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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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Roda Roda: Diskretion. 685
Diskretion.
Von Roda Roda, Berlin.

    [ Nachdruck verboten.

Der Sänger hatte ein Abenteuer erlebt, das sein ganzes Sein erfüllte.
Jhm bebten die Nerven noch von dieser Liebe, ihm brannten die Augen von
diesen Wonnetränen, die Lippen zuckten diesen Küssen nach. -- Das Herzblut
aber ergoß sich in ein Lied.

Wo die Leute wogten -- erhob der Sänger seine Stimme und rühmte
öffentlich das Weib seiner Umarmungen. -- Alles Volk genoß beseligt das
Glück des einen Paares mit.

Die Männer zogen vor das Haus der Dame und sagten ihr Dank, die
Frauen aber schmückten ihr das Haar mit Blumen und küßten sie.

Dieses Begebnis spielte sich unter 130 Grad 15 Minuten östlicher Länge
von Greenwich ab -- auf einer Jnsel, wo man von Sängern und Propheten
nicht erwartet, daß sie, was ihnen Gott befahl, verschweigen würden.

[Abbildung]
Die Malerei in Belgien.
Von Dr. Hans Bethge, Steglitz.

Man ist berechtigt, von einer belgischen Malerei zu sprechen. Belgien
ist ein Land von so vielen nur ihm eigentümlichen Besonderheiten, daß es
eine Reihe von künstlerischen Erscheinungen hervorzubringen vermochte, die
anderswo kaum möglich wären. Wie leicht empfänglich dieses Volk, zumal
in unseren Tagen, für zukunftsvolle künstlerische Bestrebungen ist, hat nicht
zum mindesten der Aufschwung des Kunstgewerbes gezeigt, der in Belgien
mit am ehesten unter allen europäischen Ländern von statten ging -- und
zwar mit einer sehr besonderen Note, die zumal gewisse abstrakte lineare
Motive zu interessanter Ausbildung brachte. Freilich wurden die Belgier
kunstgewerblich von den nachdrücklicheren Deutschen dann bald überflügelt.

Belgien ist das Land der Gegensätze. Auf der einen Seite das Land
der Vergangenheit, das Land Brügges, das Land alter gotischer Kathedralen
mit gespenstischen figuralen Skulpturen, das Land mystischer, von manchen
verborgenen Schmerzen erfüllter Klöster, in denen die bleichen Beguinen ihre
eintönigen Gebete murmeln; das Land seltsamer Schatten und märchenhafter

Roda Roda: Diskretion. 685
Diskretion.
Von Roda Roda, Berlin.

    [ Nachdruck verboten.

Der Sänger hatte ein Abenteuer erlebt, das sein ganzes Sein erfüllte.
Jhm bebten die Nerven noch von dieser Liebe, ihm brannten die Augen von
diesen Wonnetränen, die Lippen zuckten diesen Küssen nach. — Das Herzblut
aber ergoß sich in ein Lied.

Wo die Leute wogten — erhob der Sänger seine Stimme und rühmte
öffentlich das Weib seiner Umarmungen. — Alles Volk genoß beseligt das
Glück des einen Paares mit.

Die Männer zogen vor das Haus der Dame und sagten ihr Dank, die
Frauen aber schmückten ihr das Haar mit Blumen und küßten sie.

Dieses Begebnis spielte sich unter 130 Grad 15 Minuten östlicher Länge
von Greenwich ab — auf einer Jnsel, wo man von Sängern und Propheten
nicht erwartet, daß sie, was ihnen Gott befahl, verschweigen würden.

[Abbildung]
Die Malerei in Belgien.
Von Dr. Hans Bethge, Steglitz.

Man ist berechtigt, von einer belgischen Malerei zu sprechen. Belgien
ist ein Land von so vielen nur ihm eigentümlichen Besonderheiten, daß es
eine Reihe von künstlerischen Erscheinungen hervorzubringen vermochte, die
anderswo kaum möglich wären. Wie leicht empfänglich dieses Volk, zumal
in unseren Tagen, für zukunftsvolle künstlerische Bestrebungen ist, hat nicht
zum mindesten der Aufschwung des Kunstgewerbes gezeigt, der in Belgien
mit am ehesten unter allen europäischen Ländern von statten ging — und
zwar mit einer sehr besonderen Note, die zumal gewisse abstrakte lineare
Motive zu interessanter Ausbildung brachte. Freilich wurden die Belgier
kunstgewerblich von den nachdrücklicheren Deutschen dann bald überflügelt.

Belgien ist das Land der Gegensätze. Auf der einen Seite das Land
der Vergangenheit, das Land Brügges, das Land alter gotischer Kathedralen
mit gespenstischen figuralen Skulpturen, das Land mystischer, von manchen
verborgenen Schmerzen erfüllter Klöster, in denen die bleichen Beguinen ihre
eintönigen Gebete murmeln; das Land seltsamer Schatten und märchenhafter

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[685/0045] Roda Roda: Diskretion. 685 Diskretion. Von Roda Roda, Berlin. [ Nachdruck verboten. Der Sänger hatte ein Abenteuer erlebt, das sein ganzes Sein erfüllte. Jhm bebten die Nerven noch von dieser Liebe, ihm brannten die Augen von diesen Wonnetränen, die Lippen zuckten diesen Küssen nach. — Das Herzblut aber ergoß sich in ein Lied. Wo die Leute wogten — erhob der Sänger seine Stimme und rühmte öffentlich das Weib seiner Umarmungen. — Alles Volk genoß beseligt das Glück des einen Paares mit. Die Männer zogen vor das Haus der Dame und sagten ihr Dank, die Frauen aber schmückten ihr das Haar mit Blumen und küßten sie. Dieses Begebnis spielte sich unter 130 Grad 15 Minuten östlicher Länge von Greenwich ab — auf einer Jnsel, wo man von Sängern und Propheten nicht erwartet, daß sie, was ihnen Gott befahl, verschweigen würden. [Abbildung] Die Malerei in Belgien. Von Dr. Hans Bethge, Steglitz. Man ist berechtigt, von einer belgischen Malerei zu sprechen. Belgien ist ein Land von so vielen nur ihm eigentümlichen Besonderheiten, daß es eine Reihe von künstlerischen Erscheinungen hervorzubringen vermochte, die anderswo kaum möglich wären. Wie leicht empfänglich dieses Volk, zumal in unseren Tagen, für zukunftsvolle künstlerische Bestrebungen ist, hat nicht zum mindesten der Aufschwung des Kunstgewerbes gezeigt, der in Belgien mit am ehesten unter allen europäischen Ländern von statten ging — und zwar mit einer sehr besonderen Note, die zumal gewisse abstrakte lineare Motive zu interessanter Ausbildung brachte. Freilich wurden die Belgier kunstgewerblich von den nachdrücklicheren Deutschen dann bald überflügelt. Belgien ist das Land der Gegensätze. Auf der einen Seite das Land der Vergangenheit, das Land Brügges, das Land alter gotischer Kathedralen mit gespenstischen figuralen Skulpturen, das Land mystischer, von manchen verborgenen Schmerzen erfüllter Klöster, in denen die bleichen Beguinen ihre eintönigen Gebete murmeln; das Land seltsamer Schatten und märchenhafter

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/45>, abgerufen am 21.11.2024.