Allgemeine Zeitung, Nr. 44, 31. Oktober 1914.Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914. [Spaltenumbruch]
Feuilleton Aus der neutralen Schweiz. Wer die denkwürdigen ersten Augusttage in einer deut- Was Wunder, wenn, um vom Gleichnis zur Wirklichkeit Die Generale Joffre, Castelnau und Gallieni sind die Hei- In Zürich herrscht zurzeit ein für den Spätherbst ganz Der Ausbruch des Krieges hat in den Fremdenverkehrs- Daß der Deutsche Kaiser, als er dem Schweizer Militär Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914. [Spaltenumbruch]
Feuilleton Aus der neutralen Schweiz. Wer die denkwürdigen erſten Auguſttage in einer deut- Was Wunder, wenn, um vom Gleichnis zur Wirklichkeit Die Generale Joffre, Caſtelnau und Gallieni ſind die Hei- In Zürich herrſcht zurzeit ein für den Spätherbſt ganz Der Ausbruch des Krieges hat in den Fremdenverkehrs- Daß der Deutſche Kaiſer, als er dem Schweizer Militär <TEI> <text> <body> <div type="jCulturalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <pb facs="#f0010" n="642"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi> 31. 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Denn wer, wie z. B. die Welſchſchweizer<lb/> nur auf einheimiſches Preſſegewächs angewieſen iſt, dem kann<lb/> man es ſchließlich nicht verargen, wenn er ſich daran in einen,<lb/> das ſachliche Urteil trübenden Leidenſchaſtsrauſch, hineinlieſt.</p><lb/> <p>Was Wunder, wenn, um vom Gleichnis zur Wirklichkeit<lb/> zu kommen, die heißſpornigen Waadtländer ihren heurigen<lb/> Wein „Joffre“ nennen wollen und damit unzweideutig zum<lb/> Ausdruck bringen, auf welcher Seite bei dieſem Völkerkrieg<lb/> ihre Sympathien zu finden ſind. Daß in ſolchen bewegten<lb/> Zeiten die Preßfreiheit auch im Lande der Freiheit der Obrig-<lb/> keit gelegentlich zu ſchaffen macht, kann man ſich denken. Es<lb/> mag dem ſchweizeriſchen Bundesrat nicht leicht geworden ſein,<lb/> gegen die ärgſten Schreihälſe, richtige <hi rendition="#aq">enfants terribles,</hi> ein-<lb/> zuſchreiten und kurzer Hand vorläufig zwei weſtſchweizeriſchen<lb/> Skandalblättchen das Erſcheinen auf die Dauer des Krieges<lb/> zu verbieten. 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An der baumbeſtandenen<lb/> Bahnhofſtraße ſieht man zu gewiſſen Stunden weit mehr<lb/> Polen, Ruſſen, Franzoſen uſw. als Einheimiſche; zumeiſt ele-<lb/> gante Damen und Herren, die mehr der Not der Zeit, als dem<lb/><cb/> eigenen Triebe gehorchend, in dieſem Zentrum der deutſchen<lb/> Schweiz friedlichere Tage abwarten. Da das Theater ſeine<lb/> Pforten wieder geöffnet hält, wenn auch nur dreimal zur<lb/> Woche, läßt man ſich Aufführungen von „<hi rendition="#aq">Cosi fan tutte</hi>“,<lb/> „Fidelio“ und des „fidelen Bauer“ — auch der Spielplan iſt<lb/> von neutraler Buntheit — gern gefallen. Als erſte Schau-<lb/> ſpielnovität fand die vergröberte Sardouiade „Die Zarin“ mit<lb/> ihren aktuell gewordenen neckiſchen Anſpielungen auf das<lb/> franzöſiſch-ruſſiſche Bündnis viel Beifall. Der prächtige Herbſt<lb/> lockte zu Spaziergängen und Ausflügen an, die zum Teil noch<lb/> mit weingeſegneten Geſtade des lieblichen Zürichſees, auf deſ-<lb/> ſen Inſel Ufenau auch ein Freiheitskämpfer — Ulrich von<lb/> Hutten — begraben liegt.</p><lb/> <p>Der Ausbruch des Krieges hat in den Fremdenverkehrs-<lb/> ziffern gewaltige Verheerungen angerichtet. So hat z. B. die<lb/> Vitznau-Rigibahn im Auguſt bloß 19,605 Franken Einnah-<lb/> men gehabt gegenüber 146,115 Fr. im gleichen Monat des<lb/> Vorjahres. Die Berninabahn verzeichnet 76,000 Fr. im<lb/> Auguſt gegenüber 303,040 Fr. im Auguſt 1913. Solche Zah-<lb/> len reden eine deutliche Sprache und beweiſen, daß auch ein<lb/> kleines Land wie die Schweiz, von den eingetretenen Verhält-<lb/> niſſen ſtark in Mitleidenſchaft gezogen wird. Es iſt daher nur<lb/> zu begrüßen, wenn der Schweizer Bundesrat in ebenſo weit-<lb/> ſichtiger, als weitherziger Weiſe dafür geſorgt hat, daß Ver-<lb/> wundete und rekonvaleſzente Kriegsteilnehmer aller Staaten,<lb/> ſofern ſie ſich zum Zivilanzug bequemen, in den vielen Hotels<lb/> und Unterkunftshäuſern der Schweiz ohne weiteres gaſt-<lb/> freundliche Aufnahme und Pflege finden ſollen. In den<lb/> Höhen von St. Moritz, wo der deutſche Kronprinz mit ſeiner<lb/> Gemahlin ſo oft vergnügt dem Sport gehuldigt, werden ſich<lb/> — auf neutralem Boden — gar viele begegnen, die ſich jetzt<lb/> auf heißen Schlachtfeldern mit der Waffe in der Hand gegen-<lb/> überſtehen. Auf Flügeln des Geſanges werden alle die inter-<lb/> nationalen Weiſen aus dem Melodienſchatz unſerer großen<lb/> Meiſter, die jetzt gegenſeitig in Acht und Bann getan ſind,<lb/> wieder aufleben und die Herzen einander näher bringen. 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Ich darf da wohl eines hübſchen Wortes<lb/> Erwähnung tun, das ich während einer Bahnfahrt von Zürich<lb/> nach Winterthur aus dem Munde eines einrückenden Berner<lb/> Milizen vernommen. Er hatte ſein Gewehr bei ſich und<lb/> rauchte einen der kurzen „Schweizerſtumpen“, als er plötzlich,<lb/> zu mir gewandt, meinte, er glaube, wenn’s los ginge, hätten’s<lb/> die Berner wie die Bayern. Letztere würden vor Kriegsbe-<lb/> geiſterung ganz wild („verruckt“) und gerade ſo würden die<lb/> Berner, deren ruhmreiche Geſchichte ja lehrt, daß ſie beim<lb/> Sturm auf den Feind auch nicht ſchüchtern waren, „mit dem<lb/> Kolben drein hauen“.</p><lb/> <p>Daß der Deutſche Kaiſer, als er dem Schweizer Militär<lb/> vor zwei Jahren einen Beſuch im Manöverfeld abſtattete, in<lb/> Zürich und Bern von der Bevölkerung begeiſtert begrüßt<lb/> wurde, iſt bekannt. 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Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914.
Feuilleton
Aus der neutralen Schweiz.
Von
Alfred Beetſchen (Zürich).
Wer die denkwürdigen erſten Auguſttage in einer deut-
ſchen Stadt, z. B. in München, mit bebendem Herzen miterlebt
hat, der findet ſich auf neutralem Boden aus der Nähe der
Zeit des Alltags nur ſchwer in jene gehobene Stimmung zu-
rück, in der ihn das Brauſen des „Rufs wie Donnerhall“ ſo
mächtig ergriffen. Gäbe es keine deutſchen Zeitungen auf
unſerem geruhigen Eiland inmitten der gewaltigen Völkerbran-
dung, man müßte an der Aufgabe, kühl bis an’s Herz hinan
ſich ſeine Neutralität nicht von irgend einer Seite beeinfluſſen
zu laſſen, verzweifeln. Denn wer, wie z. B. die Welſchſchweizer
nur auf einheimiſches Preſſegewächs angewieſen iſt, dem kann
man es ſchließlich nicht verargen, wenn er ſich daran in einen,
das ſachliche Urteil trübenden Leidenſchaſtsrauſch, hineinlieſt.
Was Wunder, wenn, um vom Gleichnis zur Wirklichkeit
zu kommen, die heißſpornigen Waadtländer ihren heurigen
Wein „Joffre“ nennen wollen und damit unzweideutig zum
Ausdruck bringen, auf welcher Seite bei dieſem Völkerkrieg
ihre Sympathien zu finden ſind. Daß in ſolchen bewegten
Zeiten die Preßfreiheit auch im Lande der Freiheit der Obrig-
keit gelegentlich zu ſchaffen macht, kann man ſich denken. Es
mag dem ſchweizeriſchen Bundesrat nicht leicht geworden ſein,
gegen die ärgſten Schreihälſe, richtige enfants terribles, ein-
zuſchreiten und kurzer Hand vorläufig zwei weſtſchweizeriſchen
Skandalblättchen das Erſcheinen auf die Dauer des Krieges
zu verbieten. Ja, er ging noch einen Schritt weiter und
ſiſtierte den öffentlichen Verkauf einiger ausländiſcher Witz-
blätter, darunter des „Simpliziſſimus“, der freilich trotzdem
in Wirtſchaften, wo er aufliegt, ruhig genoſſen werden darf.
Aber man will aus einem ganz richtigen Gefühl heraus, das
Empfinden der zahlreichen in der Schweiz ſich aufhaltenden
Ausländer ſchonen, indem man ſolche Karrikaturen von den
Schaufenſtern fernhält. Dafür iſt der Deutſche Kaiſer da und
dort in bücheriſchen Kunſthandlungen zu ſehen, während in
Lauſanne, Genf und dort herum die franzöſiſchen Heerführer
in den Schaufenſtern die Parade über die Vorübergehenden
abnehmen. „Schon in Biel“, ſchreibt der Mitarbeiter eines
berniſchen Blattes, „ſteht man ganz verblüfft vor dem Schau-
fenſter einer „librairie“ und fragt ſich: biſt du noch in der
Schweiz oder bereits auf franzöſiſchem Boden? In Neuen-
burg, Lauſanne und Genf iſt die Erſcheinung noch viel auf-
fallender.
Die Generale Joffre, Caſtelnau und Gallieni ſind die Hei-
den der Schaufenſter, die „Illuſtration“ liegt auf, Bilder fran-
zöſiſcher Kriegsmaler lenken mit ihren grellen Farben das
Auge auf ſich. Anſichtskarten mit den Bildniſſen Poincarés,
des Zaren, der Könige von Belgien und England werden zum
Kauf angeboten, künſtlich hergeſtellte Photographien der bren-
nenden Kathedrale von Reims rufen die Entrüſtung des
ſtaunenden Bürgers hervor. Die herrlichen Türme ſind
lodernde Fackeln geworden und ſtehen eben im Begriff, zu-
ſammenzuſtürzen (!) wie weiland die Türme „Jerichos“ uſw.
Vielleicht hat ſich auch Hodlers Phantaſie an ſolchen Schauer-
„helgen“ entzündet, als er jenen törichten Proteſt unterſchrieb.
Denn das Märchen, daß Hodler, der ſeine Bernerart weder in
ſeinem Aeußern, noch in ſeinen Werken verleugnet, während
ſeines Genfer Aufenthaltes ganz Welſchſchweizer geworden
ſei und kaum noch eine deutſche Zeitung zu Geſicht bekomme,
dürfte wenige Gläubige finden. Dem Künſtler und
Pſychologen Hodler hätte ſchon ein Blick auf die prächtigen
Charakterköpfe der Männer im deutſchen Generalſtab ſagen
müſſen, daß „Barbaren“ gewöhnlich weniger geteilt dreinzu-
ſchauen pflegen.
In Zürich herrſcht zurzeit ein für den Spätherbſt ganz
ungewöhnliches Fremdentreiben. An der baumbeſtandenen
Bahnhofſtraße ſieht man zu gewiſſen Stunden weit mehr
Polen, Ruſſen, Franzoſen uſw. als Einheimiſche; zumeiſt ele-
gante Damen und Herren, die mehr der Not der Zeit, als dem
eigenen Triebe gehorchend, in dieſem Zentrum der deutſchen
Schweiz friedlichere Tage abwarten. Da das Theater ſeine
Pforten wieder geöffnet hält, wenn auch nur dreimal zur
Woche, läßt man ſich Aufführungen von „Cosi fan tutte“,
„Fidelio“ und des „fidelen Bauer“ — auch der Spielplan iſt
von neutraler Buntheit — gern gefallen. Als erſte Schau-
ſpielnovität fand die vergröberte Sardouiade „Die Zarin“ mit
ihren aktuell gewordenen neckiſchen Anſpielungen auf das
franzöſiſch-ruſſiſche Bündnis viel Beifall. Der prächtige Herbſt
lockte zu Spaziergängen und Ausflügen an, die zum Teil noch
mit weingeſegneten Geſtade des lieblichen Zürichſees, auf deſ-
ſen Inſel Ufenau auch ein Freiheitskämpfer — Ulrich von
Hutten — begraben liegt.
Der Ausbruch des Krieges hat in den Fremdenverkehrs-
ziffern gewaltige Verheerungen angerichtet. So hat z. B. die
Vitznau-Rigibahn im Auguſt bloß 19,605 Franken Einnah-
men gehabt gegenüber 146,115 Fr. im gleichen Monat des
Vorjahres. Die Berninabahn verzeichnet 76,000 Fr. im
Auguſt gegenüber 303,040 Fr. im Auguſt 1913. Solche Zah-
len reden eine deutliche Sprache und beweiſen, daß auch ein
kleines Land wie die Schweiz, von den eingetretenen Verhält-
niſſen ſtark in Mitleidenſchaft gezogen wird. Es iſt daher nur
zu begrüßen, wenn der Schweizer Bundesrat in ebenſo weit-
ſichtiger, als weitherziger Weiſe dafür geſorgt hat, daß Ver-
wundete und rekonvaleſzente Kriegsteilnehmer aller Staaten,
ſofern ſie ſich zum Zivilanzug bequemen, in den vielen Hotels
und Unterkunftshäuſern der Schweiz ohne weiteres gaſt-
freundliche Aufnahme und Pflege finden ſollen. In den
Höhen von St. Moritz, wo der deutſche Kronprinz mit ſeiner
Gemahlin ſo oft vergnügt dem Sport gehuldigt, werden ſich
— auf neutralem Boden — gar viele begegnen, die ſich jetzt
auf heißen Schlachtfeldern mit der Waffe in der Hand gegen-
überſtehen. Auf Flügeln des Geſanges werden alle die inter-
nationalen Weiſen aus dem Melodienſchatz unſerer großen
Meiſter, die jetzt gegenſeitig in Acht und Bann getan ſind,
wieder aufleben und die Herzen einander näher bringen. Ge-
ſchieht es doch ſchon jetzt, daß im ſelben Salon, wie ich es
kürzlich in Zürich erlebte, Damen und Herren einer von Schick-
ſalsſturm zuſammengewehten bunten Geſellſchaft ſich einander
in deutſcher und franzöſiſcher Sprache aus den „Meiſter-
ſingern“, aus „Bajazzo“, „Samſon und Dalila“ uſw. vor-
ſangen und der Schreiber dieſer Zeilen als einziger Neutraler
die Herrſchaften am Flügel begleitete. Alle dieſe Töne klangen
meinem Ohr vertrauter, als jenes ungewohnte Kommando-
wort „Avanti!“, das ich jüngſt bei einer um Zürich ſtationier-
ten Teſſiner-Kompanie vernommen. Wie ſeltſam und fremd
mich dieſe ſüdlich gebräunten, ſcharf profilierten Mannſchaften
im Schweizer Waffenrock anmuteten, — gewiß fremder als
die feldgrauen tapfern Bayern, mit denen ich ſchon ſo oft zu-
ſammengeſeſſen. Ich darf da wohl eines hübſchen Wortes
Erwähnung tun, das ich während einer Bahnfahrt von Zürich
nach Winterthur aus dem Munde eines einrückenden Berner
Milizen vernommen. Er hatte ſein Gewehr bei ſich und
rauchte einen der kurzen „Schweizerſtumpen“, als er plötzlich,
zu mir gewandt, meinte, er glaube, wenn’s los ginge, hätten’s
die Berner wie die Bayern. Letztere würden vor Kriegsbe-
geiſterung ganz wild („verruckt“) und gerade ſo würden die
Berner, deren ruhmreiche Geſchichte ja lehrt, daß ſie beim
Sturm auf den Feind auch nicht ſchüchtern waren, „mit dem
Kolben drein hauen“.
Daß der Deutſche Kaiſer, als er dem Schweizer Militär
vor zwei Jahren einen Beſuch im Manöverfeld abſtattete, in
Zürich und Bern von der Bevölkerung begeiſtert begrüßt
wurde, iſt bekannt. Weniger bekannt dürfte ſein, daß Kaiſer
Wilhelm jüngſt von einem biederen alten Bauernfrauchen,
irgendwo im Luzerner Hinterland, weiß der Himmel aus was
für Gründen, für einen — Berner gehalten worden iſt. Wie
Luzerner Blätter zu berichten wiſſen, hat dieſe Bäuerin nach
einer Sonntagspredigt, in welcher der dienſttuende Kaplan
u. a. auch die Friedensliebe und den ritterlichen Charakter
des deutſchen Reichsoberhauptes hervorgehoben, den ebenſo
denkwürdigen als erheiternden Ausſpruch getan: Jedenfalls
ſei der Deutſche Kaiſer ein frommer Herrſcher und ein Mann
wie Gold, es ſei nur ewig ſchad, „daß er en Bärner iſch“.
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(2023-04-27T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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