltenumbruch]
Feuilleton
Aus der neutralen Schweiz.

Wer die denkwürdigen erſten Auguſttage in einer deut-
ſchen Stadt, z. B. in München, mit bebendem Herzen miterlebt
hat, der findet ſich auf neutralem Boden aus der Nähe der
Zeit des Alltags nur ſchwer in jene gehobene Stimmung zu-
rück, in der ihn das Brauſen des „Rufs wie Donnerhall“ ſo
mächtig ergriffen. Gäbe es keine deutſchen Zeitungen auf
unſerem geruhigen Eiland inmitten der gewaltigen Völkerbran-
dung, man müßte an der Aufgabe, kühl bis an’s Herz hinan
ſich ſeine Neutralität nicht von irgend einer Seite beeinfluſſen
zu laſſen, verzweifeln. Denn wer, wie z. B. die Welſchſchweizer
nur auf einheimiſches Preſſegewächs angewieſen iſt, dem kann
man es ſchließlich nicht verargen, wenn er ſich daran in einen,
das ſachliche Urteil trübenden Leidenſchaſtsrauſch, hineinlieſt.

Was Wunder, wenn, um vom Gleichnis zur Wirklichkeit
zu kommen, die heißſpornigen Waadtländer ihren heurigen
Wein „Joffre“ nennen wollen und damit unzweideutig zum
Ausdruck bringen, auf welcher Seite bei dieſem Völkerkrieg
ihre Sympathien zu finden ſind. Daß in ſolchen bewegten
Zeiten die Preßfreiheit auch im Lande der Freiheit der Obrig-
keit gelegentlich zu ſchaffen macht, kann man ſich denken. Es
mag dem ſchweizeriſchen Bundesrat nicht leicht geworden ſein,
gegen die ärgſten Schreihälſe, richtige enfants terribles, ein-
zuſchreiten und kurzer Hand vorläufig zwei weſtſchweizeriſchen
Skandalblättchen das Erſcheinen auf die Dauer des Krieges
zu verbieten. Ja, er ging noch einen Schritt weiter und
ſiſtierte den öffentlichen Verkauf einiger ausländiſcher Witz-
blätter, darunter des „Simpliziſſimus“, der freilich trotzdem
in Wirtſchaften, wo er aufliegt, ruhig genoſſen werden darf.
Aber man will aus einem ganz richtigen Gefühl heraus, das
Empfinden der zahlreichen in der Schweiz ſich aufhaltenden
Ausländer ſchonen, indem man ſolche Karrikaturen von den
Schaufenſtern fernhält. Dafür iſt der Deutſche Kaiſer da und
dort in bücheriſchen Kunſthandlungen zu ſehen, während in
Lauſanne, Genf und dort herum die franzöſiſchen Heerführer
in den Schaufenſtern die Parade über die Vorübergehenden
abnehmen. „Schon in Biel“, ſchreibt der Mitarbeiter eines
berniſchen Blattes, „ſteht man ganz verblüfft vor dem Schau-
fenſter einer „librairie“ und fragt ſich: biſt du noch in der
Schweiz oder bereits auf franzöſiſchem Boden? In Neuen-
burg, Lauſanne und Genf iſt die Erſcheinung noch viel auf-
fallender.

Die Generale Joffre, Caſtelnau und Gallieni ſind die Hei-
den der Schaufenſter, die „Illuſtration“ liegt auf, Bilder fran-
zöſiſcher Kriegsmaler lenken mit ihren grellen Farben das
Auge auf ſich. Anſichtskarten mit den Bildniſſen Poincarés,
des Zaren, der Könige von Belgien und England werden zum
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nenden Kathedrale von Reims rufen die Entrüſtung des
ſtaunenden Bürgers hervor. Die herrlichen Türme ſind
lodernde Fackeln geworden und ſtehen eben im Begriff, zu-
ſammenzuſtürzen (!) wie weiland die Türme „Jerichos“ uſw.
Vielleicht hat ſich auch Hodlers Phantaſie an ſolchen Schauer-
„helgen“ entzündet, als er jenen törichten Proteſt unterſchrieb.
Denn das Märchen, daß Hodler, der ſeine Bernerart weder in
ſeinem Aeußern, noch in ſeinen Werken verleugnet, während
ſeines Genfer Aufenthaltes ganz Welſchſchweizer geworden
ſei und kaum noch eine deutſche Zeitung zu Geſicht bekomme,
dürfte wenige Gläubige finden. Dem Künſtler und
Pſychologen Hodler hätte ſchon ein Blick auf die prächtigen
Charakterköpfe der Männer im deutſchen Generalſtab ſagen
müſſen, daß „Barbaren“ gewöhnlich weniger geteilt dreinzu-
ſchauen pflegen.

In Zürich herrſcht zurzeit ein für den Spätherbſt ganz
ungewöhnliches Fremdentreiben. An der baumbeſtandenen
Bahnhofſtraße ſieht man zu gewiſſen Stunden weit mehr
Polen, Ruſſen, Franzoſen uſw. als Einheimiſche; zumeiſt ele-
gante Damen und Herren, die mehr der Not der Zeit, als dem
[Spaltenumbruch] eigenen Triebe gehorchend, in dieſem Zentrum der deutſchen
Schweiz friedlichere Tage abwarten. Da das Theater ſeine
Pforten wieder geöffnet hält, wenn auch nur dreimal zur
Woche, läßt man ſich Aufführungen von „Cosi fan tutte“,
„Fidelio“ und des „fidelen Bauer“ — auch der Spielplan iſt
von neutraler Buntheit — gern gefallen. Als erſte Schau-
ſpielnovität fand die vergröberte Sardouiade „Die Zarin“ mit
ihren aktuell gewordenen neckiſchen Anſpielungen auf das
franzöſiſch-ruſſiſche Bündnis viel Beifall. Der prächtige Herbſt
lockte zu Spaziergängen und Ausflügen an, die zum Teil noch
mit weingeſegneten Geſtade des lieblichen Zürichſees, auf deſ-
ſen Inſel Ufenau auch ein Freiheitskämpfer — Ulrich von
Hutten — begraben liegt.

Der Ausbruch des Krieges hat in den Fremdenverkehrs-
ziffern gewaltige Verheerungen angerichtet. So hat z. B. die
Vitznau-Rigibahn im Auguſt bloß 19,605 Franken Einnah-
men gehabt gegenüber 146,115 Fr. im gleichen Monat des
Vorjahres. Die Berninabahn verzeichnet 76,000 Fr. im
Auguſt gegenüber 303,040 Fr. im Auguſt 1913. Solche Zah-
len reden eine deutliche Sprache und beweiſen, daß auch ein
kleines Land wie die Schweiz, von den eingetretenen Verhält-
niſſen ſtark in Mitleidenſchaft gezogen wird. Es iſt daher nur
zu begrüßen, wenn der Schweizer Bundesrat in ebenſo weit-
ſichtiger, als weitherziger Weiſe dafür geſorgt hat, daß Ver-
wundete und rekonvaleſzente Kriegsteilnehmer aller Staaten,
ſofern ſie ſich zum Zivilanzug bequemen, in den vielen Hotels
und Unterkunftshäuſern der Schweiz ohne weiteres gaſt-
freundliche Aufnahme und Pflege finden ſollen. In den
Höhen von St. Moritz, wo der deutſche Kronprinz mit ſeiner
Gemahlin ſo oft vergnügt dem Sport gehuldigt, werden ſich
— auf neutralem Boden — gar viele begegnen, die ſich jetzt
auf heißen Schlachtfeldern mit der Waffe in der Hand gegen-
überſtehen. Auf Flügeln des Geſanges werden alle die inter-
nationalen Weiſen aus dem Melodienſchatz unſerer großen
Meiſter, die jetzt gegenſeitig in Acht und Bann getan ſind,
wieder aufleben und die Herzen einander näher bringen. Ge-
ſchieht es doch ſchon jetzt, daß im ſelben Salon, wie ich es
kürzlich in Zürich erlebte, Damen und Herren einer von Schick-
ſalsſturm zuſammengewehten bunten Geſellſchaft ſich einander
in deutſcher und franzöſiſcher Sprache aus den „Meiſter-
ſingern“, aus „Bajazzo“, „Samſon und Dalila“ uſw. vor-
ſangen und der Schreiber dieſer Zeilen als einziger Neutraler
die Herrſchaften am Flügel begleitete. Alle dieſe Töne klangen
meinem Ohr vertrauter, als jenes ungewohnte Kommando-
wort „Avanti!“, das ich jüngſt bei einer um Zürich ſtationier-
ten Teſſiner-Kompanie vernommen. Wie ſeltſam und fremd
mich dieſe ſüdlich gebräunten, ſcharf profilierten Mannſchaften
im Schweizer Waffenrock anmuteten, — gewiß fremder als
die feldgrauen tapfern Bayern, mit denen ich ſchon ſo oft zu-
ſammengeſeſſen. Ich darf da wohl eines hübſchen Wortes
Erwähnung tun, das ich während einer Bahnfahrt von Zürich
nach Winterthur aus dem Munde eines einrückenden Berner
Milizen vernommen. Er hatte ſein Gewehr bei ſich und
rauchte einen der kurzen „Schweizerſtumpen“, als er plötzlich,
zu mir gewandt, meinte, er glaube, wenn’s los ginge, hätten’s
die Berner wie die Bayern. Letztere würden vor Kriegsbe-
geiſterung ganz wild („verruckt“) und gerade ſo würden die
Berner, deren ruhmreiche Geſchichte ja lehrt, daß ſie beim
Sturm auf den Feind auch nicht ſchüchtern waren, „mit dem
Kolben drein hauen“.

Daß der Deutſche Kaiſer, als er dem Schweizer Militär
vor zwei Jahren einen Beſuch im Manöverfeld abſtattete, in
Zürich und Bern von der Bevölkerung begeiſtert begrüßt
wurde, iſt bekannt. Weniger bekannt dürfte ſein, daß Kaiſer
Wilhelm jüngſt von einem biederen alten Bauernfrauchen,
irgendwo im Luzerner Hinterland, weiß der Himmel aus was
für Gründen, für einen — Berner gehalten worden iſt. Wie
Luzerner Blätter zu berichten wiſſen, hat dieſe Bäuerin nach
einer Sonntagspredigt, in welcher der dienſttuende Kaplan
u. a. auch die Friedensliebe und den ritterlichen Charakter
des deutſchen Reichsoberhauptes hervorgehoben, den ebenſo
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wie Gold, es ſei nur ewig ſchad, „daß er en Bärner iſch“.



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[642/0010] Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914. Feuilleton Aus der neutralen Schweiz. Von Alfred Beetſchen (Zürich). Wer die denkwürdigen erſten Auguſttage in einer deut- ſchen Stadt, z. B. in München, mit bebendem Herzen miterlebt hat, der findet ſich auf neutralem Boden aus der Nähe der Zeit des Alltags nur ſchwer in jene gehobene Stimmung zu- rück, in der ihn das Brauſen des „Rufs wie Donnerhall“ ſo mächtig ergriffen. Gäbe es keine deutſchen Zeitungen auf unſerem geruhigen Eiland inmitten der gewaltigen Völkerbran- dung, man müßte an der Aufgabe, kühl bis an’s Herz hinan ſich ſeine Neutralität nicht von irgend einer Seite beeinfluſſen zu laſſen, verzweifeln. Denn wer, wie z. B. die Welſchſchweizer nur auf einheimiſches Preſſegewächs angewieſen iſt, dem kann man es ſchließlich nicht verargen, wenn er ſich daran in einen, das ſachliche Urteil trübenden Leidenſchaſtsrauſch, hineinlieſt. Was Wunder, wenn, um vom Gleichnis zur Wirklichkeit zu kommen, die heißſpornigen Waadtländer ihren heurigen Wein „Joffre“ nennen wollen und damit unzweideutig zum Ausdruck bringen, auf welcher Seite bei dieſem Völkerkrieg ihre Sympathien zu finden ſind. Daß in ſolchen bewegten Zeiten die Preßfreiheit auch im Lande der Freiheit der Obrig- keit gelegentlich zu ſchaffen macht, kann man ſich denken. Es mag dem ſchweizeriſchen Bundesrat nicht leicht geworden ſein, gegen die ärgſten Schreihälſe, richtige enfants terribles, ein- zuſchreiten und kurzer Hand vorläufig zwei weſtſchweizeriſchen Skandalblättchen das Erſcheinen auf die Dauer des Krieges zu verbieten. Ja, er ging noch einen Schritt weiter und ſiſtierte den öffentlichen Verkauf einiger ausländiſcher Witz- blätter, darunter des „Simpliziſſimus“, der freilich trotzdem in Wirtſchaften, wo er aufliegt, ruhig genoſſen werden darf. Aber man will aus einem ganz richtigen Gefühl heraus, das Empfinden der zahlreichen in der Schweiz ſich aufhaltenden Ausländer ſchonen, indem man ſolche Karrikaturen von den Schaufenſtern fernhält. Dafür iſt der Deutſche Kaiſer da und dort in bücheriſchen Kunſthandlungen zu ſehen, während in Lauſanne, Genf und dort herum die franzöſiſchen Heerführer in den Schaufenſtern die Parade über die Vorübergehenden abnehmen. „Schon in Biel“, ſchreibt der Mitarbeiter eines berniſchen Blattes, „ſteht man ganz verblüfft vor dem Schau- fenſter einer „librairie“ und fragt ſich: biſt du noch in der Schweiz oder bereits auf franzöſiſchem Boden? In Neuen- burg, Lauſanne und Genf iſt die Erſcheinung noch viel auf- fallender. Die Generale Joffre, Caſtelnau und Gallieni ſind die Hei- den der Schaufenſter, die „Illuſtration“ liegt auf, Bilder fran- zöſiſcher Kriegsmaler lenken mit ihren grellen Farben das Auge auf ſich. Anſichtskarten mit den Bildniſſen Poincarés, des Zaren, der Könige von Belgien und England werden zum Kauf angeboten, künſtlich hergeſtellte Photographien der bren- nenden Kathedrale von Reims rufen die Entrüſtung des ſtaunenden Bürgers hervor. Die herrlichen Türme ſind lodernde Fackeln geworden und ſtehen eben im Begriff, zu- ſammenzuſtürzen (!) wie weiland die Türme „Jerichos“ uſw. Vielleicht hat ſich auch Hodlers Phantaſie an ſolchen Schauer- „helgen“ entzündet, als er jenen törichten Proteſt unterſchrieb. Denn das Märchen, daß Hodler, der ſeine Bernerart weder in ſeinem Aeußern, noch in ſeinen Werken verleugnet, während ſeines Genfer Aufenthaltes ganz Welſchſchweizer geworden ſei und kaum noch eine deutſche Zeitung zu Geſicht bekomme, dürfte wenige Gläubige finden. Dem Künſtler und Pſychologen Hodler hätte ſchon ein Blick auf die prächtigen Charakterköpfe der Männer im deutſchen Generalſtab ſagen müſſen, daß „Barbaren“ gewöhnlich weniger geteilt dreinzu- ſchauen pflegen. In Zürich herrſcht zurzeit ein für den Spätherbſt ganz ungewöhnliches Fremdentreiben. An der baumbeſtandenen Bahnhofſtraße ſieht man zu gewiſſen Stunden weit mehr Polen, Ruſſen, Franzoſen uſw. als Einheimiſche; zumeiſt ele- gante Damen und Herren, die mehr der Not der Zeit, als dem eigenen Triebe gehorchend, in dieſem Zentrum der deutſchen Schweiz friedlichere Tage abwarten. Da das Theater ſeine Pforten wieder geöffnet hält, wenn auch nur dreimal zur Woche, läßt man ſich Aufführungen von „Cosi fan tutte“, „Fidelio“ und des „fidelen Bauer“ — auch der Spielplan iſt von neutraler Buntheit — gern gefallen. Als erſte Schau- ſpielnovität fand die vergröberte Sardouiade „Die Zarin“ mit ihren aktuell gewordenen neckiſchen Anſpielungen auf das franzöſiſch-ruſſiſche Bündnis viel Beifall. Der prächtige Herbſt lockte zu Spaziergängen und Ausflügen an, die zum Teil noch mit weingeſegneten Geſtade des lieblichen Zürichſees, auf deſ- ſen Inſel Ufenau auch ein Freiheitskämpfer — Ulrich von Hutten — begraben liegt. Der Ausbruch des Krieges hat in den Fremdenverkehrs- ziffern gewaltige Verheerungen angerichtet. So hat z. B. die Vitznau-Rigibahn im Auguſt bloß 19,605 Franken Einnah- men gehabt gegenüber 146,115 Fr. im gleichen Monat des Vorjahres. Die Berninabahn verzeichnet 76,000 Fr. im Auguſt gegenüber 303,040 Fr. im Auguſt 1913. Solche Zah- len reden eine deutliche Sprache und beweiſen, daß auch ein kleines Land wie die Schweiz, von den eingetretenen Verhält- niſſen ſtark in Mitleidenſchaft gezogen wird. Es iſt daher nur zu begrüßen, wenn der Schweizer Bundesrat in ebenſo weit- ſichtiger, als weitherziger Weiſe dafür geſorgt hat, daß Ver- wundete und rekonvaleſzente Kriegsteilnehmer aller Staaten, ſofern ſie ſich zum Zivilanzug bequemen, in den vielen Hotels und Unterkunftshäuſern der Schweiz ohne weiteres gaſt- freundliche Aufnahme und Pflege finden ſollen. In den Höhen von St. Moritz, wo der deutſche Kronprinz mit ſeiner Gemahlin ſo oft vergnügt dem Sport gehuldigt, werden ſich — auf neutralem Boden — gar viele begegnen, die ſich jetzt auf heißen Schlachtfeldern mit der Waffe in der Hand gegen- überſtehen. Auf Flügeln des Geſanges werden alle die inter- nationalen Weiſen aus dem Melodienſchatz unſerer großen Meiſter, die jetzt gegenſeitig in Acht und Bann getan ſind, wieder aufleben und die Herzen einander näher bringen. Ge- ſchieht es doch ſchon jetzt, daß im ſelben Salon, wie ich es kürzlich in Zürich erlebte, Damen und Herren einer von Schick- ſalsſturm zuſammengewehten bunten Geſellſchaft ſich einander in deutſcher und franzöſiſcher Sprache aus den „Meiſter- ſingern“, aus „Bajazzo“, „Samſon und Dalila“ uſw. vor- ſangen und der Schreiber dieſer Zeilen als einziger Neutraler die Herrſchaften am Flügel begleitete. Alle dieſe Töne klangen meinem Ohr vertrauter, als jenes ungewohnte Kommando- wort „Avanti!“, das ich jüngſt bei einer um Zürich ſtationier- ten Teſſiner-Kompanie vernommen. Wie ſeltſam und fremd mich dieſe ſüdlich gebräunten, ſcharf profilierten Mannſchaften im Schweizer Waffenrock anmuteten, — gewiß fremder als die feldgrauen tapfern Bayern, mit denen ich ſchon ſo oft zu- ſammengeſeſſen. Ich darf da wohl eines hübſchen Wortes Erwähnung tun, das ich während einer Bahnfahrt von Zürich nach Winterthur aus dem Munde eines einrückenden Berner Milizen vernommen. Er hatte ſein Gewehr bei ſich und rauchte einen der kurzen „Schweizerſtumpen“, als er plötzlich, zu mir gewandt, meinte, er glaube, wenn’s los ginge, hätten’s die Berner wie die Bayern. Letztere würden vor Kriegsbe- geiſterung ganz wild („verruckt“) und gerade ſo würden die Berner, deren ruhmreiche Geſchichte ja lehrt, daß ſie beim Sturm auf den Feind auch nicht ſchüchtern waren, „mit dem Kolben drein hauen“. Daß der Deutſche Kaiſer, als er dem Schweizer Militär vor zwei Jahren einen Beſuch im Manöverfeld abſtattete, in Zürich und Bern von der Bevölkerung begeiſtert begrüßt wurde, iſt bekannt. Weniger bekannt dürfte ſein, daß Kaiſer Wilhelm jüngſt von einem biederen alten Bauernfrauchen, irgendwo im Luzerner Hinterland, weiß der Himmel aus was für Gründen, für einen — Berner gehalten worden iſt. Wie Luzerner Blätter zu berichten wiſſen, hat dieſe Bäuerin nach einer Sonntagspredigt, in welcher der dienſttuende Kaplan u. a. auch die Friedensliebe und den ritterlichen Charakter des deutſchen Reichsoberhauptes hervorgehoben, den ebenſo denkwürdigen als erheiternden Ausſpruch getan: Jedenfalls ſei der Deutſche Kaiſer ein frommer Herrſcher und ein Mann wie Gold, es ſei nur ewig ſchad, „daß er en Bärner iſch“.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-27T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 44, 31. Oktober 1914, S. 642. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine44_1914/10>, abgerufen am 21.11.2024.