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Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 7. Burg/Berlin, 1836.

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[Spaltenumbruch] sie bei Annäherung der Soldaten die Flucht und die
Weiber blieben allein zurück, die ihnen versicherten,
die Burg sei unbezwingbar und werde von überirdi-
schen Mächten vertheidigt. Endlich aber ward ein
junger Bauer mit Gewalt als Führer an die Spitze
des Detachements gestellt und gezwungen, den Weg
zur Feste zu zeigen. Am Fuße des Felsens angelangt,
auf welchem die Burg steht, fingen die Soldaten an,
den schmalen und gefährlichen Weg hinaufzuklimmen,
der zum Haupteingang führt; ehe sie aber noch weit
gekommen waren, hielt sie eine Schneemauer von un-
geheurer Höhe auf, die gerade über ihren Weg hin-
lief. Während sie auf Mittel sannen, dieses Hinder-
niß zu beseitigen, wurde ihre Aufmerksamkeit durch ein
Geräusch über ihren Köpfen erregt, und wie sie auf-
sahen, wurden sie (so sagte der Soldat) einen Hau-
fen Bären gewahr, die furchtbar im Schnee scharrten
und die Angreifenden brummend herauszufordern schie-
nen. Während nun ihre Aufmerksamkeit auf diese selt-
same Erscheinung gerichtet war, nahm der erschrockene
Führer die Flucht, und der anführende Sergeant be-
fahl dem zurückgekommenen Soldaten, ihm nachzusetzen.
Dadurch blieb er am Leben; denn in dem Augenblick,
als er den Bauer eingeholt hatte, wankte die Schnee-
mauer hinter ihm, und eine berghohe Lawine ver-
schüttete seine unglücklichen Kameraden. Er behauptet,
in diesem Augenblick gehört zu haben, wie die Bären
gleichsam ein schreckliches Siegesgebrüll ausgestoßen hät-
ten, und daß er die Thiere sodann gleich Schatten
nach dem Gipfel des Berges habe fliehen sehen. Auf
diese schreckliche, nur einen Augenblick dauernde Szene
folgte eine fürchterliche Stille und die beiden Ueber-
lebenden kehrten zurück, um mir ihren Bericht zu ma-
chen. Ueberall auf ihrem Wege bestärkte diese seltsame
Katastrophe die Bauern in ihrem Glauben, daß die
Burg Lueg durch übernatürliche Mittel geschützt
werde."

Nach Eingang dieses Berichts schickte der Hof-
kriegsrath sofort Befehl an den Generalgouverneur von
Krain, die Burg Lueg einzuschließen, sie durch Feuer
und Schwert zu zerstören, und ohne Ausnahme Alles
zu nehmen, was man innerhalb ihrer Mauern finden
würde. Ehe dieser Befehl aber seinen Bestimmungsort
erreichte, ereigneten sich noch außerordentlichere Dinge,
als die erzählten, und verstärkten den Glauben der
die Burg umgebenden Ortschaften an die magischen
Hülfsquellen derselben noch mehr.

    (Fortsetzung folgt.)


Die Kitzler.

Vor einiger Zeit standen in Paris vor dem Kor-
rektionstribunal zwei Angeklagte, Michel Ledru und
Pierre Lorrain. Nach Mittheilung der Anklage fragte
sie der Präsident, was sie darauf zu erwiedern hätten,
und zeigte dabei auf einen Pariser Kaufmann, der
sehr ernst und nachdenkend auf der Bank der Kläger
saß. - "Herr Präsident," sagte Michel Ledru,
"der Herr beklagt sich mit Unrecht. Das Ganze war
[Spaltenumbruch] ein Streich zum Lachen. Der Herr geht auf dem
Fußsteig der Rue de Provence am hellen Tage; in
demselben Augenblick kommt es uns in den Sinn, mit
ihm einen Spaß zu machen und ihn zu kitzeln, damit
seine ernsten Züge etwas freundlicher werden, und da"
- "Laßt den Ankläger sprechen," unterbrach ihn
der Präsident. Der Kaufmann erzählt hierauf, daß
als er eben in die Rue Taitbout biegen wollte, er
sich plötzlich von einem starken Arm emporgehoben fühlt,
auf den Rücken eines Andern geworfen wird, und daß
man ihm darauf das Schnupftuch nimmt, den Rock
auszieht, die Uhr stiehlt, und als er um Hülfe ruft,
ihn so zu kitzeln anfängt, daß er lachen muß, woran
sich die Vorübergehenden so ergötzen, daß Alle lachen
müssen, und es ihm unmöglich wird, ihnen seinen Un-
fall zu erzählen. - "So wird die Geschichte er-
zählt," sagte Ledru, "aber so war sie nicht." -
"Wie entschuldigt Jhr aber den Raub des Tuchs, des
Rocks und der Uhr?" fragte der Präsident mit seiner
Amtsmiene. - "Nichts leichter als das, Herr
Präsident. Wir zogen ihm den Rock aus, damit wir
ihn nicht ruinirten, und auch, weil man auf dem
Rock nicht so gut kitzeln kann." - "Und das
Tuch?" - "Ja so; als der Herr lachte, und er
hatte Ursach dazu, auch Sie, Herr Präsident, wür-
den gelacht haben, und alle Leute, die zusahen, muß-
ten lachen, und auch wir lachten, daß uns die Augen
übergingen, und da hab' ich das Tuch genommen,
um die Thränen zu trocknen." - "Aber die Uhr?" -
"Ach, die Uhr, das ist etwas Anderes. Wir wollten
den Scherz nicht zu weit treiben, weil man Jemand
zu Tode kitzeln kann; das ist schon geschehen. Und
darum sagte ich zu mir selbst, man muß den Herrn
nicht länger als zehn Minuten lachen lassen, sonst
könnte er ersticken. Damit ich nun genau die Zeit be-
stimmen konnte, nahm ich die Uhr." - "Michel,
Michel," rief hier mit deklamatorischem Anstand
Pierre Lorrain, "Du bist auf unrechtem Wege; der
Herr Präsident schüttelt den Kopf und das bedeutet,
daß er deine Geschichte nicht glauben kann. Lüge
nicht und sage lieber, wie die Sache war. Das
Kitzeln schien uns in der That besser und französischer
zu sein, als ein Diebstahl mit Einbruch oder Einstei-
gen. Und dann füge hinzu, daß uns der Herr Prä-
sident auch Dank schuldig ist, weil wir ihn vor einem
ähnlichen Abentheuer in Schutz nahmen, als er letzten
Freitag aus dem Theater nach Hause ging." - "Wie?
auch mich wollte man kitzeln?" fragte lachend der
Präsident. - "Ja, mein Herr Präsident, weil man
Sie als kitzlich bezeichnet hat." - Und nun lachte
das ganze Gericht. - "Sie lachen, meine Herren,"
fuhr Pierre Lorrain ernsthaft fort; "je nun, so sollen
Sie sehen, ob unsere Zeichen trügen. Der Herr Rich-
ter links ist nicht kitzlich; der Herr Rath ist es sehr,
aber nicht so sehr, als der Herr Substitut. Bei dem
Herrn Gerichtssekretär könnte man sich die Finger ab-
brechen, ehe man ihn zum Lachen brächte, und ich
wette zwanzig Franken, daß uns Niemand hierin wider-
sprechen kann." - Der Ernst des Gerichtshofes

109 Conversations=Blatt. 110
[Spaltenumbruch] sie bei Annäherung der Soldaten die Flucht und die
Weiber blieben allein zurück, die ihnen versicherten,
die Burg sei unbezwingbar und werde von überirdi-
schen Mächten vertheidigt. Endlich aber ward ein
junger Bauer mit Gewalt als Führer an die Spitze
des Detachements gestellt und gezwungen, den Weg
zur Feste zu zeigen. Am Fuße des Felsens angelangt,
auf welchem die Burg steht, fingen die Soldaten an,
den schmalen und gefährlichen Weg hinaufzuklimmen,
der zum Haupteingang führt; ehe sie aber noch weit
gekommen waren, hielt sie eine Schneemauer von un-
geheurer Höhe auf, die gerade über ihren Weg hin-
lief. Während sie auf Mittel sannen, dieses Hinder-
niß zu beseitigen, wurde ihre Aufmerksamkeit durch ein
Geräusch über ihren Köpfen erregt, und wie sie auf-
sahen, wurden sie (so sagte der Soldat) einen Hau-
fen Bären gewahr, die furchtbar im Schnee scharrten
und die Angreifenden brummend herauszufordern schie-
nen. Während nun ihre Aufmerksamkeit auf diese selt-
same Erscheinung gerichtet war, nahm der erschrockene
Führer die Flucht, und der anführende Sergeant be-
fahl dem zurückgekommenen Soldaten, ihm nachzusetzen.
Dadurch blieb er am Leben; denn in dem Augenblick,
als er den Bauer eingeholt hatte, wankte die Schnee-
mauer hinter ihm, und eine berghohe Lawine ver-
schüttete seine unglücklichen Kameraden. Er behauptet,
in diesem Augenblick gehört zu haben, wie die Bären
gleichsam ein schreckliches Siegesgebrüll ausgestoßen hät-
ten, und daß er die Thiere sodann gleich Schatten
nach dem Gipfel des Berges habe fliehen sehen. Auf
diese schreckliche, nur einen Augenblick dauernde Szene
folgte eine fürchterliche Stille und die beiden Ueber-
lebenden kehrten zurück, um mir ihren Bericht zu ma-
chen. Ueberall auf ihrem Wege bestärkte diese seltsame
Katastrophe die Bauern in ihrem Glauben, daß die
Burg Lueg durch übernatürliche Mittel geschützt
werde.“

Nach Eingang dieses Berichts schickte der Hof-
kriegsrath sofort Befehl an den Generalgouverneur von
Krain, die Burg Lueg einzuschließen, sie durch Feuer
und Schwert zu zerstören, und ohne Ausnahme Alles
zu nehmen, was man innerhalb ihrer Mauern finden
würde. Ehe dieser Befehl aber seinen Bestimmungsort
erreichte, ereigneten sich noch außerordentlichere Dinge,
als die erzählten, und verstärkten den Glauben der
die Burg umgebenden Ortschaften an die magischen
Hülfsquellen derselben noch mehr.

    (Fortsetzung folgt.)


Die Kitzler.

Vor einiger Zeit standen in Paris vor dem Kor-
rektionstribunal zwei Angeklagte, Michel Ledru und
Pierre Lorrain. Nach Mittheilung der Anklage fragte
sie der Präsident, was sie darauf zu erwiedern hätten,
und zeigte dabei auf einen Pariser Kaufmann, der
sehr ernst und nachdenkend auf der Bank der Kläger
saß. – „Herr Präsident,“ sagte Michel Ledru,
„der Herr beklagt sich mit Unrecht. Das Ganze war
[Spaltenumbruch] ein Streich zum Lachen. Der Herr geht auf dem
Fußsteig der Rue de Provence am hellen Tage; in
demselben Augenblick kommt es uns in den Sinn, mit
ihm einen Spaß zu machen und ihn zu kitzeln, damit
seine ernsten Züge etwas freundlicher werden, und da“
– „Laßt den Ankläger sprechen,“ unterbrach ihn
der Präsident. Der Kaufmann erzählt hierauf, daß
als er eben in die Rue Taitbout biegen wollte, er
sich plötzlich von einem starken Arm emporgehoben fühlt,
auf den Rücken eines Andern geworfen wird, und daß
man ihm darauf das Schnupftuch nimmt, den Rock
auszieht, die Uhr stiehlt, und als er um Hülfe ruft,
ihn so zu kitzeln anfängt, daß er lachen muß, woran
sich die Vorübergehenden so ergötzen, daß Alle lachen
müssen, und es ihm unmöglich wird, ihnen seinen Un-
fall zu erzählen. – „So wird die Geschichte er-
zählt,“ sagte Ledru, „aber so war sie nicht.“ –
„Wie entschuldigt Jhr aber den Raub des Tuchs, des
Rocks und der Uhr?“ fragte der Präsident mit seiner
Amtsmiene. – „Nichts leichter als das, Herr
Präsident. Wir zogen ihm den Rock aus, damit wir
ihn nicht ruinirten, und auch, weil man auf dem
Rock nicht so gut kitzeln kann.“ – „Und das
Tuch?“ – „Ja so; als der Herr lachte, und er
hatte Ursach dazu, auch Sie, Herr Präsident, wür-
den gelacht haben, und alle Leute, die zusahen, muß-
ten lachen, und auch wir lachten, daß uns die Augen
übergingen, und da hab' ich das Tuch genommen,
um die Thränen zu trocknen.“ – „Aber die Uhr?“ –
„Ach, die Uhr, das ist etwas Anderes. Wir wollten
den Scherz nicht zu weit treiben, weil man Jemand
zu Tode kitzeln kann; das ist schon geschehen. Und
darum sagte ich zu mir selbst, man muß den Herrn
nicht länger als zehn Minuten lachen lassen, sonst
könnte er ersticken. Damit ich nun genau die Zeit be-
stimmen konnte, nahm ich die Uhr.“ – „Michel,
Michel,“ rief hier mit deklamatorischem Anstand
Pierre Lorrain, „Du bist auf unrechtem Wege; der
Herr Präsident schüttelt den Kopf und das bedeutet,
daß er deine Geschichte nicht glauben kann. Lüge
nicht und sage lieber, wie die Sache war. Das
Kitzeln schien uns in der That besser und französischer
zu sein, als ein Diebstahl mit Einbruch oder Einstei-
gen. Und dann füge hinzu, daß uns der Herr Prä-
sident auch Dank schuldig ist, weil wir ihn vor einem
ähnlichen Abentheuer in Schutz nahmen, als er letzten
Freitag aus dem Theater nach Hause ging.“ – „Wie?
auch mich wollte man kitzeln?“ fragte lachend der
Präsident. – „Ja, mein Herr Präsident, weil man
Sie als kitzlich bezeichnet hat.“ – Und nun lachte
das ganze Gericht. – „Sie lachen, meine Herren,“
fuhr Pierre Lorrain ernsthaft fort; „je nun, so sollen
Sie sehen, ob unsere Zeichen trügen. Der Herr Rich-
ter links ist nicht kitzlich; der Herr Rath ist es sehr,
aber nicht so sehr, als der Herr Substitut. Bei dem
Herrn Gerichtssekretär könnte man sich die Finger ab-
brechen, ehe man ihn zum Lachen brächte, und ich
wette zwanzig Franken, daß uns Niemand hierin wider-
sprechen kann.“ – Der Ernst des Gerichtshofes

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Nach Mittheilung der Anklage fragte sie der Präsident, was sie darauf zu erwiedern hätten, und zeigte dabei auf einen Pariser Kaufmann, der sehr ernst und nachdenkend auf der Bank der Kläger saß. – „Herr Präsident,“ sagte Michel Ledru, „der Herr beklagt sich mit Unrecht. Das Ganze war ein Streich zum Lachen. Der Herr geht auf dem Fußsteig der Rue de Provence am hellen Tage; in demselben Augenblick kommt es uns in den Sinn, mit ihm einen Spaß zu machen und ihn zu kitzeln, damit seine ernsten Züge etwas freundlicher werden, und da“ – „Laßt den Ankläger sprechen,“ unterbrach ihn der Präsident. 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Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 7. Burg/Berlin, 1836, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt07_1836/7>, abgerufen am 01.06.2024.