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Allgemeine Zeitung, Nr. 85, 25. März 1848.

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Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
[Spaltenumbruch] 25 März 1848.


[Spaltenumbruch]
Graf Cesare Balbo über den Vertheidigungskrieg in
Italien.

* = Der Graf Cesare Balbo zu Turin, dessen Namen ich nur zu
nennen brauche um an seine vortrefflichen Arbeiten auf dem Felde der
Geschichte und der Philosophie der Geschichte zu erinnern,*) welche um
so größern Anklang gefunden haben, je mehr neben dem wissenschaft-
lichen Gehalt auch Herz und Gefinnung des Verfassers aus ihnen her-
vorleuchten, und je mehr sie, statt an einen beschränkten Kreis, an die
Nation sich wenden, hat vor einigen Monaten eine kleine Schrift über
den Krieg auf der pyrenäischen Halbinsel drucken lassen unter dem
Titel: "Studj sulla guerra d'indipendenza di Spagna e Portogallo,
scritti da un Ufficiale Italiano"
(Turin 1847. 206 Seiten 12.). Des
Verfassers Vater, Prosper Balbo, der bekannte piemontesische Staats-
minister, über welchen L. Cibrario in seiner neulich in diesen Blättern
angezeigten Geschichte von Turin sich so schön äußert, war eine Zeitlang
Botschafter in Spanien; sein Sohn, damals in Militärdiensten, be-
gleitete ihn, und beschäftigte sich in den Jahren 1817 bis 18 mit Un-
tersuchungen über Wellingtons Kriegführung, deren Resultate er in
den Studien aufzeichnete welche jetzt, nach dreißig Jahren, ans Licht
kommen. Es ist keine Geschichte des Feldzugs was wir hier vor uns
haben: der Verfasser sagt in der Einleitung, er müsse voraussetzen daß
man die Facta wenigstens aus irgendeiner einfachen Relation kenne,
und verweist auf die Historiker des großen Kampfes, auf die Welling-
ton-Depeschen, auf Napier, auf Toreno, Schepeler, Foy, Suchet, auf
des Feldmarschall-Lieutenants Vaccani schätzbares, in diesen Blättern
schon genanntes Buch, welches den Antheil der italienischen Truppen
im französischen Heer schildert. Es sind Betrachtungen über die wich-
tigsten Facta vom militärischen Standpunkt aus, und bei jedem ein-
zelnen Factum finden sich die allgemeinen Beziehungen erläutert und
Folgerungen ausgeführt; bei der Belagerung von Saragossa wird die
Kunst der verlängerten Vertheidigung besprochen, bei dem ersten Feld-
zug Wellingtons gegen Soult und Victor die Frage ob beim Invasions-
kriege die Vertheilung der Streitmacht rathsam sey, bei Wellingtons
Rückzug nach Portugal die Bedeutung der Hülfstruppen, bei der Ge-
schichte der Linien von Torres Vedras die Frage der Defensiv-Positio-
nen, der Artillerie und der Kunst des Rückzugs, bei Soults Angriffen
in den Pyrenäen die Aufgabe des Gebirgskrieges, und was dessen mehr
ist. Betrachtungen aber anderer Natur reihen sich an, und in ihnen
müssen wir den nächsten Anlaß zur Publication dieser Jugendarbeit
suchen; aus der Geschichte des Vertheidigungskrieges in Spanien und
Portugal zieht Balbo Folgerungen, entlehnt er Nutzanwendungen für
einen möglichen künftigen Krieg in Italien -- einen Invasionskrieg,
welchen italienische Heere zurückzudrängen haben würden. Diesem Ge-
genstand widmet der Verfasser längere und kürzere Excurse wie verein-
zelte Bemerkungen; hierin wollen wir ihm einige Augenblicke folgen,
wo es angeht seine eignen Worte gebrauchend.

In der Napoleonischen Zeit und den derselben zunächst folgenden
Jahren, sagt Balbo, waren beinahe alle, Militäre wie nicht Militäre,
von dem Glanz der Thaten des großen Feldherrn präoccupirt. In
jenem Zeitalter der Eroberungen stand der Eroberungskrieg beinahe
allein in Ehren; die Vertheidigung, mochte sie noch so geschickt erson-
nen, so trefflich ausgeführt seyn, erschien gewissermaßen als secundärer
Theil der Kriegskunft. In unserer Zeit hingegen, wo der Angriff mit
Recht verabscheut wird, wo Nationalität und Unabhängigkeit eine hohe
Geltung haben, steht jener Kampf, der diese rettet und erhält, mit
gleichem Recht obenan. Wo die Möglichkeit eines solchen Krieges,
eine nähere oder entferntere, gegeben ist, kommt es vor allem auf das
Studium des Terrains an; dieß sey gegenwärtig die Aufgabe des Ita-
lieners. Italien hat nur drei Nationen als Gränzstaaten zu Lande,
der Theorie gemäß kann also von drei Seiten nur ein Angriff kommen,
von der Schweiz, von Frankreich, von Oesterreich. Lassen wir aber
die Angriffe von der Alpenseite unberührt. Die Schweiz des 19ten
Jahrhunderts ist von der des 16ten zu verschieden, und kein Cardinal
von Sitten wird mehr die Cidgenossen gegen uns führen. Und Frankreich,
[Spaltenumbruch] so schlimm auch einige seiner Journale sich gebärden mögen, Frankreich
kann in keinem vorauszusehenden Fall eine wirkliche Invasion unter-
nehmen(?). So bleibt denn die dritte Macht allein. Ein Angriff von
ihr kann auf zwei Seiten geschehen, westlich von der Seite des Tessin,
südlich von der Seite des Po, bei einem oder dem andern seiner drei
Uebergänge, bei Piacenza, Ferrara, Commacchio. Die Invasion auf
der Tessinseite (nach Piemont) würde so manchen frühern vielfach be-
sprochenen gleichen, daß es mir unnütz scheint darüber zu reden. In
Betreff der andern aber (gegen den Kirchenstaat) halte ich eine Unter-
suchung für nützlich, und zwar 1) weil eine solche Untersuchung die
Schwierigkeit des Angriffs, die Leichtigkeit der Vertheidigung an den
Tag bringt; 2) weil alle dabei gewinnen würden wenn sie irgend dazu
beitragen könnte den Angriff abzuhalten; 3) weil die Vertheidigung,
im Fall eines solchen Angriffs, meiner Ansicht zufolge nicht vermöge
eines geheimen Operationsplanes, sondern nur mittelst Theilnahme der
gesammten Bevölkerung, und folglich der allgemeinen Zustimmung
geschehen könnte. Die Untersuchung wird unvollständig seyn, aber die
Kleineren müssen beginnen, damit die Größeren vollenden.

Zwei Bemerkungen müssen vorausgesandt werden. Der angreifende
Theil kann in keinem Fall mit seiner gesammten Macht über den Po
vorrücken. Er braucht seine Heere außerhalb Italiens; er braucht sie
zur Sicherung der Lombardei und gegen den Westen. Der Norden
Italiens, welches auch seine Haltung seyn möge, kann niemals für die
Landsleute im Centrum und Süden völlig unnütz seyn. Was diese
letzteren betrifft, so muß ich nothwendig voraussetzen daß dieselben, auf
welche Weise und mit welcher Ordnung es auch immer seyn möge,
ernstlich und wahrhaft entschlossen sind sich zu schlagen. Denn wo dieser
ernste Entschluß nicht besteht, gibt es nicht Taktik, nicht Strategik,
nicht Kriegkunst, wovon zu reden nicht durchaus nichtig und lächerlich
wäre. Ich kann an Colletta's strategische Dissertationen über die Jahre
1799, 1815, 1821 nicht ohne Lächeln denken. Seit jener Zeit ist frei-
lich eine ganz neue Generation erwachsen, und diese ruft und schwört
sie sey anders, und wir glauben's, und deßhalb schreiben wir, denn
sonst wäre alles Schreiben vergeblich. Unter dieser Voraussetzung be-
ginne ich denn mit der Erklärung daß in natürlichen und localen Be-
ziehungen in keinem Lande der Welt eine kriegerische Operation so
schwierig ist wie von der Linie des Po aus eine Invasion unserer Halb-
insel, welche lang und schmal, der Länge nach durch eine Gebirgskette
geschieden, und auf beiden Gebirgsseiten durch eine sozusagen ununter-
brochene Kette von Städten besetzt ist. Wenn unsere Vorfahren, wenn
unsere Zeitgenossen in den jüngsten Decennien diese Invasionen nicht
zu hindern vermochten, so mag man dieß nach Belieben ihnen oder den
Zeiten, oder dem Schicksal, oder dem Verrath, oder jedem andern Um-
stand zuschreiben, oder auch nicht: gewiß aber kann man's der Localität
nicht beimessen, welche, wie kaum irgendeine, zur Vertheidigung wun-
derbar geeignet ist. Wie man also der natürlichen und localen Ver-
hältnisse je nach den verschiedenen Graden der nationalen Vorkehrungen
und Rüstungen sich bedienen soll, das sind die zu lösenden Fragen. Wo
wahrhafte Kämpfer stehen, da ist die Lösung leicht. Nehmen wir nun
den ersten Fall an: ein italienisches Heer, aus Truppen des Centrums
und des Südens der Halbinsel zusammengesetzt, gut geordnet und ge-
übt, welches man dem angreifenden Heer überlegen glauben dürfte --
für ein solches wäre es Schande die Pässe zu öffnen, Städte und Volk
sich selber zu überlassen, hinter dieselben sich zurückzuziehen. Ein ita-
lienisches Heer unter solchen Voraussetzungen müßte in der Nähe des
Po eine Schlacht wagen und Bologna nebst den Straßen nach Toscana
und Romagna decken. Aber auch ein solches Heer könnte unterliegen
wenn es da wäre, und für jetzt gibt es gar kein solches, und Jahre und
Jahre können darüber hingehen bis es dasteht, und so müssen wir den
Fall oder die Nothwendigkeit eines geordneten und den Feind in
Schranken haltenden Rückzugs von Bologna und Romagna nach dem
Süden betrachten. Dieß ist der zweite Fall. Hier verändern sich
aber all unsere natürlichen Vortheile in Nachtheil und Gefahren, ist
nicht im voraus vom Feldherrn und Heer nicht bloß, sondern auch von
Fürsten und Volk vorgesorgt und eingerichtet. Das schlimme Beispiel
des Rückzugs König Joachims i. J. 1815, das noch weit schlimmere der
schlechten Vertheidigung i. J. 1821 haben durch neuere Erfahrung gezeigt
was die Kenntniß der Orte und alte Geschichten längst an die Hand
*) Geschrieben vor der Nachricht daß Graf C. Balbo an die Spitze des
Turiner Cabinets gestellt und Metternich aus dem Wiener Cabinet ent-
fernt worden.
Nr. 85.
[Spaltenumbruch]
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
[Spaltenumbruch] 25 März 1848.


[Spaltenumbruch]
Graf Ceſare Balbo über den Vertheidigungskrieg in
Italien.

* = Der Graf Ceſare Balbo zu Turin, deſſen Namen ich nur zu
nennen brauche um an ſeine vortrefflichen Arbeiten auf dem Felde der
Geſchichte und der Philoſophie der Geſchichte zu erinnern,*) welche um
ſo größern Anklang gefunden haben, je mehr neben dem wiſſenſchaft-
lichen Gehalt auch Herz und Gefinnung des Verfaſſers aus ihnen her-
vorleuchten, und je mehr ſie, ſtatt an einen beſchränkten Kreis, an die
Nation ſich wenden, hat vor einigen Monaten eine kleine Schrift über
den Krieg auf der pyrenäiſchen Halbinſel drucken laſſen unter dem
Titel: „Studj sulla guerra d’indipendenza di Spagna e Portogallo,
scritti da un Ufficiale Italiano“
(Turin 1847. 206 Seiten 12.). Des
Verfaſſers Vater, Prosper Balbo, der bekannte piemonteſiſche Staats-
miniſter, über welchen L. Cibrario in ſeiner neulich in dieſen Blättern
angezeigten Geſchichte von Turin ſich ſo ſchön äußert, war eine Zeitlang
Botſchafter in Spanien; ſein Sohn, damals in Militärdienſten, be-
gleitete ihn, und beſchäftigte ſich in den Jahren 1817 bis 18 mit Un-
terſuchungen über Wellingtons Kriegführung, deren Reſultate er in
den Studien aufzeichnete welche jetzt, nach dreißig Jahren, ans Licht
kommen. Es iſt keine Geſchichte des Feldzugs was wir hier vor uns
haben: der Verfaſſer ſagt in der Einleitung, er müſſe vorausſetzen daß
man die Facta wenigſtens aus irgendeiner einfachen Relation kenne,
und verweist auf die Hiſtoriker des großen Kampfes, auf die Welling-
ton-Depeſchen, auf Napier, auf Toreno, Schepeler, Foy, Suchet, auf
des Feldmarſchall-Lieutenants Vaccani ſchätzbares, in dieſen Blättern
ſchon genanntes Buch, welches den Antheil der italieniſchen Truppen
im franzöſiſchen Heer ſchildert. Es ſind Betrachtungen über die wich-
tigſten Facta vom militäriſchen Standpunkt aus, und bei jedem ein-
zelnen Factum finden ſich die allgemeinen Beziehungen erläutert und
Folgerungen ausgeführt; bei der Belagerung von Saragoſſa wird die
Kunſt der verlängerten Vertheidigung beſprochen, bei dem erſten Feld-
zug Wellingtons gegen Soult und Victor die Frage ob beim Invaſions-
kriege die Vertheilung der Streitmacht rathſam ſey, bei Wellingtons
Rückzug nach Portugal die Bedeutung der Hülfstruppen, bei der Ge-
ſchichte der Linien von Torres Vedras die Frage der Defenſiv-Poſitio-
nen, der Artillerie und der Kunſt des Rückzugs, bei Soults Angriffen
in den Pyrenäen die Aufgabe des Gebirgskrieges, und was deſſen mehr
iſt. Betrachtungen aber anderer Natur reihen ſich an, und in ihnen
müſſen wir den nächſten Anlaß zur Publication dieſer Jugendarbeit
ſuchen; aus der Geſchichte des Vertheidigungskrieges in Spanien und
Portugal zieht Balbo Folgerungen, entlehnt er Nutzanwendungen für
einen möglichen künftigen Krieg in Italien — einen Invaſionskrieg,
welchen italieniſche Heere zurückzudrängen haben würden. Dieſem Ge-
genſtand widmet der Verfaſſer längere und kürzere Excurſe wie verein-
zelte Bemerkungen; hierin wollen wir ihm einige Augenblicke folgen,
wo es angeht ſeine eignen Worte gebrauchend.

In der Napoleoniſchen Zeit und den derſelben zunächſt folgenden
Jahren, ſagt Balbo, waren beinahe alle, Militäre wie nicht Militäre,
von dem Glanz der Thaten des großen Feldherrn präoccupirt. In
jenem Zeitalter der Eroberungen ſtand der Eroberungskrieg beinahe
allein in Ehren; die Vertheidigung, mochte ſie noch ſo geſchickt erſon-
nen, ſo trefflich ausgeführt ſeyn, erſchien gewiſſermaßen als ſecundärer
Theil der Kriegskunft. In unſerer Zeit hingegen, wo der Angriff mit
Recht verabſcheut wird, wo Nationalität und Unabhängigkeit eine hohe
Geltung haben, ſteht jener Kampf, der dieſe rettet und erhält, mit
gleichem Recht obenan. Wo die Möglichkeit eines ſolchen Krieges,
eine nähere oder entferntere, gegeben iſt, kommt es vor allem auf das
Studium des Terrains an; dieß ſey gegenwärtig die Aufgabe des Ita-
lieners. Italien hat nur drei Nationen als Gränzſtaaten zu Lande,
der Theorie gemäß kann alſo von drei Seiten nur ein Angriff kommen,
von der Schweiz, von Frankreich, von Oeſterreich. Laſſen wir aber
die Angriffe von der Alpenſeite unberührt. Die Schweiz des 19ten
Jahrhunderts iſt von der des 16ten zu verſchieden, und kein Cardinal
von Sitten wird mehr die Cidgenoſſen gegen uns führen. Und Frankreich,
[Spaltenumbruch] ſo ſchlimm auch einige ſeiner Journale ſich gebärden mögen, Frankreich
kann in keinem vorauszuſehenden Fall eine wirkliche Invaſion unter-
nehmen(?). So bleibt denn die dritte Macht allein. Ein Angriff von
ihr kann auf zwei Seiten geſchehen, weſtlich von der Seite des Teſſin,
ſüdlich von der Seite des Po, bei einem oder dem andern ſeiner drei
Uebergänge, bei Piacenza, Ferrara, Commacchio. Die Invaſion auf
der Teſſinſeite (nach Piemont) würde ſo manchen frühern vielfach be-
ſprochenen gleichen, daß es mir unnütz ſcheint darüber zu reden. In
Betreff der andern aber (gegen den Kirchenſtaat) halte ich eine Unter-
ſuchung für nützlich, und zwar 1) weil eine ſolche Unterſuchung die
Schwierigkeit des Angriffs, die Leichtigkeit der Vertheidigung an den
Tag bringt; 2) weil alle dabei gewinnen würden wenn ſie irgend dazu
beitragen könnte den Angriff abzuhalten; 3) weil die Vertheidigung,
im Fall eines ſolchen Angriffs, meiner Anſicht zufolge nicht vermöge
eines geheimen Operationsplanes, ſondern nur mittelſt Theilnahme der
geſammten Bevölkerung, und folglich der allgemeinen Zuſtimmung
geſchehen könnte. Die Unterſuchung wird unvollſtändig ſeyn, aber die
Kleineren müſſen beginnen, damit die Größeren vollenden.

Zwei Bemerkungen müſſen vorausgeſandt werden. Der angreifende
Theil kann in keinem Fall mit ſeiner geſammten Macht über den Po
vorrücken. Er braucht ſeine Heere außerhalb Italiens; er braucht ſie
zur Sicherung der Lombardei und gegen den Weſten. Der Norden
Italiens, welches auch ſeine Haltung ſeyn möge, kann niemals für die
Landsleute im Centrum und Süden völlig unnütz ſeyn. Was dieſe
letzteren betrifft, ſo muß ich nothwendig vorausſetzen daß dieſelben, auf
welche Weiſe und mit welcher Ordnung es auch immer ſeyn möge,
ernſtlich und wahrhaft entſchloſſen ſind ſich zu ſchlagen. Denn wo dieſer
ernſte Entſchluß nicht beſteht, gibt es nicht Taktik, nicht Strategik,
nicht Kriegkunſt, wovon zu reden nicht durchaus nichtig und lächerlich
wäre. Ich kann an Colletta’s ſtrategiſche Diſſertationen über die Jahre
1799, 1815, 1821 nicht ohne Lächeln denken. Seit jener Zeit iſt frei-
lich eine ganz neue Generation erwachſen, und dieſe ruft und ſchwört
ſie ſey anders, und wir glauben’s, und deßhalb ſchreiben wir, denn
ſonſt wäre alles Schreiben vergeblich. Unter dieſer Vorausſetzung be-
ginne ich denn mit der Erklärung daß in natürlichen und localen Be-
ziehungen in keinem Lande der Welt eine kriegeriſche Operation ſo
ſchwierig iſt wie von der Linie des Po aus eine Invaſion unſerer Halb-
inſel, welche lang und ſchmal, der Länge nach durch eine Gebirgskette
geſchieden, und auf beiden Gebirgsſeiten durch eine ſozuſagen ununter-
brochene Kette von Städten beſetzt iſt. Wenn unſere Vorfahren, wenn
unſere Zeitgenoſſen in den jüngſten Decennien dieſe Invaſionen nicht
zu hindern vermochten, ſo mag man dieß nach Belieben ihnen oder den
Zeiten, oder dem Schickſal, oder dem Verrath, oder jedem andern Um-
ſtand zuſchreiben, oder auch nicht: gewiß aber kann man’s der Localität
nicht beimeſſen, welche, wie kaum irgendeine, zur Vertheidigung wun-
derbar geeignet iſt. Wie man alſo der natürlichen und localen Ver-
hältniſſe je nach den verſchiedenen Graden der nationalen Vorkehrungen
und Rüſtungen ſich bedienen ſoll, das ſind die zu löſenden Fragen. Wo
wahrhafte Kämpfer ſtehen, da iſt die Löſung leicht. Nehmen wir nun
den erſten Fall an: ein italieniſches Heer, aus Truppen des Centrums
und des Südens der Halbinſel zuſammengeſetzt, gut geordnet und ge-
übt, welches man dem angreifenden Heer überlegen glauben dürfte —
für ein ſolches wäre es Schande die Päſſe zu öffnen, Städte und Volk
ſich ſelber zu überlaſſen, hinter dieſelben ſich zurückzuziehen. Ein ita-
lieniſches Heer unter ſolchen Vorausſetzungen müßte in der Nähe des
Po eine Schlacht wagen und Bologna nebſt den Straßen nach Toscana
und Romagna decken. Aber auch ein ſolches Heer könnte unterliegen
wenn es da wäre, und für jetzt gibt es gar kein ſolches, und Jahre und
Jahre können darüber hingehen bis es daſteht, und ſo müſſen wir den
Fall oder die Nothwendigkeit eines geordneten und den Feind in
Schranken haltenden Rückzugs von Bologna und Romagna nach dem
Süden betrachten. Dieß iſt der zweite Fall. Hier verändern ſich
aber all unſere natürlichen Vortheile in Nachtheil und Gefahren, iſt
nicht im voraus vom Feldherrn und Heer nicht bloß, ſondern auch von
Fürſten und Volk vorgeſorgt und eingerichtet. Das ſchlimme Beiſpiel
des Rückzugs König Joachims i. J. 1815, das noch weit ſchlimmere der
ſchlechten Vertheidigung i. J. 1821 haben durch neuere Erfahrung gezeigt
was die Kenntniß der Orte und alte Geſchichten längſt an die Hand
*) Geſchrieben vor der Nachricht daß Graf C. Balbo an die Spitze des
Turiner Cabinets geſtellt und Metternich aus dem Wiener Cabinet ent-
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[0009] Nr. 85. Beilage zur Allgemeinen Zeitung. 25 März 1848. Graf Ceſare Balbo über den Vertheidigungskrieg in Italien. * = Der Graf Ceſare Balbo zu Turin, deſſen Namen ich nur zu nennen brauche um an ſeine vortrefflichen Arbeiten auf dem Felde der Geſchichte und der Philoſophie der Geſchichte zu erinnern, *) welche um ſo größern Anklang gefunden haben, je mehr neben dem wiſſenſchaft- lichen Gehalt auch Herz und Gefinnung des Verfaſſers aus ihnen her- vorleuchten, und je mehr ſie, ſtatt an einen beſchränkten Kreis, an die Nation ſich wenden, hat vor einigen Monaten eine kleine Schrift über den Krieg auf der pyrenäiſchen Halbinſel drucken laſſen unter dem Titel: „Studj sulla guerra d’indipendenza di Spagna e Portogallo, scritti da un Ufficiale Italiano“ (Turin 1847. 206 Seiten 12.). Des Verfaſſers Vater, Prosper Balbo, der bekannte piemonteſiſche Staats- miniſter, über welchen L. Cibrario in ſeiner neulich in dieſen Blättern angezeigten Geſchichte von Turin ſich ſo ſchön äußert, war eine Zeitlang Botſchafter in Spanien; ſein Sohn, damals in Militärdienſten, be- gleitete ihn, und beſchäftigte ſich in den Jahren 1817 bis 18 mit Un- terſuchungen über Wellingtons Kriegführung, deren Reſultate er in den Studien aufzeichnete welche jetzt, nach dreißig Jahren, ans Licht kommen. Es iſt keine Geſchichte des Feldzugs was wir hier vor uns haben: der Verfaſſer ſagt in der Einleitung, er müſſe vorausſetzen daß man die Facta wenigſtens aus irgendeiner einfachen Relation kenne, und verweist auf die Hiſtoriker des großen Kampfes, auf die Welling- ton-Depeſchen, auf Napier, auf Toreno, Schepeler, Foy, Suchet, auf des Feldmarſchall-Lieutenants Vaccani ſchätzbares, in dieſen Blättern ſchon genanntes Buch, welches den Antheil der italieniſchen Truppen im franzöſiſchen Heer ſchildert. Es ſind Betrachtungen über die wich- tigſten Facta vom militäriſchen Standpunkt aus, und bei jedem ein- zelnen Factum finden ſich die allgemeinen Beziehungen erläutert und Folgerungen ausgeführt; bei der Belagerung von Saragoſſa wird die Kunſt der verlängerten Vertheidigung beſprochen, bei dem erſten Feld- zug Wellingtons gegen Soult und Victor die Frage ob beim Invaſions- kriege die Vertheilung der Streitmacht rathſam ſey, bei Wellingtons Rückzug nach Portugal die Bedeutung der Hülfstruppen, bei der Ge- ſchichte der Linien von Torres Vedras die Frage der Defenſiv-Poſitio- nen, der Artillerie und der Kunſt des Rückzugs, bei Soults Angriffen in den Pyrenäen die Aufgabe des Gebirgskrieges, und was deſſen mehr iſt. Betrachtungen aber anderer Natur reihen ſich an, und in ihnen müſſen wir den nächſten Anlaß zur Publication dieſer Jugendarbeit ſuchen; aus der Geſchichte des Vertheidigungskrieges in Spanien und Portugal zieht Balbo Folgerungen, entlehnt er Nutzanwendungen für einen möglichen künftigen Krieg in Italien — einen Invaſionskrieg, welchen italieniſche Heere zurückzudrängen haben würden. Dieſem Ge- genſtand widmet der Verfaſſer längere und kürzere Excurſe wie verein- zelte Bemerkungen; hierin wollen wir ihm einige Augenblicke folgen, wo es angeht ſeine eignen Worte gebrauchend. In der Napoleoniſchen Zeit und den derſelben zunächſt folgenden Jahren, ſagt Balbo, waren beinahe alle, Militäre wie nicht Militäre, von dem Glanz der Thaten des großen Feldherrn präoccupirt. In jenem Zeitalter der Eroberungen ſtand der Eroberungskrieg beinahe allein in Ehren; die Vertheidigung, mochte ſie noch ſo geſchickt erſon- nen, ſo trefflich ausgeführt ſeyn, erſchien gewiſſermaßen als ſecundärer Theil der Kriegskunft. In unſerer Zeit hingegen, wo der Angriff mit Recht verabſcheut wird, wo Nationalität und Unabhängigkeit eine hohe Geltung haben, ſteht jener Kampf, der dieſe rettet und erhält, mit gleichem Recht obenan. Wo die Möglichkeit eines ſolchen Krieges, eine nähere oder entferntere, gegeben iſt, kommt es vor allem auf das Studium des Terrains an; dieß ſey gegenwärtig die Aufgabe des Ita- lieners. Italien hat nur drei Nationen als Gränzſtaaten zu Lande, der Theorie gemäß kann alſo von drei Seiten nur ein Angriff kommen, von der Schweiz, von Frankreich, von Oeſterreich. Laſſen wir aber die Angriffe von der Alpenſeite unberührt. Die Schweiz des 19ten Jahrhunderts iſt von der des 16ten zu verſchieden, und kein Cardinal von Sitten wird mehr die Cidgenoſſen gegen uns führen. Und Frankreich, ſo ſchlimm auch einige ſeiner Journale ſich gebärden mögen, Frankreich kann in keinem vorauszuſehenden Fall eine wirkliche Invaſion unter- nehmen(?). So bleibt denn die dritte Macht allein. Ein Angriff von ihr kann auf zwei Seiten geſchehen, weſtlich von der Seite des Teſſin, ſüdlich von der Seite des Po, bei einem oder dem andern ſeiner drei Uebergänge, bei Piacenza, Ferrara, Commacchio. Die Invaſion auf der Teſſinſeite (nach Piemont) würde ſo manchen frühern vielfach be- ſprochenen gleichen, daß es mir unnütz ſcheint darüber zu reden. In Betreff der andern aber (gegen den Kirchenſtaat) halte ich eine Unter- ſuchung für nützlich, und zwar 1) weil eine ſolche Unterſuchung die Schwierigkeit des Angriffs, die Leichtigkeit der Vertheidigung an den Tag bringt; 2) weil alle dabei gewinnen würden wenn ſie irgend dazu beitragen könnte den Angriff abzuhalten; 3) weil die Vertheidigung, im Fall eines ſolchen Angriffs, meiner Anſicht zufolge nicht vermöge eines geheimen Operationsplanes, ſondern nur mittelſt Theilnahme der geſammten Bevölkerung, und folglich der allgemeinen Zuſtimmung geſchehen könnte. Die Unterſuchung wird unvollſtändig ſeyn, aber die Kleineren müſſen beginnen, damit die Größeren vollenden. Zwei Bemerkungen müſſen vorausgeſandt werden. Der angreifende Theil kann in keinem Fall mit ſeiner geſammten Macht über den Po vorrücken. Er braucht ſeine Heere außerhalb Italiens; er braucht ſie zur Sicherung der Lombardei und gegen den Weſten. Der Norden Italiens, welches auch ſeine Haltung ſeyn möge, kann niemals für die Landsleute im Centrum und Süden völlig unnütz ſeyn. Was dieſe letzteren betrifft, ſo muß ich nothwendig vorausſetzen daß dieſelben, auf welche Weiſe und mit welcher Ordnung es auch immer ſeyn möge, ernſtlich und wahrhaft entſchloſſen ſind ſich zu ſchlagen. Denn wo dieſer ernſte Entſchluß nicht beſteht, gibt es nicht Taktik, nicht Strategik, nicht Kriegkunſt, wovon zu reden nicht durchaus nichtig und lächerlich wäre. Ich kann an Colletta’s ſtrategiſche Diſſertationen über die Jahre 1799, 1815, 1821 nicht ohne Lächeln denken. Seit jener Zeit iſt frei- lich eine ganz neue Generation erwachſen, und dieſe ruft und ſchwört ſie ſey anders, und wir glauben’s, und deßhalb ſchreiben wir, denn ſonſt wäre alles Schreiben vergeblich. Unter dieſer Vorausſetzung be- ginne ich denn mit der Erklärung daß in natürlichen und localen Be- ziehungen in keinem Lande der Welt eine kriegeriſche Operation ſo ſchwierig iſt wie von der Linie des Po aus eine Invaſion unſerer Halb- inſel, welche lang und ſchmal, der Länge nach durch eine Gebirgskette geſchieden, und auf beiden Gebirgsſeiten durch eine ſozuſagen ununter- brochene Kette von Städten beſetzt iſt. Wenn unſere Vorfahren, wenn unſere Zeitgenoſſen in den jüngſten Decennien dieſe Invaſionen nicht zu hindern vermochten, ſo mag man dieß nach Belieben ihnen oder den Zeiten, oder dem Schickſal, oder dem Verrath, oder jedem andern Um- ſtand zuſchreiben, oder auch nicht: gewiß aber kann man’s der Localität nicht beimeſſen, welche, wie kaum irgendeine, zur Vertheidigung wun- derbar geeignet iſt. Wie man alſo der natürlichen und localen Ver- hältniſſe je nach den verſchiedenen Graden der nationalen Vorkehrungen und Rüſtungen ſich bedienen ſoll, das ſind die zu löſenden Fragen. Wo wahrhafte Kämpfer ſtehen, da iſt die Löſung leicht. Nehmen wir nun den erſten Fall an: ein italieniſches Heer, aus Truppen des Centrums und des Südens der Halbinſel zuſammengeſetzt, gut geordnet und ge- übt, welches man dem angreifenden Heer überlegen glauben dürfte — für ein ſolches wäre es Schande die Päſſe zu öffnen, Städte und Volk ſich ſelber zu überlaſſen, hinter dieſelben ſich zurückzuziehen. Ein ita- lieniſches Heer unter ſolchen Vorausſetzungen müßte in der Nähe des Po eine Schlacht wagen und Bologna nebſt den Straßen nach Toscana und Romagna decken. Aber auch ein ſolches Heer könnte unterliegen wenn es da wäre, und für jetzt gibt es gar kein ſolches, und Jahre und Jahre können darüber hingehen bis es daſteht, und ſo müſſen wir den Fall oder die Nothwendigkeit eines geordneten und den Feind in Schranken haltenden Rückzugs von Bologna und Romagna nach dem Süden betrachten. Dieß iſt der zweite Fall. Hier verändern ſich aber all unſere natürlichen Vortheile in Nachtheil und Gefahren, iſt nicht im voraus vom Feldherrn und Heer nicht bloß, ſondern auch von Fürſten und Volk vorgeſorgt und eingerichtet. Das ſchlimme Beiſpiel des Rückzugs König Joachims i. J. 1815, das noch weit ſchlimmere der ſchlechten Vertheidigung i. J. 1821 haben durch neuere Erfahrung gezeigt was die Kenntniß der Orte und alte Geſchichten längſt an die Hand *) Geſchrieben vor der Nachricht daß Graf C. Balbo an die Spitze des Turiner Cabinets geſtellt und Metternich aus dem Wiener Cabinet ent- fernt worden.

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 85, 25. März 1848, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine85_1848/9>, abgerufen am 23.11.2024.