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Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 8. Burg/Berlin, 1836.

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115 Conversations=Blatt. 116
[Beginn Spaltensatz] Jammernden und Verwundeten, bleicher, sterbender als
sie Alle.

"Mein Mann!" rief sie mit hastigem dumpfen
Laut, "mein Joaquin! Was habt ihr mit ihm ge-
macht? Mein Bruder, mein Pablo, wo sind sie? -
Nun, könnt ihr nicht antworten? Sind sie verwundet,
gefangen?" Und bei jedem Wort hielt sie inne und
heftete ihre großen Augen auf Einen nach dem Andern
der ganzen Umgebung. "Gefangen!" rief sie wieder,
"denn todt sind sie nicht, sie können nicht todt sein!
Todt! todt!"

Ein gräßlicher Schrei entstürmte ihrer Brust, als
sie zufällig Gabriel, den Lieutnant ihres Joaquin, er-
blickte und sah, wie sein schmerzlich zur Brust sich
senkendes Haupt mit stummer Beredsamkeit Alles er-
zählte.

"Todt!.. Beide todt?.. todt, sagt ihr
nicht so? - Todt, beide todt?"

Gabriel trat ihr näher, um leise mit ihr zu
reden, aber sie stieß ihn zurück.

"Zurück von mir, du Feiger! Wagen kannst
du, in dies Dorf zurückzukehren, welches seit zwei
Jahren die Meinigen mit ihrem Blut vertheidigten,
mit ihrem Leben retteten, und welches ihr heute dem
Feinde preisgebt, indem ihr euern Führer nicht zu
vertheidigen wußtet? Unglückselige! Fort von mir!
Ach, Joaquin! mein Joaquin! warum war ich nicht
bei dir? Jch hätte dich vertheidigt, ich!"

Und sie wälzte sich im Staub, und stieß ein
Geschrei gräßlichen Jammers aus, und war vernichtet
von dem ungeheuern Schmerz. Keine der Frauen,
welche gleich ihr den Mann verloren hatten, wagte
es, solchem Schmerz gegenüber, zu weinen. Endlich
erhob sie sich. Ein Weib hatte ihren Manuel herbei-
gebracht. Das holde Wesen umschlang mit seinen
Aermchen das Haupt der Mutter, und überhäufte
diese mit den süßesten, unwiderstehlichsten Zärtlichkeiten.
Jetzt flossen ihre Thränen weniger bitter, aber reich-
licher, sie gewann so viel Fassung, die Erzählung
aller Vorfälle dieses nächtlichen Gemetzels in der Sierra
anzuhören.

Maria hatte während der zwei Jahre ihres aben-
theuerlichen Kriegslebens Gelegenheit genug gehabt,
den gewöhnlichen Gang solcher Kriegstrubel zu beob-
achten, und bemerkte daher, daß das Dorf selbst noch
vor dem Abend in der Gewalt der Franzosen sein
würde. Diese Ueberzeugung veränderte plötzlich ihr
ganzes Wesen, sie richtete ihre Seele auf und gab ihr
jenen erhabenen Geist wieder, welcher sie der Bewunde-
rung würdig machte. Sie befahl mit kurzen kräftigen
Worten, daß alle Männer und Frauen das Dorf ver-
lassen und sogleich aufbrechen sollten. "Folgt mir!"
rief sie und stürmte Allen voran auf den Gemeinde-
platz, stieg dort auf den steinernen Untersatz des gro-
ßen Kreuzes, überschaute eines Blickes alle Bewohner
und sprach gebietend: "Jeder nehme mit sich, was er
von Brodt und Lebensmitteln fortbringen kann, aber
alles Uebrige werde hier zusammengetragen!"

[Spaltenumbruch]

Nach wenigen Minuten war ihr Befehl pünktlich
befolgt; große Haufen Brodt und Lebensmittel aller
Art waren auf dem Platz aufgethürmt, vorzüglich viele
Schläuche aus Bockshäuten voll Landwein. Zu Hun-
derten hatten die Bauern diese herbeigeschleppt und
harrten nun weitrer Befehle.

"Freunde," sprach sie nun mit aller Kraft des
Ausdrucks, "seid ihr entschlossen, den Ausländern,
welche heut hier eintreffen werden, keinen Bissen und
keinen Schluck zu hinterlassen?"

Ein allgemeiner Schrei des Beifalls war die
Antwort auf ihren Vorschlag.

"Wohlan, so bezeichnet Alles, was ihr mit-
nehmen wollt, und dann verbrennt alles übrige Brodt
und die Lebensmittel, werft das Mehl in den Zapa-
radiel, und bohrt mit euren Dolchen Löcher in die
Weinschläuche, damit diese Fremden, diese Elenden
sehen, wie sehr man sie und ihren Zorn verachtet!
Denn gössen wir unsern Wein in den Zaparadiel, so
würden sie uns der Armuth und des Elendes beschul-
digen! Nein, ihr übermüthigen Meuchelmörder, be-
weisen muß man, daß man euch trotzt!"

Unter furchtbarem Gebrüll und Rachegeschrei rief
man die Flüche des Himmels auf das Haupt der
Franzosen herab, und jauchzte dem Befehl der hehren
Marie Beifall. Binnen wenigen Minuten loderten die
Flammen empor und spritzten die Schläuche, von zwan-
zig Dolchstichen zugleich durchbohrt, den Wein nach
allen Seiten. Jn Kohlen verwandelte sich das Brodt,
das Korn prasselte als Funken in alle Lüfte, das
Fleisch qualmte als Opferrauch für Sühne und Rache
zum Himmel empor, das Mehl färbte die Wasser des
Zaparadiel für einige Minuten weiß.

Marie schien beim Anblick der gefräßigen Flammen,
welche jedes Hülfsmittel für den anrückenden Feind
schnell vernichteten, alle ihre Leiden zu vergessen; ein
großer Gedanke beschäftigte sie. Jm Augenblick, als
Gabriel die letzte Lage von Weinschläuchen mit dem
Dolch durchbohren wollte, fiel sie ihm in den Arm.

"Halt ein, Gabriel, und laß diese zwölf Schläu-
che schnell in meine Wohnung tragen, ich werde einen
guten Gebrauch davon machen!"

Jn demselben Augenblick trug der von der Sierra
herüberwehende Wind schneidende Horntöne und zugleich
ein Getöse herüber, welches Trommelwirbeln glich.

"Sie sind es, sie kommen!" schrie Marie und
wurde zugleich bleich wie der Tod und schnell wieder
glühend roth. "Nun ist's Zeit, daß ihr geht, zieht
fort, zieht Alle fort, eilt, eilt!" Und Alle riefen
einstimmig: "Was soll aus dir denn werden?"

"Konntet ihr," sprach sie, "auch nur einen
Augenblick euch einfallen lassen, daß ich meine alte
Großmutter verlassen würde? Aber wie vemröchte sie,
uns zu folgen? Tragen müßte man sie, das würde
den Zug aufhalten und euch Alle zu Grunde richten.
Was werden diese Ungeheuer einer alten schwachen
Frau, einem Kinde und mir armen unglückseligen Ge-
schöpf thun? Mir bleibt keine Wahl, ich muß den
Versuch machen und mein Loos erwarten. Eilt ihr
[Ende Spaltensatz]

115 Conversations=Blatt. 116
[Beginn Spaltensatz] Jammernden und Verwundeten, bleicher, sterbender als
sie Alle.

„Mein Mann!“ rief sie mit hastigem dumpfen
Laut, „mein Joaquin! Was habt ihr mit ihm ge-
macht? Mein Bruder, mein Pablo, wo sind sie? –
Nun, könnt ihr nicht antworten? Sind sie verwundet,
gefangen?“ Und bei jedem Wort hielt sie inne und
heftete ihre großen Augen auf Einen nach dem Andern
der ganzen Umgebung. „Gefangen!“ rief sie wieder,
„denn todt sind sie nicht, sie können nicht todt sein!
Todt! todt!“

Ein gräßlicher Schrei entstürmte ihrer Brust, als
sie zufällig Gabriel, den Lieutnant ihres Joaquin, er-
blickte und sah, wie sein schmerzlich zur Brust sich
senkendes Haupt mit stummer Beredsamkeit Alles er-
zählte.

„Todt!.. Beide todt?.. todt, sagt ihr
nicht so? – Todt, beide todt?“

Gabriel trat ihr näher, um leise mit ihr zu
reden, aber sie stieß ihn zurück.

„Zurück von mir, du Feiger! Wagen kannst
du, in dies Dorf zurückzukehren, welches seit zwei
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mit ihrem Leben retteten, und welches ihr heute dem
Feinde preisgebt, indem ihr euern Führer nicht zu
vertheidigen wußtet? Unglückselige! Fort von mir!
Ach, Joaquin! mein Joaquin! warum war ich nicht
bei dir? Jch hätte dich vertheidigt, ich!“

Und sie wälzte sich im Staub, und stieß ein
Geschrei gräßlichen Jammers aus, und war vernichtet
von dem ungeheuern Schmerz. Keine der Frauen,
welche gleich ihr den Mann verloren hatten, wagte
es, solchem Schmerz gegenüber, zu weinen. Endlich
erhob sie sich. Ein Weib hatte ihren Manuel herbei-
gebracht. Das holde Wesen umschlang mit seinen
Aermchen das Haupt der Mutter, und überhäufte
diese mit den süßesten, unwiderstehlichsten Zärtlichkeiten.
Jetzt flossen ihre Thränen weniger bitter, aber reich-
licher, sie gewann so viel Fassung, die Erzählung
aller Vorfälle dieses nächtlichen Gemetzels in der Sierra
anzuhören.

Maria hatte während der zwei Jahre ihres aben-
theuerlichen Kriegslebens Gelegenheit genug gehabt,
den gewöhnlichen Gang solcher Kriegstrubel zu beob-
achten, und bemerkte daher, daß das Dorf selbst noch
vor dem Abend in der Gewalt der Franzosen sein
würde. Diese Ueberzeugung veränderte plötzlich ihr
ganzes Wesen, sie richtete ihre Seele auf und gab ihr
jenen erhabenen Geist wieder, welcher sie der Bewunde-
rung würdig machte. Sie befahl mit kurzen kräftigen
Worten, daß alle Männer und Frauen das Dorf ver-
lassen und sogleich aufbrechen sollten. „Folgt mir!“
rief sie und stürmte Allen voran auf den Gemeinde-
platz, stieg dort auf den steinernen Untersatz des gro-
ßen Kreuzes, überschaute eines Blickes alle Bewohner
und sprach gebietend: „Jeder nehme mit sich, was er
von Brodt und Lebensmitteln fortbringen kann, aber
alles Uebrige werde hier zusammengetragen!“

[Spaltenumbruch]

Nach wenigen Minuten war ihr Befehl pünktlich
befolgt; große Haufen Brodt und Lebensmittel aller
Art waren auf dem Platz aufgethürmt, vorzüglich viele
Schläuche aus Bockshäuten voll Landwein. Zu Hun-
derten hatten die Bauern diese herbeigeschleppt und
harrten nun weitrer Befehle.

„Freunde,“ sprach sie nun mit aller Kraft des
Ausdrucks, „seid ihr entschlossen, den Ausländern,
welche heut hier eintreffen werden, keinen Bissen und
keinen Schluck zu hinterlassen?“

Ein allgemeiner Schrei des Beifalls war die
Antwort auf ihren Vorschlag.

„Wohlan, so bezeichnet Alles, was ihr mit-
nehmen wollt, und dann verbrennt alles übrige Brodt
und die Lebensmittel, werft das Mehl in den Zapa-
radiel, und bohrt mit euren Dolchen Löcher in die
Weinschläuche, damit diese Fremden, diese Elenden
sehen, wie sehr man sie und ihren Zorn verachtet!
Denn gössen wir unsern Wein in den Zaparadiel, so
würden sie uns der Armuth und des Elendes beschul-
digen! Nein, ihr übermüthigen Meuchelmörder, be-
weisen muß man, daß man euch trotzt!“

Unter furchtbarem Gebrüll und Rachegeschrei rief
man die Flüche des Himmels auf das Haupt der
Franzosen herab, und jauchzte dem Befehl der hehren
Marie Beifall. Binnen wenigen Minuten loderten die
Flammen empor und spritzten die Schläuche, von zwan-
zig Dolchstichen zugleich durchbohrt, den Wein nach
allen Seiten. Jn Kohlen verwandelte sich das Brodt,
das Korn prasselte als Funken in alle Lüfte, das
Fleisch qualmte als Opferrauch für Sühne und Rache
zum Himmel empor, das Mehl färbte die Wasser des
Zaparadiel für einige Minuten weiß.

Marie schien beim Anblick der gefräßigen Flammen,
welche jedes Hülfsmittel für den anrückenden Feind
schnell vernichteten, alle ihre Leiden zu vergessen; ein
großer Gedanke beschäftigte sie. Jm Augenblick, als
Gabriel die letzte Lage von Weinschläuchen mit dem
Dolch durchbohren wollte, fiel sie ihm in den Arm.

„Halt ein, Gabriel, und laß diese zwölf Schläu-
che schnell in meine Wohnung tragen, ich werde einen
guten Gebrauch davon machen!“

Jn demselben Augenblick trug der von der Sierra
herüberwehende Wind schneidende Horntöne und zugleich
ein Getöse herüber, welches Trommelwirbeln glich.

„Sie sind es, sie kommen!“ schrie Marie und
wurde zugleich bleich wie der Tod und schnell wieder
glühend roth. „Nun ist's Zeit, daß ihr geht, zieht
fort, zieht Alle fort, eilt, eilt!“ Und Alle riefen
einstimmig: „Was soll aus dir denn werden?“

„Konntet ihr,“ sprach sie, „auch nur einen
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Großmutter verlassen würde? Aber wie vemröchte sie,
uns zu folgen? Tragen müßte man sie, das würde
den Zug aufhalten und euch Alle zu Grunde richten.
Was werden diese Ungeheuer einer alten schwachen
Frau, einem Kinde und mir armen unglückseligen Ge-
schöpf thun? Mir bleibt keine Wahl, ich muß den
Versuch machen und mein Loos erwarten. Eilt ihr
[Ende Spaltensatz]

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Was werden diese Ungeheuer einer alten schwachen Frau, einem Kinde und mir armen unglückseligen Ge- schöpf thun? Mir bleibt keine Wahl, ich muß den Versuch machen und mein Loos erwarten. Eilt ihr

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Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 8. Burg/Berlin, 1836, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt08_1836/2>, abgerufen am 01.06.2024.