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Allgemeine Zeitung, Nr. 86, 29. März 1900.

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München, Donnerstag Allgemeine Zeitung 29. März 1900. Nr. 86.
[Spaltenumbruch]

doch nicht anders beschaffen sein als das, was im Durch-
schnitt im Handel vorkommt. Gerade heute, wo die Fleisch-
beschau vielleicht doch noch vor der Thür stehe und die
Flottenvorlage vielleicht doch noch Gesetz werde, solle die
Marineverwaltung sich der Sache recht gründlich annehmen.

Staatssekretär des Reichsmarineamts Tirpitz:

Allge-
mein ist die Marineverwaltung jetzt schon bestrebt, Konserven
deutschen Herkommens zu nehmen. Die Schiffe müssen, wenn
sie im Ausland sind, nehmen, was dort an Proviant zu
haben ist, daran können wir nichts ändern. In Betracht
kommt nur die Verproviantirung der Schiffe in der Heimath.
Bei weitem der größte Theil der Verproviantirung ist deutscher
Herkunft. Unsre Schiffe haben Selbstverpflegung, d. h. es
wird ihnen ein gewisses Geldquantum bewilligt, womit sie
auszukommen haben; was sie damit machen, ist Sache der
Menagekommission an Bord des Schiffes und der kann man
nicht gut Vorschriften machen. Direkte Klagen in dieser
Richtung sind nicht laut geworden. Beim Einkauf der Menage
werden Stichproben genommen. Sollte das fremde Fleisch
aus sanitären Gründen nicht eingeführt werden dürfen, so
wird selbstverständlich auch die Marineverwaltung sich danach
richten. Jetzt liegt noch kein Anlaß vor, die Selbstverpflegung
einzuschränken.

Abg. Oertel:

Wenn das Fleischbeschangesetz in wenigen
Monaten wirklich Gesetz wird, dann kann doch die Ver-
waltung dieses Büchsenfleisch nicht mehr verwenden. Warum
soll sie dieses ununtersuchbare und möglicherweise gesund-
heitsgefährliche Fleisch nicht jetzt schon ausmerzen können?
Wenn es sich nur um 60,000 M. handelt, um so besser! Der
Staatssekretär sollte sich nicht hinter die Unabhängigkeit der
Schiffsmenagen verschanzen. Der preußische Kriegsminister
kann solche Anweisungen an die Menageverwaltungen auch
nicht erlassen, hat sie aber darauf hingewiesen, daß das Staats-
interesse den unmittelbaren Einkauf bei den Produzenten em-
pfehle, und viele Menageverwaltungen sind denn auch dazu
übergegangen. Ich habe an meinem eigenen Leib empfunden,
daß das amerikanische Büchsenfleisch bedeukliche Wirkungen
hat. (Große Heiterkeit links.) Ob die marineamtliche Unter-
suchung des Büchsenfleisches genügt, bezweifle ich.

Der Marine-Etat wird genehmigt. Beim Etat der
Reichsjustizverwaltung fragt

Abg. Böckel (Antisemit) nach dem Stand der längst
geforderten Reform der Anwaltsgebührenordnung, bittet, für
Herabsetzung der Gerichtskosten zu sorgen, und befürwortet,
den Anwaltszwang abzuschaffen.

Staatssekretär der Justiz Nieberding:

Die ursprüng-
lichen Sätze unsrer Gerichtsgebührenordnung haben schon
anfangs der 80 er Jahre eine Ermäßigung gefunden. Eine
spätere Vorlage über die Anwaltsgebührenermäßigung fand
nicht die Zustimmung des Hauses. Die ganze Frage ist seit-
dem liegen geblieben. Es wird auch noch weiterer praktischer
Erfahrungen bedürfen, ehe man an die Frage wieder herantreten
kann. Eine Aenderung des Anwaltszwanges ist bisher bei
den Regierungen nicht in Anregung gekommen.

Beim Etat des Reichseisenbahnamts kommt

Abg. Graf Kanitz (kons.) auf die bei der zweiten
Lesung gewünschte Aufhebung der Kohlenausfuhrtarife in
den Reichslanden zurück. Auch für Roheisen und Stahl
müsse der bestehende Ausfuhrtarif beseitigt werden Die
hohen Eisenpreise, die infolge der Eisennoth eingetreten seien,
fielen außerordentlich schwer ins Gewicht. Die Verringerung
des Eisenkonsums sei eine Kalamität für das ganze Land.
Die Vermehrung des Flottenbestandes würde den Eisenver-
brauch in Deutschland ganz enorm steigern und da dürfte
man die Eisenpreise nicht durch künstlichen Export noch weiter
steigern. Das Reichseisenbahnamt müsse sein Augenmerk
darauf richten, den Massenexport von Eisen so zu reguliren,
daß Deutschland dabei zu seinem Recht kommt.

Präsident des Reichseisenbahnamts Dr. Schulz:

Der
Reichskanzler hat eine gemeinsame Erörterung der wichtigen,
wirthschaftlich bedeutsamen Frage der Aufhebung der er-
mäßigten Kohlenausfuhrtarife veranlaßt. Ich habe mich dem-
gemäß zunächst mit dem preußischen Eisenbahnminister ins
Benehmen gesetzt. Die preußischen Ermittelungen sind abge-
schlossen und der Landeseisenbahnrath wird sein Gutachten
darüber abgegeben haben. Auch die anderen Regierungen
sind von dem Amte ersucht worden, die dem Zwecke dienlichen
Ermittlungen anzustellen. Daß die Preise der Kohlen, die
von der Saar nach Frankreich und der Schweiz ausgeführt
werden, weit billiger sind, als die für die im Inlande ver-
[Spaltenumbruch] bleibenden Kohlen, entspricht nicht den Thatsachen. Die Preise
der Saarkohlen nach Frankreich, der Schweiz und Italien
werden nach eingeholter Auskunft nicht niedriger, sondern
höher gehalten als die für den inländischen Verbrauch. Was
die Roheisenausfuhrtarife betrifft, so haben die ermäßigten
Frachtsätze nicht unwesentlich dazu beigetragen, der deutschen
Eisenindustrie den außerordentlich schwierigen Wettbewerb
auf dem Weltmarkt zu erleichtern. Inländische Interessen sind
dadurch meines Wissens nicht geschädigt worden. Jedenfalls
liegen die Verhältnisse bezüglich des Eisens noch schwieriger,
als bezüglich der Kohlen.

Beim Etat der Reichspost- und Telegraphen-
verwaltung
beschwert sich

Abg. Liebermann v. Sonnenberg (deutsch-soz.
Reformp.) darüber, daß in Straßburg im Elsaß die Bewerbung
einer Vereinigung von Schneidermeistern um die ausge-
schriebene Lieferung von Bekleidungsgegenständen für Post-
beamte von der Oberpostdirektion zurückgewiesen worden sei,
obwohl sie den abgegebenen Submissionsbedingungen durch-
aus entsprochen hätte. Den Zuschlag habe schließlich keine
Straßburger Firma, sondern die Firma Sachs in Berlin er-
halten, weil sie die billigste gewesen sei. Dieser Firma gegen-
über komme eine sehr große Anzahl von Handwerksmeistern
und Innungen im Deutschen Reich sehr zu kurz, denn die
Firma liefere für eine große Anzahl von Orten.

Staatssekretär des Reichspostamts v. Podbielski:

Prinzipiell ist jeder Oberpostdirektionsbezirk selbständig. Natur-
gemäß behauptet bei jeder Submission der nicht Berücksichtigte,
das beste Material gehabt zu haben. Wir haben ein vitales
Interesse daran, daß die Kleidung nicht zu theuer wird, denn
die Unterbeamten haben dabei etwa ein Siebentel bis ein
Achtel zuzuschießen. Ich habe selbstverständlich keinen Einfluß
darauf geübt, daß der Lieferant Sachs bevorzugt wurde.

Auf eine Anfrage des Abg. Braesicke (Freis. Volksp.)
erklärt v. Podbielski, daß von einer fundamentalen Um-
gestaltung des Pakettarifs nicht die Rede sei, sondern nur
von einer Aenderung der Tarife für die mehr als 5 Pfund
schweren Pakete. Erst müßten aber die beschlossenen Gesetze
zur Durchführung gebracht werden.

Zur Einführung des Postscheckverkehrs erklärt

Staatssekretär des Reichsschatzamts Frhr. v. Thiel-
mann
(schwer verständlich):

Der Einnahmeausfall bei der
Postverwaltung wird durch die zum Scheckverkehr gefaßten
Beschlüsse noch vermehrt werden. Bleiben diese Beschlüsse be-
stehen, so wird die Einführung des Scheckverkehrs starken
Bedenken unterliegen und die Regierungen müssen sich volle
Freiheit der Entschließung vorbehalten, ob sie von der im
Etatsgesetz ertheilten Befugniß Gebrauch machen werden.

(Bewegung links.)

Beim Etat der Zölle und Verbrauchssteuern liegt
ein Antrag des Abg. Broemel (Frs. Vgg.) vor, die Zoll-
freiheit für Schiffsbaumaterialien aufzuheben, ferner ein An-
trag des Abg. Bargmann (Frs. Vp.) über das Saccharin-
gesetz; beide Anträge werden später für sich selbständig be-
handelt werden.

Abg. Rickert:

Finauzminister v. Miquel hat mir oft-
mals zugegeben, daß die gemischten Transitlager unentbehr-
lich seien.

Abg. Graf Klinckowström (kons.):

Die gesammte ost-
preußische Landwirthschaft hat sich für die Aufhebung aus-
gesprochen. Die Interessen der Seestädte werden durch die
reinen Transitlager genügend gewahrt, während das ge-
mischte Transitlager den Charakter der Spekulation trägt.

Staatssekretär v. Thielmann:

Graf Kanitz hat 1895
noch selbst zugegeben, daß die absolute Aufhebung die
Handelsinteressen der Seestädte schädigen müßte. Heute würde
er vielleicht diesen Standpunkt nicht vertreten, aber die Herren,
deren Standpunkt sich selbst derart verschiebt, können nicht
verlangen, daß die Regierungen jeder solchen Verschiebung
sofort ihrerseits folgen.

Der Etat und das Etatsgesetz werden angenommen,
ebenso die zum Etat vorgeschlagenen Resolutionen mit Aus-
nahme derjenigen auf Herabsetzung der Patentgebühren.

Die Sitzung schließt um 51/4 Uhr. Die nächste Sitzung
wird auf Dienstag, den 24. April, 2 Uhr, anberaumt. Auf
die Tagesordnung setzt der Präsident die Literarkon-
vention mit Oesterreich
und das Seuchengesetz.



[Spaltenumbruch]
Deutsches Reich.
Vom Tage.

Tel. Die Generaldevatte über
die Flottenvorlage in der Budgetkommission
dürfte morgen zu Ende geführt werden. Nach allem, was
bis jetzt darüber bekannt geworden ist, sind gute Aus-
sichten für eine Durchbringung der Vorlage vorhanden.

Die Nachricht, daß anläßlich der Verlobung des
Prinzen Max von Baden mit der Prinzessin
von Cumberland
telegraphisch herzliche Glückwünsche
zwischen dem Kaiser und dem Herzog von Cumber-
land
ausgetauscht wurden, entspricht den Thatsachen.
Indessen ist es als völlig ausgeschlossen zu betrachten,
daß sich aus diesem Akt der Konzilianz irgend eine Ver-
änderung in der Auffassung der braunschweigischen
Frage
seitens der betheiligten Kreise ergibt.

Ein Berliner Blatt hatte sich kürzlich aus St. Peters-
burg
über gewisse Mißhelligkeiten berichten lassen, die
zwischen dem Großfürsten Wladimir und seiner Ge-
mahlin Maria Paulowna einerseits und dem deut-
schen Botschafter, Fürsten Radolin,
andrerseits
dadurch entstanden seien, daß Fürst Radolin bei der
Großfürstin über ein sehr wenig angebrachtes Scherzwort
ihres Gemahls Beschwerde geführt habe, worauf die hohe
Dame in scharfem Tone replizirt und u. a. bemerkt haben
solle, der Fürst habe in ihr nicht die deutsche Prinzessin,
sondern die russische Großfürstin zu sehen. Es mag dahin-
gestellt bleiben, ob diese Darstellung, die mehrfach mit ge-
wissen, von maßgebender Seite bereits in aller Form
dementirten Gerüchten über einen Botschafterwechsel in
St. Petersburg in Zusammenhang gebracht wurde, völlig
den Thatsachen entspricht. Sie rundweg ins Gebiet gegen-
standslosen Klatsches zu verweisen, ist indessen nicht wohl
angebracht. Immerhin dürfte sich, falls der "Figaro"
recht mit der Behauptung hat, daß die Großfürstin Maria
Paulowna äußerte, sie hoffe bei ihrer Rückkehr nach
St. Petersburg einen anderen deutschen Botschafter zu
finden, diese Erwartung im Hinblick auf das bisherige
Eintreten der deutschen Regierung für den Fürsten Radolin
als trügerisch erweisen.

Verhandlungen der Budgetkommission über die Flotten-Vorlage.

Tel. Bei der heute fortgesetzten
Berathung der Novelle zum Flottengesetz in der
Budgetkommission des Reichstags wurde in der ver-
traulichen Erörterung der Fragen betr. die Nothwendig-
keit und den Umfang der Flottenvermehrung fortgefahren.
Die Details der Besprechung entziehen sich demgemäß der
Wiedergabe, doch darf das Nachstehende hervorgehoben
werden.

Abg. Bebel (Soz.) würdigte die politische Lage Deutsch-
lands inmitten der übrigen Völker. Er glaubt, daß sie die
verlangte Erweiterung der Flotte nicht rechtfertige. Einen
absoluten Schutz des Handels im Kriege gewährleiste auch
eine stärkere Flotte nicht. Der deutsche Handel werde im
Kriege überhaupt nicht wagen, den überseeischen Betrieb auf-
rechtzuerhalten. Er gelangt demgemäß zur Ablehnung der
Vorlage. -- Abg. Graf Stolberg-Wernigerode (kons.)
legt dar, daß dem Gesetze jede aggressive Tendenz fern liege.
In der wirthschaftlichen Entwicklung Deutschlands lägen
jedoch Reibungsmöglichkeiten in großer Menge. Mit
schwachen Rüstungen sich begnügen zu wollen weil die
möglichen Gegner doch stärker sein würden entspräche
nicht einer voraussehenden Politik, es müsse vielmehr ge-
schehen, was den Kräften der Nation entspreche. Deß-
halb sei er für die Vorlage. -- In ähnlichem Sinne spricht
sich Abg. Bassermann (nat.-lib.) aus. -- Abg. Richter
(Freis. Volksp.) hält die Lage im Vergleich zu 1897, wo das
erste Flottengesetz vorgelegt wurde, für nicht wesentlich ver-
ändert. Fürst Bismarck habe im Jahre 1885 seinen Stand-
punkt zur Flotte dahin gekennzeichnet, daß Deutschland mit
den großen Seemächten nicht wetteifern solle. Noch 1897
habe er eine "gute Anstandsflotte" für Deutschland als aus-
reichend erachtet In den zur Zeit bestehenden Macht-
ver hältnissen der Völker liege eine gute Garantie für die
Fortdauer friedlicher Verhältnisse. Er gelange zur Ablehnung
der Novelle umsomehr, als sie Projekte enthalte für eine Zu-
kunft, welche sich in keiner Weise übersehen lasse. -- Abg.

[Spaltenumbruch]

Augen singen und spielen, um bei der Aufführung ihre
Blindheit glaubwürdig zu machen.

Daß Hans Richter, der ausgezeichnete Kapellmeister,
Wien, die Stätte seines Ruhms, für immer verläßt, wird
tief bedauert. Wer kann in das Herz des Menschen
schauen, um den wahren Grund dieser Trennung zu er-
rathen?

Wien ist nicht nur eine Musikstadt; sie beginnt ein
zweites München zu werden; denn die Maler regen sich
allgewaltig, die Alten und die Jungen!

Die feierliche Eröffnung der Frühjahrsausstellung
im Künstlerhause, dem Heim der Alten, gestaltete sich
wie alljährlich zu einem glänzenden Feste. Elegante
Damen in den modernsten Frühjahrstoiletten strömten zu
den Hallen der Kunst, mehr, um gesehen zu werden, als
um selbst zu sehen. Man sah vor lauter Bäumen nicht
den Wald; vor lebendigen Bildern nicht die gemalten.
Alles drängte zu dem Vordergrund, um den Kaiser zu
sehen, der mit gewohntem, bewunderungswürdigem Pflicht-
eifer und sichtlichem Interesse die Bilder in Augenschein
nahm. Ihn begleiteten der Thronfolger, Erzherzog Franz
Ferdinand Este, den die Fama schon verheirathet hat --
und Erzherzog Eugen, der Stiefbruder der Prinzessin
Ludwig von Bayern, eine schöne, ritterliche Erscheinung.
Er gilt als einer der kunstsinnigsten Prinzen.

Es geht ein frischer Luftzug durch das Künstlerhaus.
Auch dekorativ leistet es jetzt mehr als früher. Man
sieht, die Nachbarin Sezession gibt ihm zu schaffen. Es
will nicht zurückbleiben im Wettkampfe um die Sieges-
palme.

Drüben ist mehr Farbe, mehr Harmonie und Stim-
mung in der Ausschmückung der Säle. Auch die Rahmen
der Bilder sind stilvoller, der schwere Goldrahmen, dem
wir im Künstlerhaus so häufig begegnen, ist in der Se-
zession fast gänzlich verschwunden.

Das Wiener Publikum steht der Sezession nicht mehr
skeptisch gegenüber, nur für die rothhaarigen, ätherischen
Frauengestalten hat es kein Verständniß. Sie stehen zu
sehr im Kontrast zu den zwar auf sezessionistische Taille
schwörenden, aber sonst lebensvollen, üppigen Wienerinnen.
[Spaltenumbruch] Ganz merkwürdig ist es, daß der Altmeister der Mal-
kunst, der Aquarellist Rudolf Alt, in einer starken oder
schwachen Stunde seinen Namen auf die Fahne der Se-
zession geschrieben hat. Es wird eine Zeit kommen, wo
alt und jung sich wieder vereinigen wird! Wer hätte
vor zwei Jahren geglaubt, daß der hypermoderne Strath-
mann bei den Alten und Rudolf Alt bei den Jungen
heimisch werden könnten!

Ist es nicht ein eigenthümlicher Zug der Zeit, daß,
je tiefer das politische Leben sinkt, das Künstlerische desto
höher steigt. Seit langem herrschte bei uns kein so reges
geistiges Leben, wie jetzt. Auch Frau Caritas profitirt
davon -- und da Hut ab! stehen unsre Frauen an der
Spitze! Die Modeausstellung dient etwa nicht nur der
frivolen Göttin Mode, sondern auch hauptsächlich dem
Gewerbe in den verschiedensten Zweigen. Frau Eitelkeit
spielt natürlich mit, denn was wäre die Mode ohne die
Eitelkeit des weiblichen Geschlechts? Die schönen Frauen,
welche in der Ausstellung in schönen Toiletten die Gäste
empfangen, wissen ganz gut, welche Anziehungskraft sie
ausüben. Wir sehen die reizende Gemahlin des Statt-
halters, Gräfin Kielmansegg -- als Präsidentin, die
Hofschauspielerin Frau Schratt als Vizepräsidentin. Frau
Schratt mit ihrer gesunden Weltanschanung und ihrem
liebenswürdigen Humor weiß ganz gut, daß sie selbst
noch viel anziehender ist, als ihre geschmackvolle Toilette.
Frau Odilon vom Volkstheater repräsentirt die Pikan-
terie, Gräfin Kinsky-Palmay den Chic u. s. w. -- Attri-
bute, die mit der Mode Hand in Hand gehen. Die aus-
gestellten Toiletten dienen den Damen als Folie. Der
Hochzeitszug aus reizenden Wachspuppen ist der Clon der
Ausstellung.

Draußen in den Sophien-Sälen, wo vor wenigen
Wochen die weiße Redoute ihren Zauberspuk getrieben
hatte, sind nun kleine, trauliche Interieurs geschaffen
worden, sozusagen kleine Theesalons, wo Damen aus der
Gesellschaft ihre jours halten und zu wohlthätigen Zwecken
eine Tasse Thee kredenzen.

Der Wiener besitzt einen eigenen, vielleicht nicht ganz
salonfähigen, aber sehr bezeichnenden Ausdruck für eine
[Spaltenumbruch] gewisse Art eleganten Raubritterthums, ein Spekuliren auf
die Gutmüthigkeit und den Wohlthätigkeitssinn der Be-
kannten und Freunde, ja auch der gänzlich Fremden.
Das schöne Wort heißt: Wurzen -- und das gutmüthige
Opfer: eine gute Wurzen. Die Etymologie dieses inter-
essanten Wortes findet man weder in Heyse's Grammatik
noch in dessen Fremdwörterbuch; und ich könnte dieselbe
auch nicht erklären. Beim "Wurzen" fallen alle gesell-
schaftlichen und konfessionellen Schranken.

Wir feierten in diesen Tagen einen Siebzigjährigen,
aber in wehmüthiger Stille, um nicht die Wunde aufzu-
reißen, die ihm der Tod seiner geliebten Gattin vor zwei
Wochen geschlagen. Es ist dies der Chef des General-
stabs der gemeinsamen Armee, Feldzeugmeister Frhr.
v. Beck, einer der populärsten Generale Oesterreichs, der
sich auch des besonderen Wohlwollens seines obersten
Kriegsherrn, des Kaisers, erfreut. Wie populär der noch
vollkommen rüstige, unermüdlich thätige General ist, be-
wies die ungeheure Theilnahme an dem schweren Verlust,
den er und sein Sohn, ein ausgezeichneter Generalstabs-
offizier, erlitten. Die verstorbene Baronin Beck war eine
vornehme Franenerscheinung. Obwohl eine hohe Stellung
in der Gesellschaft einnehmend, lebte sie gänzlich zurück-
gezogen, nur ihren Pflichten als Gattin und Mutter und
der Pflege des Edlen und Schönen. So lange sie lebte,
galt für sie jener bekannte Ausspruch Napoleons: "Die
Frau ist die beste, von welcher am wenigsten gesprochen
wird." Nach ihrem Tode wurden viele Stimmen des
Lobes über sie laut.

Der Rubikon ist überschritten: Kronprinzessin Stephanie
ist Gräfin Lonyay geworden. Viele stehen in Oesterreich
dem Glücke der Gräfin Lonyay skeptisch gegenüber, der
vollständige Umschwung der Verhältnisse, die Zwitterstellung,
die Trennung von ihrer Tochter -- all dieses zu über-
winden, dazu gehört viel Heroismus und Charakterstärke.
Man glaubt nicht mehr an die romantische Liebe, von
welcher Ranpach schön sagt: "Entschlossenheit zum schwersten
Opfer ist der Liebe Ruhm und höchste Offenbarung."

Verus.



München, Donnerſtag Allgemeine Zeitung 29. März 1900. Nr. 86.
[Spaltenumbruch]

doch nicht anders beſchaffen ſein als das, was im Durch-
ſchnitt im Handel vorkommt. Gerade heute, wo die Fleiſch-
beſchau vielleicht doch noch vor der Thür ſtehe und die
Flottenvorlage vielleicht doch noch Geſetz werde, ſolle die
Marineverwaltung ſich der Sache recht gründlich annehmen.

Staatsſekretär des Reichsmarineamts Tirpitz:

Allge-
mein iſt die Marineverwaltung jetzt ſchon beſtrebt, Konſerven
deutſchen Herkommens zu nehmen. Die Schiffe müſſen, wenn
ſie im Ausland ſind, nehmen, was dort an Proviant zu
haben iſt, daran können wir nichts ändern. In Betracht
kommt nur die Verproviantirung der Schiffe in der Heimath.
Bei weitem der größte Theil der Verproviantirung iſt deutſcher
Herkunft. Unſre Schiffe haben Selbſtverpflegung, d. h. es
wird ihnen ein gewiſſes Geldquantum bewilligt, womit ſie
auszukommen haben; was ſie damit machen, iſt Sache der
Menagekommiſſion an Bord des Schiffes und der kann man
nicht gut Vorſchriften machen. Direkte Klagen in dieſer
Richtung ſind nicht laut geworden. Beim Einkauf der Menage
werden Stichproben genommen. Sollte das fremde Fleiſch
aus ſanitären Gründen nicht eingeführt werden dürfen, ſo
wird ſelbſtverſtändlich auch die Marineverwaltung ſich danach
richten. Jetzt liegt noch kein Anlaß vor, die Selbſtverpflegung
einzuſchränken.

Abg. Oertel:

Wenn das Fleiſchbeſchangeſetz in wenigen
Monaten wirklich Geſetz wird, dann kann doch die Ver-
waltung dieſes Büchſenfleiſch nicht mehr verwenden. Warum
ſoll ſie dieſes ununterſuchbare und möglicherweiſe geſund-
heitsgefährliche Fleiſch nicht jetzt ſchon ausmerzen können?
Wenn es ſich nur um 60,000 M. handelt, um ſo beſſer! Der
Staatsſekretär ſollte ſich nicht hinter die Unabhängigkeit der
Schiffsmenagen verſchanzen. Der preußiſche Kriegsminiſter
kann ſolche Anweiſungen an die Menageverwaltungen auch
nicht erlaſſen, hat ſie aber darauf hingewieſen, daß das Staats-
intereſſe den unmittelbaren Einkauf bei den Produzenten em-
pfehle, und viele Menageverwaltungen ſind denn auch dazu
übergegangen. Ich habe an meinem eigenen Leib empfunden,
daß das amerikaniſche Büchſenfleiſch bedeukliche Wirkungen
hat. (Große Heiterkeit links.) Ob die marineamtliche Unter-
ſuchung des Büchſenfleiſches genügt, bezweifle ich.

Der Marine-Etat wird genehmigt. Beim Etat der
Reichsjuſtizverwaltung fragt

Abg. Böckel (Antiſemit) nach dem Stand der längſt
geforderten Reform der Anwaltsgebührenordnung, bittet, für
Herabſetzung der Gerichtskoſten zu ſorgen, und befürwortet,
den Anwaltszwang abzuſchaffen.

Staatsſekretär der Juſtiz Nieberding:

Die urſprüng-
lichen Sätze unſrer Gerichtsgebührenordnung haben ſchon
anfangs der 80 er Jahre eine Ermäßigung gefunden. Eine
ſpätere Vorlage über die Anwaltsgebührenermäßigung fand
nicht die Zuſtimmung des Hauſes. Die ganze Frage iſt ſeit-
dem liegen geblieben. Es wird auch noch weiterer praktiſcher
Erfahrungen bedürfen, ehe man an die Frage wieder herantreten
kann. Eine Aenderung des Anwaltszwanges iſt bisher bei
den Regierungen nicht in Anregung gekommen.

Beim Etat des Reichseiſenbahnamts kommt

Abg. Graf Kanitz (konſ.) auf die bei der zweiten
Leſung gewünſchte Aufhebung der Kohlenausfuhrtarife in
den Reichslanden zurück. Auch für Roheiſen und Stahl
müſſe der beſtehende Ausfuhrtarif beſeitigt werden Die
hohen Eiſenpreiſe, die infolge der Eiſennoth eingetreten ſeien,
fielen außerordentlich ſchwer ins Gewicht. Die Verringerung
des Eiſenkonſums ſei eine Kalamität für das ganze Land.
Die Vermehrung des Flottenbeſtandes würde den Eiſenver-
brauch in Deutſchland ganz enorm ſteigern und da dürfte
man die Eiſenpreiſe nicht durch künſtlichen Export noch weiter
ſteigern. Das Reichseiſenbahnamt müſſe ſein Augenmerk
darauf richten, den Maſſenexport von Eiſen ſo zu reguliren,
daß Deutſchland dabei zu ſeinem Recht kommt.

Präſident des Reichseiſenbahnamts Dr. Schulz:

Der
Reichskanzler hat eine gemeinſame Erörterung der wichtigen,
wirthſchaftlich bedeutſamen Frage der Aufhebung der er-
mäßigten Kohlenausfuhrtarife veranlaßt. Ich habe mich dem-
gemäß zunächſt mit dem preußiſchen Eiſenbahnminiſter ins
Benehmen geſetzt. Die preußiſchen Ermittelungen ſind abge-
ſchloſſen und der Landeseiſenbahnrath wird ſein Gutachten
darüber abgegeben haben. Auch die anderen Regierungen
ſind von dem Amte erſucht worden, die dem Zwecke dienlichen
Ermittlungen anzuſtellen. Daß die Preiſe der Kohlen, die
von der Saar nach Frankreich und der Schweiz ausgeführt
werden, weit billiger ſind, als die für die im Inlande ver-
[Spaltenumbruch] bleibenden Kohlen, entſpricht nicht den Thatſachen. Die Preiſe
der Saarkohlen nach Frankreich, der Schweiz und Italien
werden nach eingeholter Auskunft nicht niedriger, ſondern
höher gehalten als die für den inländiſchen Verbrauch. Was
die Roheiſenausfuhrtarife betrifft, ſo haben die ermäßigten
Frachtſätze nicht unweſentlich dazu beigetragen, der deutſchen
Eiſeninduſtrie den außerordentlich ſchwierigen Wettbewerb
auf dem Weltmarkt zu erleichtern. Inländiſche Intereſſen ſind
dadurch meines Wiſſens nicht geſchädigt worden. Jedenfalls
liegen die Verhältniſſe bezüglich des Eiſens noch ſchwieriger,
als bezüglich der Kohlen.

Beim Etat der Reichspoſt- und Telegraphen-
verwaltung
beſchwert ſich

Abg. Liebermann v. Sonnenberg (deutſch-ſoz.
Reformp.) darüber, daß in Straßburg im Elſaß die Bewerbung
einer Vereinigung von Schneidermeiſtern um die ausge-
ſchriebene Lieferung von Bekleidungsgegenſtänden für Poſt-
beamte von der Oberpoſtdirektion zurückgewieſen worden ſei,
obwohl ſie den abgegebenen Submiſſionsbedingungen durch-
aus entſprochen hätte. Den Zuſchlag habe ſchließlich keine
Straßburger Firma, ſondern die Firma Sachs in Berlin er-
halten, weil ſie die billigſte geweſen ſei. Dieſer Firma gegen-
über komme eine ſehr große Anzahl von Handwerksmeiſtern
und Innungen im Deutſchen Reich ſehr zu kurz, denn die
Firma liefere für eine große Anzahl von Orten.

Staatsſekretär des Reichspoſtamts v. Podbielski:

Prinzipiell iſt jeder Oberpoſtdirektionsbezirk ſelbſtändig. Natur-
gemäß behauptet bei jeder Submiſſion der nicht Berückſichtigte,
das beſte Material gehabt zu haben. Wir haben ein vitales
Intereſſe daran, daß die Kleidung nicht zu theuer wird, denn
die Unterbeamten haben dabei etwa ein Siebentel bis ein
Achtel zuzuſchießen. Ich habe ſelbſtverſtändlich keinen Einfluß
darauf geübt, daß der Lieferant Sachs bevorzugt wurde.

Auf eine Anfrage des Abg. Braeſicke (Freiſ. Volksp.)
erklärt v. Podbielski, daß von einer fundamentalen Um-
geſtaltung des Pakettarifs nicht die Rede ſei, ſondern nur
von einer Aenderung der Tarife für die mehr als 5 Pfund
ſchweren Pakete. Erſt müßten aber die beſchloſſenen Geſetze
zur Durchführung gebracht werden.

Zur Einführung des Poſtſcheckverkehrs erklärt

Staatsſekretär des Reichsſchatzamts Frhr. v. Thiel-
mann
(ſchwer verſtändlich):

Der Einnahmeausfall bei der
Poſtverwaltung wird durch die zum Scheckverkehr gefaßten
Beſchlüſſe noch vermehrt werden. Bleiben dieſe Beſchlüſſe be-
ſtehen, ſo wird die Einführung des Scheckverkehrs ſtarken
Bedenken unterliegen und die Regierungen müſſen ſich volle
Freiheit der Entſchließung vorbehalten, ob ſie von der im
Etatsgeſetz ertheilten Befugniß Gebrauch machen werden.

(Bewegung links.)

Beim Etat der Zölle und Verbrauchsſteuern liegt
ein Antrag des Abg. Broemel (Frſ. Vgg.) vor, die Zoll-
freiheit für Schiffsbaumaterialien aufzuheben, ferner ein An-
trag des Abg. Bargmann (Frſ. Vp.) über das Saccharin-
geſetz; beide Anträge werden ſpäter für ſich ſelbſtändig be-
handelt werden.

Abg. Rickert:

Finauzminiſter v. Miquel hat mir oft-
mals zugegeben, daß die gemiſchten Tranſitlager unentbehr-
lich ſeien.

Abg. Graf Klinckowſtröm (konſ.):

Die geſammte oſt-
preußiſche Landwirthſchaft hat ſich für die Aufhebung aus-
geſprochen. Die Intereſſen der Seeſtädte werden durch die
reinen Tranſitlager genügend gewahrt, während das ge-
miſchte Tranſitlager den Charakter der Spekulation trägt.

Staatsſekretär v. Thielmann:

Graf Kanitz hat 1895
noch ſelbſt zugegeben, daß die abſolute Aufhebung die
Handelsintereſſen der Seeſtädte ſchädigen müßte. Heute würde
er vielleicht dieſen Standpunkt nicht vertreten, aber die Herren,
deren Standpunkt ſich ſelbſt derart verſchiebt, können nicht
verlangen, daß die Regierungen jeder ſolchen Verſchiebung
ſofort ihrerſeits folgen.

Der Etat und das Etatsgeſetz werden angenommen,
ebenſo die zum Etat vorgeſchlagenen Reſolutionen mit Aus-
nahme derjenigen auf Herabſetzung der Patentgebühren.

Die Sitzung ſchließt um 5¼ Uhr. Die nächſte Sitzung
wird auf Dienſtag, den 24. April, 2 Uhr, anberaumt. Auf
die Tagesordnung ſetzt der Präſident die Literarkon-
vention mit Oeſterreich
und das Seuchengeſetz.



[Spaltenumbruch]
Deutſches Reich.
Vom Tage.

Tel. Die Generaldevatte über
die Flottenvorlage in der Budgetkommiſſion
dürfte morgen zu Ende geführt werden. Nach allem, was
bis jetzt darüber bekannt geworden iſt, ſind gute Aus-
ſichten für eine Durchbringung der Vorlage vorhanden.

Die Nachricht, daß anläßlich der Verlobung des
Prinzen Max von Baden mit der Prinzeſſin
von Cumberland
telegraphiſch herzliche Glückwünſche
zwiſchen dem Kaiſer und dem Herzog von Cumber-
land
ausgetauſcht wurden, entſpricht den Thatſachen.
Indeſſen iſt es als völlig ausgeſchloſſen zu betrachten,
daß ſich aus dieſem Akt der Konzilianz irgend eine Ver-
änderung in der Auffaſſung der braunſchweigiſchen
Frage
ſeitens der betheiligten Kreiſe ergibt.

Ein Berliner Blatt hatte ſich kürzlich aus St. Peters-
burg
über gewiſſe Mißhelligkeiten berichten laſſen, die
zwiſchen dem Großfürſten Wladimir und ſeiner Ge-
mahlin Maria Paulowna einerſeits und dem deut-
ſchen Botſchafter, Fürſten Radolin,
andrerſeits
dadurch entſtanden ſeien, daß Fürſt Radolin bei der
Großfürſtin über ein ſehr wenig angebrachtes Scherzwort
ihres Gemahls Beſchwerde geführt habe, worauf die hohe
Dame in ſcharfem Tone replizirt und u. a. bemerkt haben
ſolle, der Fürſt habe in ihr nicht die deutſche Prinzeſſin,
ſondern die ruſſiſche Großfürſtin zu ſehen. Es mag dahin-
geſtellt bleiben, ob dieſe Darſtellung, die mehrfach mit ge-
wiſſen, von maßgebender Seite bereits in aller Form
dementirten Gerüchten über einen Botſchafterwechſel in
St. Petersburg in Zuſammenhang gebracht wurde, völlig
den Thatſachen entſpricht. Sie rundweg ins Gebiet gegen-
ſtandsloſen Klatſches zu verweiſen, iſt indeſſen nicht wohl
angebracht. Immerhin dürfte ſich, falls der „Figaro“
recht mit der Behauptung hat, daß die Großfürſtin Maria
Paulowna äußerte, ſie hoffe bei ihrer Rückkehr nach
St. Petersburg einen anderen deutſchen Botſchafter zu
finden, dieſe Erwartung im Hinblick auf das bisherige
Eintreten der deutſchen Regierung für den Fürſten Radolin
als trügeriſch erweiſen.

Verhandlungen der Budgetkommiſſion über die Flotten-Vorlage.

Tel. Bei der heute fortgeſetzten
Berathung der Novelle zum Flottengeſetz in der
Budgetkommiſſion des Reichstags wurde in der ver-
traulichen Erörterung der Fragen betr. die Nothwendig-
keit und den Umfang der Flottenvermehrung fortgefahren.
Die Details der Beſprechung entziehen ſich demgemäß der
Wiedergabe, doch darf das Nachſtehende hervorgehoben
werden.

Abg. Bebel (Soz.) würdigte die politiſche Lage Deutſch-
lands inmitten der übrigen Völker. Er glaubt, daß ſie die
verlangte Erweiterung der Flotte nicht rechtfertige. Einen
abſoluten Schutz des Handels im Kriege gewährleiſte auch
eine ſtärkere Flotte nicht. Der deutſche Handel werde im
Kriege überhaupt nicht wagen, den überſeeiſchen Betrieb auf-
rechtzuerhalten. Er gelangt demgemäß zur Ablehnung der
Vorlage. — Abg. Graf Stolberg-Wernigerode (konſ.)
legt dar, daß dem Geſetze jede aggreſſive Tendenz fern liege.
In der wirthſchaftlichen Entwicklung Deutſchlands lägen
jedoch Reibungsmöglichkeiten in großer Menge. Mit
ſchwachen Rüſtungen ſich begnügen zu wollen weil die
möglichen Gegner doch ſtärker ſein würden entſpräche
nicht einer vorausſehenden Politik, es müſſe vielmehr ge-
ſchehen, was den Kräften der Nation entſpreche. Deß-
halb ſei er für die Vorlage. — In ähnlichem Sinne ſpricht
ſich Abg. Baſſermann (nat.-lib.) aus. — Abg. Richter
(Freiſ. Volksp.) hält die Lage im Vergleich zu 1897, wo das
erſte Flottengeſetz vorgelegt wurde, für nicht weſentlich ver-
ändert. Fürſt Bismarck habe im Jahre 1885 ſeinen Stand-
punkt zur Flotte dahin gekennzeichnet, daß Deutſchland mit
den großen Seemächten nicht wetteifern ſolle. Noch 1897
habe er eine „gute Anſtandsflotte“ für Deutſchland als aus-
reichend erachtet In den zur Zeit beſtehenden Macht-
ver hältniſſen der Völker liege eine gute Garantie für die
Fortdauer friedlicher Verhältniſſe. Er gelange zur Ablehnung
der Novelle umſomehr, als ſie Projekte enthalte für eine Zu-
kunft, welche ſich in keiner Weiſe überſehen laſſe. — Abg.

[Spaltenumbruch]

Augen ſingen und ſpielen, um bei der Aufführung ihre
Blindheit glaubwürdig zu machen.

Daß Hans Richter, der ausgezeichnete Kapellmeiſter,
Wien, die Stätte ſeines Ruhms, für immer verläßt, wird
tief bedauert. Wer kann in das Herz des Menſchen
ſchauen, um den wahren Grund dieſer Trennung zu er-
rathen?

Wien iſt nicht nur eine Muſikſtadt; ſie beginnt ein
zweites München zu werden; denn die Maler regen ſich
allgewaltig, die Alten und die Jungen!

Die feierliche Eröffnung der Frühjahrsausſtellung
im Künſtlerhauſe, dem Heim der Alten, geſtaltete ſich
wie alljährlich zu einem glänzenden Feſte. Elegante
Damen in den modernſten Frühjahrstoiletten ſtrömten zu
den Hallen der Kunſt, mehr, um geſehen zu werden, als
um ſelbſt zu ſehen. Man ſah vor lauter Bäumen nicht
den Wald; vor lebendigen Bildern nicht die gemalten.
Alles drängte zu dem Vordergrund, um den Kaiſer zu
ſehen, der mit gewohntem, bewunderungswürdigem Pflicht-
eifer und ſichtlichem Intereſſe die Bilder in Augenſchein
nahm. Ihn begleiteten der Thronfolger, Erzherzog Franz
Ferdinand Eſte, den die Fama ſchon verheirathet hat —
und Erzherzog Eugen, der Stiefbruder der Prinzeſſin
Ludwig von Bayern, eine ſchöne, ritterliche Erſcheinung.
Er gilt als einer der kunſtſinnigſten Prinzen.

Es geht ein friſcher Luftzug durch das Künſtlerhaus.
Auch dekorativ leiſtet es jetzt mehr als früher. Man
ſieht, die Nachbarin Sezeſſion gibt ihm zu ſchaffen. Es
will nicht zurückbleiben im Wettkampfe um die Sieges-
palme.

Drüben iſt mehr Farbe, mehr Harmonie und Stim-
mung in der Ausſchmückung der Säle. Auch die Rahmen
der Bilder ſind ſtilvoller, der ſchwere Goldrahmen, dem
wir im Künſtlerhaus ſo häufig begegnen, iſt in der Se-
zeſſion faſt gänzlich verſchwunden.

Das Wiener Publikum ſteht der Sezeſſion nicht mehr
ſkeptiſch gegenüber, nur für die rothhaarigen, ätheriſchen
Frauengeſtalten hat es kein Verſtändniß. Sie ſtehen zu
ſehr im Kontraſt zu den zwar auf ſezeſſioniſtiſche Taille
ſchwörenden, aber ſonſt lebensvollen, üppigen Wienerinnen.
[Spaltenumbruch] Ganz merkwürdig iſt es, daß der Altmeiſter der Mal-
kunſt, der Aquarelliſt Rudolf Alt, in einer ſtarken oder
ſchwachen Stunde ſeinen Namen auf die Fahne der Se-
zeſſion geſchrieben hat. Es wird eine Zeit kommen, wo
alt und jung ſich wieder vereinigen wird! Wer hätte
vor zwei Jahren geglaubt, daß der hypermoderne Strath-
mann bei den Alten und Rudolf Alt bei den Jungen
heimiſch werden könnten!

Iſt es nicht ein eigenthümlicher Zug der Zeit, daß,
je tiefer das politiſche Leben ſinkt, das Künſtleriſche deſto
höher ſteigt. Seit langem herrſchte bei uns kein ſo reges
geiſtiges Leben, wie jetzt. Auch Frau Caritas profitirt
davon — und da Hut ab! ſtehen unſre Frauen an der
Spitze! Die Modeausſtellung dient etwa nicht nur der
frivolen Göttin Mode, ſondern auch hauptſächlich dem
Gewerbe in den verſchiedenſten Zweigen. Frau Eitelkeit
ſpielt natürlich mit, denn was wäre die Mode ohne die
Eitelkeit des weiblichen Geſchlechts? Die ſchönen Frauen,
welche in der Ausſtellung in ſchönen Toiletten die Gäſte
empfangen, wiſſen ganz gut, welche Anziehungskraft ſie
ausüben. Wir ſehen die reizende Gemahlin des Statt-
halters, Gräfin Kielmansegg — als Präſidentin, die
Hofſchauſpielerin Frau Schratt als Vizepräſidentin. Frau
Schratt mit ihrer geſunden Weltanſchanung und ihrem
liebenswürdigen Humor weiß ganz gut, daß ſie ſelbſt
noch viel anziehender iſt, als ihre geſchmackvolle Toilette.
Frau Odilon vom Volkstheater repräſentirt die Pikan-
terie, Gräfin Kinsky-Palmay den Chic u. ſ. w. — Attri-
bute, die mit der Mode Hand in Hand gehen. Die aus-
geſtellten Toiletten dienen den Damen als Folie. Der
Hochzeitszug aus reizenden Wachspuppen iſt der Clon der
Ausſtellung.

Draußen in den Sophien-Sälen, wo vor wenigen
Wochen die weiße Redoute ihren Zauberſpuk getrieben
hatte, ſind nun kleine, trauliche Interieurs geſchaffen
worden, ſozuſagen kleine Theeſalons, wo Damen aus der
Geſellſchaft ihre jours halten und zu wohlthätigen Zwecken
eine Taſſe Thee kredenzen.

Der Wiener beſitzt einen eigenen, vielleicht nicht ganz
ſalonfähigen, aber ſehr bezeichnenden Ausdruck für eine
[Spaltenumbruch] gewiſſe Art eleganten Raubritterthums, ein Spekuliren auf
die Gutmüthigkeit und den Wohlthätigkeitsſinn der Be-
kannten und Freunde, ja auch der gänzlich Fremden.
Das ſchöne Wort heißt: Wurzen — und das gutmüthige
Opfer: eine gute Wurzen. Die Etymologie dieſes inter-
eſſanten Wortes findet man weder in Heyſe’s Grammatik
noch in deſſen Fremdwörterbuch; und ich könnte dieſelbe
auch nicht erklären. Beim „Wurzen“ fallen alle geſell-
ſchaftlichen und konfeſſionellen Schranken.

Wir feierten in dieſen Tagen einen Siebzigjährigen,
aber in wehmüthiger Stille, um nicht die Wunde aufzu-
reißen, die ihm der Tod ſeiner geliebten Gattin vor zwei
Wochen geſchlagen. Es iſt dies der Chef des General-
ſtabs der gemeinſamen Armee, Feldzeugmeiſter Frhr.
v. Beck, einer der populärſten Generale Oeſterreichs, der
ſich auch des beſonderen Wohlwollens ſeines oberſten
Kriegsherrn, des Kaiſers, erfreut. Wie populär der noch
vollkommen rüſtige, unermüdlich thätige General iſt, be-
wies die ungeheure Theilnahme an dem ſchweren Verluſt,
den er und ſein Sohn, ein ausgezeichneter Generalſtabs-
offizier, erlitten. Die verſtorbene Baronin Beck war eine
vornehme Franenerſcheinung. Obwohl eine hohe Stellung
in der Geſellſchaft einnehmend, lebte ſie gänzlich zurück-
gezogen, nur ihren Pflichten als Gattin und Mutter und
der Pflege des Edlen und Schönen. So lange ſie lebte,
galt für ſie jener bekannte Ausſpruch Napoleons: „Die
Frau iſt die beſte, von welcher am wenigſten geſprochen
wird.“ Nach ihrem Tode wurden viele Stimmen des
Lobes über ſie laut.

Der Rubikon iſt überſchritten: Kronprinzeſſin Stephanie
iſt Gräfin Lonyay geworden. Viele ſtehen in Oeſterreich
dem Glücke der Gräfin Lonyay ſkeptiſch gegenüber, der
vollſtändige Umſchwung der Verhältniſſe, die Zwitterſtellung,
die Trennung von ihrer Tochter — all dieſes zu über-
winden, dazu gehört viel Heroismus und Charakterſtärke.
Man glaubt nicht mehr an die romantiſche Liebe, von
welcher Ranpach ſchön ſagt: „Entſchloſſenheit zum ſchwerſten
Opfer iſt der Liebe Ruhm und höchſte Offenbarung.“

Verus.



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</TEI>
[2/0002] München, Donnerſtag Allgemeine Zeitung 29. März 1900. Nr. 86. doch nicht anders beſchaffen ſein als das, was im Durch- ſchnitt im Handel vorkommt. Gerade heute, wo die Fleiſch- beſchau vielleicht doch noch vor der Thür ſtehe und die Flottenvorlage vielleicht doch noch Geſetz werde, ſolle die Marineverwaltung ſich der Sache recht gründlich annehmen. Staatsſekretär des Reichsmarineamts Tirpitz: Allge- mein iſt die Marineverwaltung jetzt ſchon beſtrebt, Konſerven deutſchen Herkommens zu nehmen. Die Schiffe müſſen, wenn ſie im Ausland ſind, nehmen, was dort an Proviant zu haben iſt, daran können wir nichts ändern. In Betracht kommt nur die Verproviantirung der Schiffe in der Heimath. Bei weitem der größte Theil der Verproviantirung iſt deutſcher Herkunft. Unſre Schiffe haben Selbſtverpflegung, d. h. es wird ihnen ein gewiſſes Geldquantum bewilligt, womit ſie auszukommen haben; was ſie damit machen, iſt Sache der Menagekommiſſion an Bord des Schiffes und der kann man nicht gut Vorſchriften machen. Direkte Klagen in dieſer Richtung ſind nicht laut geworden. Beim Einkauf der Menage werden Stichproben genommen. Sollte das fremde Fleiſch aus ſanitären Gründen nicht eingeführt werden dürfen, ſo wird ſelbſtverſtändlich auch die Marineverwaltung ſich danach richten. Jetzt liegt noch kein Anlaß vor, die Selbſtverpflegung einzuſchränken. Abg. Oertel: Wenn das Fleiſchbeſchangeſetz in wenigen Monaten wirklich Geſetz wird, dann kann doch die Ver- waltung dieſes Büchſenfleiſch nicht mehr verwenden. Warum ſoll ſie dieſes ununterſuchbare und möglicherweiſe geſund- heitsgefährliche Fleiſch nicht jetzt ſchon ausmerzen können? Wenn es ſich nur um 60,000 M. handelt, um ſo beſſer! Der Staatsſekretär ſollte ſich nicht hinter die Unabhängigkeit der Schiffsmenagen verſchanzen. Der preußiſche Kriegsminiſter kann ſolche Anweiſungen an die Menageverwaltungen auch nicht erlaſſen, hat ſie aber darauf hingewieſen, daß das Staats- intereſſe den unmittelbaren Einkauf bei den Produzenten em- pfehle, und viele Menageverwaltungen ſind denn auch dazu übergegangen. Ich habe an meinem eigenen Leib empfunden, daß das amerikaniſche Büchſenfleiſch bedeukliche Wirkungen hat. (Große Heiterkeit links.) Ob die marineamtliche Unter- ſuchung des Büchſenfleiſches genügt, bezweifle ich. Der Marine-Etat wird genehmigt. Beim Etat der Reichsjuſtizverwaltung fragt Abg. Böckel (Antiſemit) nach dem Stand der längſt geforderten Reform der Anwaltsgebührenordnung, bittet, für Herabſetzung der Gerichtskoſten zu ſorgen, und befürwortet, den Anwaltszwang abzuſchaffen. Staatsſekretär der Juſtiz Nieberding: Die urſprüng- lichen Sätze unſrer Gerichtsgebührenordnung haben ſchon anfangs der 80 er Jahre eine Ermäßigung gefunden. Eine ſpätere Vorlage über die Anwaltsgebührenermäßigung fand nicht die Zuſtimmung des Hauſes. Die ganze Frage iſt ſeit- dem liegen geblieben. Es wird auch noch weiterer praktiſcher Erfahrungen bedürfen, ehe man an die Frage wieder herantreten kann. Eine Aenderung des Anwaltszwanges iſt bisher bei den Regierungen nicht in Anregung gekommen. Beim Etat des Reichseiſenbahnamts kommt Abg. Graf Kanitz (konſ.) auf die bei der zweiten Leſung gewünſchte Aufhebung der Kohlenausfuhrtarife in den Reichslanden zurück. Auch für Roheiſen und Stahl müſſe der beſtehende Ausfuhrtarif beſeitigt werden Die hohen Eiſenpreiſe, die infolge der Eiſennoth eingetreten ſeien, fielen außerordentlich ſchwer ins Gewicht. Die Verringerung des Eiſenkonſums ſei eine Kalamität für das ganze Land. Die Vermehrung des Flottenbeſtandes würde den Eiſenver- brauch in Deutſchland ganz enorm ſteigern und da dürfte man die Eiſenpreiſe nicht durch künſtlichen Export noch weiter ſteigern. Das Reichseiſenbahnamt müſſe ſein Augenmerk darauf richten, den Maſſenexport von Eiſen ſo zu reguliren, daß Deutſchland dabei zu ſeinem Recht kommt. Präſident des Reichseiſenbahnamts Dr. Schulz: Der Reichskanzler hat eine gemeinſame Erörterung der wichtigen, wirthſchaftlich bedeutſamen Frage der Aufhebung der er- mäßigten Kohlenausfuhrtarife veranlaßt. Ich habe mich dem- gemäß zunächſt mit dem preußiſchen Eiſenbahnminiſter ins Benehmen geſetzt. Die preußiſchen Ermittelungen ſind abge- ſchloſſen und der Landeseiſenbahnrath wird ſein Gutachten darüber abgegeben haben. Auch die anderen Regierungen ſind von dem Amte erſucht worden, die dem Zwecke dienlichen Ermittlungen anzuſtellen. Daß die Preiſe der Kohlen, die von der Saar nach Frankreich und der Schweiz ausgeführt werden, weit billiger ſind, als die für die im Inlande ver- bleibenden Kohlen, entſpricht nicht den Thatſachen. Die Preiſe der Saarkohlen nach Frankreich, der Schweiz und Italien werden nach eingeholter Auskunft nicht niedriger, ſondern höher gehalten als die für den inländiſchen Verbrauch. Was die Roheiſenausfuhrtarife betrifft, ſo haben die ermäßigten Frachtſätze nicht unweſentlich dazu beigetragen, der deutſchen Eiſeninduſtrie den außerordentlich ſchwierigen Wettbewerb auf dem Weltmarkt zu erleichtern. Inländiſche Intereſſen ſind dadurch meines Wiſſens nicht geſchädigt worden. Jedenfalls liegen die Verhältniſſe bezüglich des Eiſens noch ſchwieriger, als bezüglich der Kohlen. Beim Etat der Reichspoſt- und Telegraphen- verwaltung beſchwert ſich Abg. Liebermann v. Sonnenberg (deutſch-ſoz. Reformp.) darüber, daß in Straßburg im Elſaß die Bewerbung einer Vereinigung von Schneidermeiſtern um die ausge- ſchriebene Lieferung von Bekleidungsgegenſtänden für Poſt- beamte von der Oberpoſtdirektion zurückgewieſen worden ſei, obwohl ſie den abgegebenen Submiſſionsbedingungen durch- aus entſprochen hätte. Den Zuſchlag habe ſchließlich keine Straßburger Firma, ſondern die Firma Sachs in Berlin er- halten, weil ſie die billigſte geweſen ſei. Dieſer Firma gegen- über komme eine ſehr große Anzahl von Handwerksmeiſtern und Innungen im Deutſchen Reich ſehr zu kurz, denn die Firma liefere für eine große Anzahl von Orten. Staatsſekretär des Reichspoſtamts v. Podbielski: Prinzipiell iſt jeder Oberpoſtdirektionsbezirk ſelbſtändig. Natur- gemäß behauptet bei jeder Submiſſion der nicht Berückſichtigte, das beſte Material gehabt zu haben. Wir haben ein vitales Intereſſe daran, daß die Kleidung nicht zu theuer wird, denn die Unterbeamten haben dabei etwa ein Siebentel bis ein Achtel zuzuſchießen. Ich habe ſelbſtverſtändlich keinen Einfluß darauf geübt, daß der Lieferant Sachs bevorzugt wurde. Auf eine Anfrage des Abg. Braeſicke (Freiſ. Volksp.) erklärt v. Podbielski, daß von einer fundamentalen Um- geſtaltung des Pakettarifs nicht die Rede ſei, ſondern nur von einer Aenderung der Tarife für die mehr als 5 Pfund ſchweren Pakete. Erſt müßten aber die beſchloſſenen Geſetze zur Durchführung gebracht werden. Zur Einführung des Poſtſcheckverkehrs erklärt Staatsſekretär des Reichsſchatzamts Frhr. v. Thiel- mann (ſchwer verſtändlich): Der Einnahmeausfall bei der Poſtverwaltung wird durch die zum Scheckverkehr gefaßten Beſchlüſſe noch vermehrt werden. Bleiben dieſe Beſchlüſſe be- ſtehen, ſo wird die Einführung des Scheckverkehrs ſtarken Bedenken unterliegen und die Regierungen müſſen ſich volle Freiheit der Entſchließung vorbehalten, ob ſie von der im Etatsgeſetz ertheilten Befugniß Gebrauch machen werden. (Bewegung links.) Beim Etat der Zölle und Verbrauchsſteuern liegt ein Antrag des Abg. Broemel (Frſ. Vgg.) vor, die Zoll- freiheit für Schiffsbaumaterialien aufzuheben, ferner ein An- trag des Abg. Bargmann (Frſ. Vp.) über das Saccharin- geſetz; beide Anträge werden ſpäter für ſich ſelbſtändig be- handelt werden. Abg. Rickert: Finauzminiſter v. Miquel hat mir oft- mals zugegeben, daß die gemiſchten Tranſitlager unentbehr- lich ſeien. Abg. Graf Klinckowſtröm (konſ.): Die geſammte oſt- preußiſche Landwirthſchaft hat ſich für die Aufhebung aus- geſprochen. Die Intereſſen der Seeſtädte werden durch die reinen Tranſitlager genügend gewahrt, während das ge- miſchte Tranſitlager den Charakter der Spekulation trägt. Staatsſekretär v. Thielmann: Graf Kanitz hat 1895 noch ſelbſt zugegeben, daß die abſolute Aufhebung die Handelsintereſſen der Seeſtädte ſchädigen müßte. Heute würde er vielleicht dieſen Standpunkt nicht vertreten, aber die Herren, deren Standpunkt ſich ſelbſt derart verſchiebt, können nicht verlangen, daß die Regierungen jeder ſolchen Verſchiebung ſofort ihrerſeits folgen. Der Etat und das Etatsgeſetz werden angenommen, ebenſo die zum Etat vorgeſchlagenen Reſolutionen mit Aus- nahme derjenigen auf Herabſetzung der Patentgebühren. Die Sitzung ſchließt um 5¼ Uhr. Die nächſte Sitzung wird auf Dienſtag, den 24. April, 2 Uhr, anberaumt. Auf die Tagesordnung ſetzt der Präſident die Literarkon- vention mit Oeſterreich und das Seuchengeſetz. Deutſches Reich. Vom Tage. _ Berlin, 28. März. Tel. Die Generaldevatte über die Flottenvorlage in der Budgetkommiſſion dürfte morgen zu Ende geführt werden. Nach allem, was bis jetzt darüber bekannt geworden iſt, ſind gute Aus- ſichten für eine Durchbringung der Vorlage vorhanden. Die Nachricht, daß anläßlich der Verlobung des Prinzen Max von Baden mit der Prinzeſſin von Cumberland telegraphiſch herzliche Glückwünſche zwiſchen dem Kaiſer und dem Herzog von Cumber- land ausgetauſcht wurden, entſpricht den Thatſachen. Indeſſen iſt es als völlig ausgeſchloſſen zu betrachten, daß ſich aus dieſem Akt der Konzilianz irgend eine Ver- änderung in der Auffaſſung der braunſchweigiſchen Frage ſeitens der betheiligten Kreiſe ergibt. Ein Berliner Blatt hatte ſich kürzlich aus St. Peters- burg über gewiſſe Mißhelligkeiten berichten laſſen, die zwiſchen dem Großfürſten Wladimir und ſeiner Ge- mahlin Maria Paulowna einerſeits und dem deut- ſchen Botſchafter, Fürſten Radolin, andrerſeits dadurch entſtanden ſeien, daß Fürſt Radolin bei der Großfürſtin über ein ſehr wenig angebrachtes Scherzwort ihres Gemahls Beſchwerde geführt habe, worauf die hohe Dame in ſcharfem Tone replizirt und u. a. bemerkt haben ſolle, der Fürſt habe in ihr nicht die deutſche Prinzeſſin, ſondern die ruſſiſche Großfürſtin zu ſehen. Es mag dahin- geſtellt bleiben, ob dieſe Darſtellung, die mehrfach mit ge- wiſſen, von maßgebender Seite bereits in aller Form dementirten Gerüchten über einen Botſchafterwechſel in St. Petersburg in Zuſammenhang gebracht wurde, völlig den Thatſachen entſpricht. Sie rundweg ins Gebiet gegen- ſtandsloſen Klatſches zu verweiſen, iſt indeſſen nicht wohl angebracht. Immerhin dürfte ſich, falls der „Figaro“ recht mit der Behauptung hat, daß die Großfürſtin Maria Paulowna äußerte, ſie hoffe bei ihrer Rückkehr nach St. Petersburg einen anderen deutſchen Botſchafter zu finden, dieſe Erwartung im Hinblick auf das bisherige Eintreten der deutſchen Regierung für den Fürſten Radolin als trügeriſch erweiſen. Verhandlungen der Budgetkommiſſion über die Flotten-Vorlage. * Berlin, 28. März. Tel. Bei der heute fortgeſetzten Berathung der Novelle zum Flottengeſetz in der Budgetkommiſſion des Reichstags wurde in der ver- traulichen Erörterung der Fragen betr. die Nothwendig- keit und den Umfang der Flottenvermehrung fortgefahren. Die Details der Beſprechung entziehen ſich demgemäß der Wiedergabe, doch darf das Nachſtehende hervorgehoben werden. Abg. Bebel (Soz.) würdigte die politiſche Lage Deutſch- lands inmitten der übrigen Völker. Er glaubt, daß ſie die verlangte Erweiterung der Flotte nicht rechtfertige. Einen abſoluten Schutz des Handels im Kriege gewährleiſte auch eine ſtärkere Flotte nicht. Der deutſche Handel werde im Kriege überhaupt nicht wagen, den überſeeiſchen Betrieb auf- rechtzuerhalten. Er gelangt demgemäß zur Ablehnung der Vorlage. — Abg. Graf Stolberg-Wernigerode (konſ.) legt dar, daß dem Geſetze jede aggreſſive Tendenz fern liege. In der wirthſchaftlichen Entwicklung Deutſchlands lägen jedoch Reibungsmöglichkeiten in großer Menge. Mit ſchwachen Rüſtungen ſich begnügen zu wollen weil die möglichen Gegner doch ſtärker ſein würden entſpräche nicht einer vorausſehenden Politik, es müſſe vielmehr ge- ſchehen, was den Kräften der Nation entſpreche. Deß- halb ſei er für die Vorlage. — In ähnlichem Sinne ſpricht ſich Abg. Baſſermann (nat.-lib.) aus. — Abg. Richter (Freiſ. Volksp.) hält die Lage im Vergleich zu 1897, wo das erſte Flottengeſetz vorgelegt wurde, für nicht weſentlich ver- ändert. Fürſt Bismarck habe im Jahre 1885 ſeinen Stand- punkt zur Flotte dahin gekennzeichnet, daß Deutſchland mit den großen Seemächten nicht wetteifern ſolle. Noch 1897 habe er eine „gute Anſtandsflotte“ für Deutſchland als aus- reichend erachtet In den zur Zeit beſtehenden Macht- ver hältniſſen der Völker liege eine gute Garantie für die Fortdauer friedlicher Verhältniſſe. Er gelange zur Ablehnung der Novelle umſomehr, als ſie Projekte enthalte für eine Zu- kunft, welche ſich in keiner Weiſe überſehen laſſe. — Abg. Augen ſingen und ſpielen, um bei der Aufführung ihre Blindheit glaubwürdig zu machen. Daß Hans Richter, der ausgezeichnete Kapellmeiſter, Wien, die Stätte ſeines Ruhms, für immer verläßt, wird tief bedauert. Wer kann in das Herz des Menſchen ſchauen, um den wahren Grund dieſer Trennung zu er- rathen? Wien iſt nicht nur eine Muſikſtadt; ſie beginnt ein zweites München zu werden; denn die Maler regen ſich allgewaltig, die Alten und die Jungen! Die feierliche Eröffnung der Frühjahrsausſtellung im Künſtlerhauſe, dem Heim der Alten, geſtaltete ſich wie alljährlich zu einem glänzenden Feſte. Elegante Damen in den modernſten Frühjahrstoiletten ſtrömten zu den Hallen der Kunſt, mehr, um geſehen zu werden, als um ſelbſt zu ſehen. Man ſah vor lauter Bäumen nicht den Wald; vor lebendigen Bildern nicht die gemalten. Alles drängte zu dem Vordergrund, um den Kaiſer zu ſehen, der mit gewohntem, bewunderungswürdigem Pflicht- eifer und ſichtlichem Intereſſe die Bilder in Augenſchein nahm. Ihn begleiteten der Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand Eſte, den die Fama ſchon verheirathet hat — und Erzherzog Eugen, der Stiefbruder der Prinzeſſin Ludwig von Bayern, eine ſchöne, ritterliche Erſcheinung. Er gilt als einer der kunſtſinnigſten Prinzen. Es geht ein friſcher Luftzug durch das Künſtlerhaus. Auch dekorativ leiſtet es jetzt mehr als früher. Man ſieht, die Nachbarin Sezeſſion gibt ihm zu ſchaffen. Es will nicht zurückbleiben im Wettkampfe um die Sieges- palme. Drüben iſt mehr Farbe, mehr Harmonie und Stim- mung in der Ausſchmückung der Säle. Auch die Rahmen der Bilder ſind ſtilvoller, der ſchwere Goldrahmen, dem wir im Künſtlerhaus ſo häufig begegnen, iſt in der Se- zeſſion faſt gänzlich verſchwunden. Das Wiener Publikum ſteht der Sezeſſion nicht mehr ſkeptiſch gegenüber, nur für die rothhaarigen, ätheriſchen Frauengeſtalten hat es kein Verſtändniß. Sie ſtehen zu ſehr im Kontraſt zu den zwar auf ſezeſſioniſtiſche Taille ſchwörenden, aber ſonſt lebensvollen, üppigen Wienerinnen. Ganz merkwürdig iſt es, daß der Altmeiſter der Mal- kunſt, der Aquarelliſt Rudolf Alt, in einer ſtarken oder ſchwachen Stunde ſeinen Namen auf die Fahne der Se- zeſſion geſchrieben hat. Es wird eine Zeit kommen, wo alt und jung ſich wieder vereinigen wird! Wer hätte vor zwei Jahren geglaubt, daß der hypermoderne Strath- mann bei den Alten und Rudolf Alt bei den Jungen heimiſch werden könnten! Iſt es nicht ein eigenthümlicher Zug der Zeit, daß, je tiefer das politiſche Leben ſinkt, das Künſtleriſche deſto höher ſteigt. Seit langem herrſchte bei uns kein ſo reges geiſtiges Leben, wie jetzt. Auch Frau Caritas profitirt davon — und da Hut ab! ſtehen unſre Frauen an der Spitze! Die Modeausſtellung dient etwa nicht nur der frivolen Göttin Mode, ſondern auch hauptſächlich dem Gewerbe in den verſchiedenſten Zweigen. Frau Eitelkeit ſpielt natürlich mit, denn was wäre die Mode ohne die Eitelkeit des weiblichen Geſchlechts? Die ſchönen Frauen, welche in der Ausſtellung in ſchönen Toiletten die Gäſte empfangen, wiſſen ganz gut, welche Anziehungskraft ſie ausüben. Wir ſehen die reizende Gemahlin des Statt- halters, Gräfin Kielmansegg — als Präſidentin, die Hofſchauſpielerin Frau Schratt als Vizepräſidentin. Frau Schratt mit ihrer geſunden Weltanſchanung und ihrem liebenswürdigen Humor weiß ganz gut, daß ſie ſelbſt noch viel anziehender iſt, als ihre geſchmackvolle Toilette. Frau Odilon vom Volkstheater repräſentirt die Pikan- terie, Gräfin Kinsky-Palmay den Chic u. ſ. w. — Attri- bute, die mit der Mode Hand in Hand gehen. Die aus- geſtellten Toiletten dienen den Damen als Folie. Der Hochzeitszug aus reizenden Wachspuppen iſt der Clon der Ausſtellung. Draußen in den Sophien-Sälen, wo vor wenigen Wochen die weiße Redoute ihren Zauberſpuk getrieben hatte, ſind nun kleine, trauliche Interieurs geſchaffen worden, ſozuſagen kleine Theeſalons, wo Damen aus der Geſellſchaft ihre jours halten und zu wohlthätigen Zwecken eine Taſſe Thee kredenzen. Der Wiener beſitzt einen eigenen, vielleicht nicht ganz ſalonfähigen, aber ſehr bezeichnenden Ausdruck für eine gewiſſe Art eleganten Raubritterthums, ein Spekuliren auf die Gutmüthigkeit und den Wohlthätigkeitsſinn der Be- kannten und Freunde, ja auch der gänzlich Fremden. Das ſchöne Wort heißt: Wurzen — und das gutmüthige Opfer: eine gute Wurzen. Die Etymologie dieſes inter- eſſanten Wortes findet man weder in Heyſe’s Grammatik noch in deſſen Fremdwörterbuch; und ich könnte dieſelbe auch nicht erklären. Beim „Wurzen“ fallen alle geſell- ſchaftlichen und konfeſſionellen Schranken. Wir feierten in dieſen Tagen einen Siebzigjährigen, aber in wehmüthiger Stille, um nicht die Wunde aufzu- reißen, die ihm der Tod ſeiner geliebten Gattin vor zwei Wochen geſchlagen. Es iſt dies der Chef des General- ſtabs der gemeinſamen Armee, Feldzeugmeiſter Frhr. v. Beck, einer der populärſten Generale Oeſterreichs, der ſich auch des beſonderen Wohlwollens ſeines oberſten Kriegsherrn, des Kaiſers, erfreut. Wie populär der noch vollkommen rüſtige, unermüdlich thätige General iſt, be- wies die ungeheure Theilnahme an dem ſchweren Verluſt, den er und ſein Sohn, ein ausgezeichneter Generalſtabs- offizier, erlitten. Die verſtorbene Baronin Beck war eine vornehme Franenerſcheinung. Obwohl eine hohe Stellung in der Geſellſchaft einnehmend, lebte ſie gänzlich zurück- gezogen, nur ihren Pflichten als Gattin und Mutter und der Pflege des Edlen und Schönen. So lange ſie lebte, galt für ſie jener bekannte Ausſpruch Napoleons: „Die Frau iſt die beſte, von welcher am wenigſten geſprochen wird.“ Nach ihrem Tode wurden viele Stimmen des Lobes über ſie laut. Der Rubikon iſt überſchritten: Kronprinzeſſin Stephanie iſt Gräfin Lonyay geworden. Viele ſtehen in Oeſterreich dem Glücke der Gräfin Lonyay ſkeptiſch gegenüber, der vollſtändige Umſchwung der Verhältniſſe, die Zwitterſtellung, die Trennung von ihrer Tochter — all dieſes zu über- winden, dazu gehört viel Heroismus und Charakterſtärke. Man glaubt nicht mehr an die romantiſche Liebe, von welcher Ranpach ſchön ſagt: „Entſchloſſenheit zum ſchwerſten Opfer iſt der Liebe Ruhm und höchſte Offenbarung.“ Verus.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 86, 29. März 1900, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine86_1900/2>, abgerufen am 21.11.2024.