Allgemeine Zeitung, Nr. 73, 13. März 1848.[Spaltenumbruch]
Man hat lange Zeit die Verfassung die England in einem vor- Man kann für die Idee einer deutschen föderirten Republik schwär- Als sich Amerika von England republicanisch lossagte, hielt in Mittlerweile gibt es für unsere eifrigen Republicaner auch in dem *) Aber Heinrich VIII, Karl II, und zuletzt noch Georg IV? -- Was auch
Ludwig Philipps politische Sünden waren, sein Familienleben ge- hörte zu den reinsten die jemals an Höfen dagewesen, und England und Deutschland haben nichts besseres aufzuweisen. A. d. Allg. Z. [Spaltenumbruch]
Man hat lange Zeit die Verfaſſung die England in einem vor- Man kann für die Idee einer deutſchen föderirten Republik ſchwär- Als ſich Amerika von England republicaniſch losſagte, hielt in Mittlerweile gibt es für unſere eifrigen Republicaner auch in dem *) Aber Heinrich VIII, Karl II, und zuletzt noch Georg IV? — Was auch
Ludwig Philipps politiſche Sünden waren, ſein Familienleben ge- hörte zu den reinſten die jemals an Höfen dageweſen, und England und Deutſchland haben nichts beſſeres aufzuweiſen. A. d. Allg. Z. <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <pb facs="#f0010" n="1162"/> <cb/> <p>Man hat lange Zeit die Verfaſſung die England in einem vor-<lb/> ſchlagend ariſtokratiſchen Charakter ausgebildet hat, für die Form der<lb/> Republik gehalten, wie ſie neuerer Zeit in größeren Staaten, die eine<lb/> active Rolle in dem europäiſchen Staatenweſen ſpielen wollen, möglich iſt.<lb/> Noch zur Zeit der franzöſiſchen Revolution war dieß die übliche Weiſe<lb/> der Anſchauung; ſeit der damals gemachten Probe der Republik in<lb/> Frankreich, ſeit der nachfolgenden Militärdeſpotie und Verkümmerung<lb/> der conſtitutionellen Formen iſt ſie außer Brauch gekommen. Treten<lb/> dieſe in ihre natürliche Geſtalt zurück, und füllen die Menſchen ſie mit<lb/> dem rechten Geiſt aus, ſo wird dieſe Betrachtungsweiſe wieder mehr<lb/> hervortreten. Die Erfahrung einer großen Republik iſt ſeit Rom, zu<lb/> deſſen Zeit das Königthum nur in orientaliſcher, und noch dazu verfal-<lb/> lener Form exiſtirte, nicht gemacht worden. Die amerikaniſchen Frei-<lb/> ſtaaten ſind eine Föderation die, umgeben von amerikaniſchen Mon-<lb/> archien in der Kraft der engliſchen und ruſſiſchen, ganz unmöglich Be-<lb/> ſtand haben könnte: nur eine gänzliche Unmündigkeit in geſchichtlichen<lb/> Kenntniſſen könnte dieſen Satz beſtreiten. Frankreichs erſte Republik<lb/> iſt, trotz ihrer furchtbaren Energie mit der ſie anfänglich auftrat, nur<lb/> durch einen Dictator erhalten und umgeſtürzt worden. Die Erfahrung<lb/> ſteht zu machen: ob Frankreich jetzt in der zweiten Probe die Behaup-<lb/> tung ſeines Montesquieu auf längere Zeit widerlegen wird daß Repu-<lb/> bliken nur in kleineren Staaten möglich ſeyen. Ehe dieſe Erfahrung<lb/> gemacht iſt, hüten wir uns, in Deutſchland wenigſtens, das Nicht-<lb/> erprobte nachahmen zu wollen. Eine föderirte Republik in Deutſchland,<lb/> im Gedränge zwiſchen dem einheitlichen Frankreich und den koloſſalen<lb/> Monarchien im Oſten, iſt ein Mißgedanke für einen praktiſchen Staats-<lb/> ſinn, auf den niemand kommen wird der vor allem das erwachte Be-<lb/> ſtreben theilt Deutſchland zu einer Macht zu bilden, nicht aber es in dem<lb/> Moment wo es in dieſem Streben begriffen iſt in eine Unmacht auf-<lb/> zulöſen.</p><lb/> <p>Man kann für die Idee einer deutſchen föderirten Republik ſchwär-<lb/> men, wenn man ſich aus allen Bedingungen der wirklichen Verhältniſſe<lb/> herausverſetzt; man kann ſie aber nicht praktiſch wollen, weil zwar einen<lb/> Staat zu träumen die Sache des Einzelnen, das wirkſame Handeln im<lb/> Staat aber nur unter Mitwirkung der Vielen möglich iſt. Die Vie-<lb/> len aber hängen in den germaniſchen Landen an der Monarchie. Die<lb/> republicaniſchen Männer, die es aus politiſcher Einſicht und Grundſatz<lb/> ſind, ſind zu zählen; die es aus tiefgreifender Antipathie gegen Mon-<lb/> archie, Hof und Hofweſen, Ariſtokratismus des Adels und der Bureaux<lb/> ſind, deren ſind mehr, obwohl im Verhältniß immer nur ſehr wenige.<lb/> Im Verhältniß nämlich zu den Andersgeſinnten zu Hauſe, ganz beſon-<lb/> ders aber auch im Verhältniß zu den Gleichgeſinnten in Frankreich.<lb/> Frage man ſich ehrlich und mit umſichtiger Erwägung der gegenwärtigen<lb/> und der vergangenen Zuſtände, woher in Frankreich die republicaniſchen<lb/> Ideen ſo weit im Volk ausgebreitet ſind, und man wird überall auf die<lb/> zwei Antworten ſtoßen: weil die Beamtenwelt käuflich, und weil die<lb/> Dynaſtie moraliſch und politiſch faul war. Beide Gründe beruhen auf<lb/> einem tiefen, ebenſoſehr, vielleicht mehr moraliſchen als politiſchen<lb/> Gegenſatz der romaniſchen gegen die germaniſchen Stämme. Von jenem<lb/> Ausbeuten des Amtes, von jenen raſchen und durchgreifenden Amts-<lb/> wechſeln die zur Nutznießung des kurzen Beſitzes verlocken, von jenem<lb/> leichtfertigen Grundſatz daß ein Thor ſey wer am Zoll ſitze und nicht<lb/> reich werde, von jener Beſtechlichkeit im Kleinen, von jenen ſyſtemati-<lb/> ſchen Defraudationen im Großen die in allen romaniſchen Staaten her-<lb/> kömmlich ſind, weiß man in England und in allen reiner germaniſchen<lb/> Staaten nur ausnahmsweiſe: Religioſität, Erziehung, Schule, die<lb/> Ehrbarkeit im Hauſe, Familienſinn, tauſend Züge unſers öffentlichen<lb/> und häuslichen Lebens und unſerer Volksanlage und Natur geben unſe-<lb/> rem Weſen in dieſen Beziehungen eine andere Richtung; wir können<lb/> viel über kleine Amtstyranneien klagen, aber nicht über den materiellen<lb/> Mißbrauch der Aemter, von dem noch zuletzt in Frankreich ſo ſcandalöſe<lb/> Thatſachen zu Tage kamen. 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Wer ſie nur halbwegs kennt, der wird ſich nicht<lb/> wundern daß dieß zuletzt der Ausgang war, ſondern daß er ſo lange<lb/> ausbleiben konnte. Aber wo wäre in Deutſchland auch nur das entfernt<lb/> Aehnliche? Und dabei bedenke man daß wir nicht <hi rendition="#g">eine,</hi> ſondern einige<lb/> dreißig — ja vor nicht langer Zeit eine viel unermeßlichere Reihe von<lb/> Dynaſtien gehabt haben; in dieſer Viel- und Ueberzahl wird man ver-<lb/> geblich nach <hi rendition="#g">einem</hi> ſolchen Beiſpiel ſuchen, wie es Frankreich in dem<lb/> Dualis ſeiner letzten Königsfamilien durch Jahrhunderte an der Spitze<lb/> des Staates ſah. Kein Wunder denn daß in Deutſchland die Ehe (wie<lb/> Dahlmann das Verhältniß gern verſinnlicht) zwiſchen Königthum und<lb/> Volk häuslich und familiär zuſammenwuchs, während ſie ſich in Frank-<lb/> reich gewaltſam ſchied. Kein Wunder daß ſich dieſes Verhältniß nicht<lb/> auf das erſte leichtſinnige Vorbild im Auslande hin lockern oder löſen<lb/> mag. Der Inſtinct der Völker hält ein Maß zwiſchen Urſachen und<lb/> Wirkungen ein; und es wäre ſehr unnatürlich wenn bei uns geſchehen<lb/> ſollte was in Frankreich ſeit 1789 geſchah, ohne die Gründe die das in<lb/> Frankreich Geſchehene hervorgerufen haben.</p><lb/> <p>Als ſich Amerika von England republicaniſch losſagte, hielt in<lb/> England die Monarchie unerſchüttert Stand, und nicht zu Englands<lb/> Schaden. Sorgen wir daß das bei uns dem republicaniſchen Frankreich<lb/> gegenüber auch ſo komme. Es ſollte dem enthuſiaſtiſchen Republicaner<lb/> in Deutſchland einleuchten daß die Republik in Frankreich, wenn ſie<lb/> ruhigen Beſtand und Gedeihen haben kann, die Anhänger dieſer Staats-<lb/> form in kurzer Zeit unendlich weit verbreiten wird. Es wird dann mit<lb/> jedem Jahr leichter werden Völker zu demokratiſiren. Jene Erfahrung<lb/> abzuwarten ſollte alſo auch dem Eifrigſten ein leichter Entſchluß ſeyn.<lb/> Zeigt ſich dagegen daß ſich die Republik, der ſich ſchon jetzt ihre Freunde<lb/> als die gefährlichſten Feinde zu zeigen, ihre Feinde als nur verſtellte<lb/> Freunde zu verrathen anfangen, nicht halten kann, ſo hätte man uns<lb/> in Deutſchland mit den ähnlichen Gelüſten nur eine neue Reaction vor-<lb/> bereitet. Wir brauchen nicht einmal von der förmlichen Abſicht zu reden<lb/> die auf republicaniſche Ordnungen dringt: wir warnen ſelbſt vor dem<lb/> ungeſtümen Vordrängen zu extremen Schritten innerhalb der monarchi-<lb/> ſchen Formen. Wie ſich die Dinge durch die neueſten Bewegungen in<lb/> Baden, Darmſtadt und Naſſau begründet haben, rathen wir dringend<lb/> auf dieſer Stufe zu weilen, und das vorläufig Zugeſtandene hier zu<lb/> feſten Beſitzungen auszubilden in dem Maße daß ſelbſt ein unverhoffter<lb/> Sturz der franzöſiſchen Republik, daß ſelbſt eine öſterreichiſche Reaction,<lb/> wenn ſie denkbar wäre, ſie uns nicht mehr verkümmern könnte. Das<lb/> iſt das Ein und Alles in Deutſchland daß wir uns nur in Maſſe, nur<lb/> im Ganzen bewegen, weil nur im Ganzen Macht gelegen iſt, und weil<lb/> es uns um Erwerb von Macht ebenſo ſehr zu thun ſeyn muß wie um<lb/> den Beſitz der Freiheit. Die öſtlichen Deutſchen aber ſind in ihren in-<lb/> nern Inſtitutionen und in politiſcher Bildung gegen den Weſten zurück:<lb/> es iſt nicht weiſe dieſe Diſtanz immer noch zu erweitern dadurch daß<lb/> man den Weſten noch weiter vortreibt, ſondern die wahre Politik ver-<lb/> langt daß man den Oſten erſt heranzieht. Wenn es gilt das Gros des<lb/> Volkes in einerlei Entwicklung zuſammenzuhalten, ſo wird füglicher von<lb/> dem leichtfüßigen Vorangeeilten verlangt daß er warte, als von dem<lb/> ſchwerfälligen Zurückgebliebenen daß er den andern plötzlich fliegend<lb/> überhole. Das aber was hier jetzt im erſten Anlaufe für den Süd-<lb/> weſten Deutſchlands errungen iſt, wird im Oſten viele Zeit oder viel<lb/> gewaltſamere Stürme verlangen. Harren wir denn dabei aus bis daß<lb/> dasſelbe Ziel erreicht iſt; feſtigen wir uns im Beſitz daß für den leidigen<lb/> Fall, wenn es dort nicht erreicht werden ſollte, es uns nie wieder von<lb/> dort aus gefährdet werden kann.</p><lb/> <p>Mittlerweile gibt es für unſere eifrigen Republicaner auch in dem<lb/> monarchiſchen Staat eine große Aufgabe zu erfüllen. Montesquieu hat<lb/> den ewig wahren Satz ausgeſprochen daß eine Republik auch nicht ſeyn<lb/> kann ohne Bürgertugend, ohne die Nachſetzung des Menſchen hinter den<lb/> Bürger. Unſere ganze humaniſtiſch-chriſtliche Bildung iſt in dieſer Be-<lb/> ziehung ſo antirepublicaniſch wie nur möglich. Wir beſtehen überall<lb/> zehnmal auf Menſchenrechten, bis wir uns einmal bereit zeigen uns<lb/> einer Bürgerpflicht zu unterziehen. Einige der größten Forderungen<lb/> des Liberalismus, wie völlige Religionsfreiheit, Aufhebung des Mili-<lb/> tärs, Freiheit des Unterrichts und dergleichen, zielen, ohne daß man es<lb/> weiß oder einſehen will, mehr auf Lockerung als auf Anziehung der<lb/> Staats- und Bürgerbande ab. Man iſt zu weit gegangen in dieſem<lb/> Kosmopolitismus; die ſocialiſtiſche Bewegung zielte daher in andern<lb/> Beziehungen ganz inconſequent in ſich ſelbſt auf eine größere Uebermacht<lb/> des Staats- und Allgemeinwohls über den Individualismus ab. Gleiche<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [1162/0010]
Man hat lange Zeit die Verfaſſung die England in einem vor-
ſchlagend ariſtokratiſchen Charakter ausgebildet hat, für die Form der
Republik gehalten, wie ſie neuerer Zeit in größeren Staaten, die eine
active Rolle in dem europäiſchen Staatenweſen ſpielen wollen, möglich iſt.
Noch zur Zeit der franzöſiſchen Revolution war dieß die übliche Weiſe
der Anſchauung; ſeit der damals gemachten Probe der Republik in
Frankreich, ſeit der nachfolgenden Militärdeſpotie und Verkümmerung
der conſtitutionellen Formen iſt ſie außer Brauch gekommen. Treten
dieſe in ihre natürliche Geſtalt zurück, und füllen die Menſchen ſie mit
dem rechten Geiſt aus, ſo wird dieſe Betrachtungsweiſe wieder mehr
hervortreten. Die Erfahrung einer großen Republik iſt ſeit Rom, zu
deſſen Zeit das Königthum nur in orientaliſcher, und noch dazu verfal-
lener Form exiſtirte, nicht gemacht worden. Die amerikaniſchen Frei-
ſtaaten ſind eine Föderation die, umgeben von amerikaniſchen Mon-
archien in der Kraft der engliſchen und ruſſiſchen, ganz unmöglich Be-
ſtand haben könnte: nur eine gänzliche Unmündigkeit in geſchichtlichen
Kenntniſſen könnte dieſen Satz beſtreiten. Frankreichs erſte Republik
iſt, trotz ihrer furchtbaren Energie mit der ſie anfänglich auftrat, nur
durch einen Dictator erhalten und umgeſtürzt worden. Die Erfahrung
ſteht zu machen: ob Frankreich jetzt in der zweiten Probe die Behaup-
tung ſeines Montesquieu auf längere Zeit widerlegen wird daß Repu-
bliken nur in kleineren Staaten möglich ſeyen. Ehe dieſe Erfahrung
gemacht iſt, hüten wir uns, in Deutſchland wenigſtens, das Nicht-
erprobte nachahmen zu wollen. Eine föderirte Republik in Deutſchland,
im Gedränge zwiſchen dem einheitlichen Frankreich und den koloſſalen
Monarchien im Oſten, iſt ein Mißgedanke für einen praktiſchen Staats-
ſinn, auf den niemand kommen wird der vor allem das erwachte Be-
ſtreben theilt Deutſchland zu einer Macht zu bilden, nicht aber es in dem
Moment wo es in dieſem Streben begriffen iſt in eine Unmacht auf-
zulöſen.
Man kann für die Idee einer deutſchen föderirten Republik ſchwär-
men, wenn man ſich aus allen Bedingungen der wirklichen Verhältniſſe
herausverſetzt; man kann ſie aber nicht praktiſch wollen, weil zwar einen
Staat zu träumen die Sache des Einzelnen, das wirkſame Handeln im
Staat aber nur unter Mitwirkung der Vielen möglich iſt. Die Vie-
len aber hängen in den germaniſchen Landen an der Monarchie. Die
republicaniſchen Männer, die es aus politiſcher Einſicht und Grundſatz
ſind, ſind zu zählen; die es aus tiefgreifender Antipathie gegen Mon-
archie, Hof und Hofweſen, Ariſtokratismus des Adels und der Bureaux
ſind, deren ſind mehr, obwohl im Verhältniß immer nur ſehr wenige.
Im Verhältniß nämlich zu den Andersgeſinnten zu Hauſe, ganz beſon-
ders aber auch im Verhältniß zu den Gleichgeſinnten in Frankreich.
Frage man ſich ehrlich und mit umſichtiger Erwägung der gegenwärtigen
und der vergangenen Zuſtände, woher in Frankreich die republicaniſchen
Ideen ſo weit im Volk ausgebreitet ſind, und man wird überall auf die
zwei Antworten ſtoßen: weil die Beamtenwelt käuflich, und weil die
Dynaſtie moraliſch und politiſch faul war. Beide Gründe beruhen auf
einem tiefen, ebenſoſehr, vielleicht mehr moraliſchen als politiſchen
Gegenſatz der romaniſchen gegen die germaniſchen Stämme. Von jenem
Ausbeuten des Amtes, von jenen raſchen und durchgreifenden Amts-
wechſeln die zur Nutznießung des kurzen Beſitzes verlocken, von jenem
leichtfertigen Grundſatz daß ein Thor ſey wer am Zoll ſitze und nicht
reich werde, von jener Beſtechlichkeit im Kleinen, von jenen ſyſtemati-
ſchen Defraudationen im Großen die in allen romaniſchen Staaten her-
kömmlich ſind, weiß man in England und in allen reiner germaniſchen
Staaten nur ausnahmsweiſe: Religioſität, Erziehung, Schule, die
Ehrbarkeit im Hauſe, Familienſinn, tauſend Züge unſers öffentlichen
und häuslichen Lebens und unſerer Volksanlage und Natur geben unſe-
rem Weſen in dieſen Beziehungen eine andere Richtung; wir können
viel über kleine Amtstyranneien klagen, aber nicht über den materiellen
Mißbrauch der Aemter, von dem noch zuletzt in Frankreich ſo ſcandalöſe
Thatſachen zu Tage kamen. Und was die Dynaſtien angeht, ſo ver-
gleiche man nur die Regentengeſchichte Frankreichs mit Englands *) um
den Unterſchied germaniſcher und romaniſcher Zucht kennen zu lernen,
und um plötzlich zu begreifen woher in dem einen Lande dieſe anhäng-
liche Pietät, in dem andern zuletzt dieſe frivole Verachtung der herr-
ſchenden Familie ſtammt. Welch eine Geſchichte die der Häuſer Bour-
bon und Orleans! Wer ſie nur halbwegs kennt, der wird ſich nicht
wundern daß dieß zuletzt der Ausgang war, ſondern daß er ſo lange
ausbleiben konnte. Aber wo wäre in Deutſchland auch nur das entfernt
Aehnliche? Und dabei bedenke man daß wir nicht eine, ſondern einige
dreißig — ja vor nicht langer Zeit eine viel unermeßlichere Reihe von
Dynaſtien gehabt haben; in dieſer Viel- und Ueberzahl wird man ver-
geblich nach einem ſolchen Beiſpiel ſuchen, wie es Frankreich in dem
Dualis ſeiner letzten Königsfamilien durch Jahrhunderte an der Spitze
des Staates ſah. Kein Wunder denn daß in Deutſchland die Ehe (wie
Dahlmann das Verhältniß gern verſinnlicht) zwiſchen Königthum und
Volk häuslich und familiär zuſammenwuchs, während ſie ſich in Frank-
reich gewaltſam ſchied. Kein Wunder daß ſich dieſes Verhältniß nicht
auf das erſte leichtſinnige Vorbild im Auslande hin lockern oder löſen
mag. Der Inſtinct der Völker hält ein Maß zwiſchen Urſachen und
Wirkungen ein; und es wäre ſehr unnatürlich wenn bei uns geſchehen
ſollte was in Frankreich ſeit 1789 geſchah, ohne die Gründe die das in
Frankreich Geſchehene hervorgerufen haben.
Als ſich Amerika von England republicaniſch losſagte, hielt in
England die Monarchie unerſchüttert Stand, und nicht zu Englands
Schaden. Sorgen wir daß das bei uns dem republicaniſchen Frankreich
gegenüber auch ſo komme. Es ſollte dem enthuſiaſtiſchen Republicaner
in Deutſchland einleuchten daß die Republik in Frankreich, wenn ſie
ruhigen Beſtand und Gedeihen haben kann, die Anhänger dieſer Staats-
form in kurzer Zeit unendlich weit verbreiten wird. Es wird dann mit
jedem Jahr leichter werden Völker zu demokratiſiren. Jene Erfahrung
abzuwarten ſollte alſo auch dem Eifrigſten ein leichter Entſchluß ſeyn.
Zeigt ſich dagegen daß ſich die Republik, der ſich ſchon jetzt ihre Freunde
als die gefährlichſten Feinde zu zeigen, ihre Feinde als nur verſtellte
Freunde zu verrathen anfangen, nicht halten kann, ſo hätte man uns
in Deutſchland mit den ähnlichen Gelüſten nur eine neue Reaction vor-
bereitet. Wir brauchen nicht einmal von der förmlichen Abſicht zu reden
die auf republicaniſche Ordnungen dringt: wir warnen ſelbſt vor dem
ungeſtümen Vordrängen zu extremen Schritten innerhalb der monarchi-
ſchen Formen. Wie ſich die Dinge durch die neueſten Bewegungen in
Baden, Darmſtadt und Naſſau begründet haben, rathen wir dringend
auf dieſer Stufe zu weilen, und das vorläufig Zugeſtandene hier zu
feſten Beſitzungen auszubilden in dem Maße daß ſelbſt ein unverhoffter
Sturz der franzöſiſchen Republik, daß ſelbſt eine öſterreichiſche Reaction,
wenn ſie denkbar wäre, ſie uns nicht mehr verkümmern könnte. Das
iſt das Ein und Alles in Deutſchland daß wir uns nur in Maſſe, nur
im Ganzen bewegen, weil nur im Ganzen Macht gelegen iſt, und weil
es uns um Erwerb von Macht ebenſo ſehr zu thun ſeyn muß wie um
den Beſitz der Freiheit. Die öſtlichen Deutſchen aber ſind in ihren in-
nern Inſtitutionen und in politiſcher Bildung gegen den Weſten zurück:
es iſt nicht weiſe dieſe Diſtanz immer noch zu erweitern dadurch daß
man den Weſten noch weiter vortreibt, ſondern die wahre Politik ver-
langt daß man den Oſten erſt heranzieht. Wenn es gilt das Gros des
Volkes in einerlei Entwicklung zuſammenzuhalten, ſo wird füglicher von
dem leichtfüßigen Vorangeeilten verlangt daß er warte, als von dem
ſchwerfälligen Zurückgebliebenen daß er den andern plötzlich fliegend
überhole. Das aber was hier jetzt im erſten Anlaufe für den Süd-
weſten Deutſchlands errungen iſt, wird im Oſten viele Zeit oder viel
gewaltſamere Stürme verlangen. Harren wir denn dabei aus bis daß
dasſelbe Ziel erreicht iſt; feſtigen wir uns im Beſitz daß für den leidigen
Fall, wenn es dort nicht erreicht werden ſollte, es uns nie wieder von
dort aus gefährdet werden kann.
Mittlerweile gibt es für unſere eifrigen Republicaner auch in dem
monarchiſchen Staat eine große Aufgabe zu erfüllen. Montesquieu hat
den ewig wahren Satz ausgeſprochen daß eine Republik auch nicht ſeyn
kann ohne Bürgertugend, ohne die Nachſetzung des Menſchen hinter den
Bürger. Unſere ganze humaniſtiſch-chriſtliche Bildung iſt in dieſer Be-
ziehung ſo antirepublicaniſch wie nur möglich. Wir beſtehen überall
zehnmal auf Menſchenrechten, bis wir uns einmal bereit zeigen uns
einer Bürgerpflicht zu unterziehen. Einige der größten Forderungen
des Liberalismus, wie völlige Religionsfreiheit, Aufhebung des Mili-
tärs, Freiheit des Unterrichts und dergleichen, zielen, ohne daß man es
weiß oder einſehen will, mehr auf Lockerung als auf Anziehung der
Staats- und Bürgerbande ab. Man iſt zu weit gegangen in dieſem
Kosmopolitismus; die ſocialiſtiſche Bewegung zielte daher in andern
Beziehungen ganz inconſequent in ſich ſelbſt auf eine größere Uebermacht
des Staats- und Allgemeinwohls über den Individualismus ab. Gleiche
*) Aber Heinrich VIII, Karl II, und zuletzt noch Georg IV? — Was auch
Ludwig Philipps politiſche Sünden waren, ſein Familienleben ge-
hörte zu den reinſten die jemals an Höfen dageweſen, und England und
Deutſchland haben nichts beſſeres aufzuweiſen. A. d. Allg. Z.
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(2021-08-16T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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