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Das Heller-Blatt. Nr. 12. Breslau, 22. März 1834.

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Das Heller=Blatt.
[Beginn Spaltensatz] was hinsichtlich seiner Herkunft eine Vermuthung hätte
gewähren können. Der mitgebrachte Brief war also
datirt: "von der Bayerschen Gränz daß Orte ist unbe-
nannt 1828." Der Briefsteller sagt darin, daß er ein
armer Taglöhner und Vater von 10 Kindern sei; daß
ihm der Knabe am 7. Oct. 1812 von seiner unbekann-
ten Mutter gelegt worden; daß er denselben vor dem
Landgerichte verheimlicht und keinen Schritt weit aus
dem Hause gelassen habe, und dieser nicht wisse, wie
das Haus oder der Wohnort des Pflegers heiße; daß
der Knabe christlich erzogen worden, lesen und schrei-
ben gelernt habe, auch geschickt und gelehrig sei und
ein Reiter zu werden wünsche, wie sein Vater einer ge-
wesen; endlich, daß er ihn bei Nacht aus seinem Hause
fort= und bis Neumark geführt habe. Jn dem Briefe
lag ein, wie von der Mutter geschriebener Zettel, worin
es heißt, daß sie ein armes Mägdlein, der Knabe am
30. April 1812 geboren worden, sein Taufname Kas-
par und sein Vater, ehemals ein Chevauxleger beim
sechsten Regiment in Nürnberg, gestorben sei.

Hauser wurde vom Magistrate zu Nürnberg als
ein verwahrloster Junge von unbekannter Heimath be-
handelt und deshalb in polizeiliche Verwahrung gebracht.

Der Vorstand des Magistrats, Bürgermeister
Binder, früher ein Justizbeamter von bewährter Ge-
schäftskenntniß, widmete der seltsamen Erscheinung
seine besondere, sowohl menschenfreundliche als amt-
liche Theilnahme. Das Hauptbestreben des Bürger-
meisters ging dahin, durch vielfältiges Unterreden mit
Hauser den Schleier so viel möglich zu lüften, der auf
dem frühern Leben desselben lag. Dies glaubte er bald
bewirkt zu haben, und er erließ bereits unterm 7. Juli
eine öffentliche Bekanntmachung, worin er das Leben
und Leiden Kaspars schilderte und alle Behörden zur
Mitwirkung behufs der nähern Ermittelung der an ihm
verübten Verbrechen und ihrer Urheber aufforderte.
Nach diesem Umlaufschreiben, welches überall die leb-
hafteste Sensation erregte und den Findling zu einem
Gegenstande des höchsten Jnteresse im Jn= und Auslande
machte, war derselbe von seiner Kindheit an in einem
unterirdischen Behältnisse, von der Natur und allen
Menschen ganz isolirt, bloß mit Brot und Wasser durch
einen Mann aufgezogen worden, der sich ihm selbst
nicht einmal zeigte, sondern ihn, während er im na-
türlichen oder durch Opiate bewirkten Schlafe lag, ver-
pflegte, reinigte und ankleidete. Der unglückliche
Knabe, blos mit einem Hemde und hinten offenen Ho-
sen bekleidet, hatte in dem Kerker nicht einmal ausge-
streckt liegen, darin nie einen Laut hören, nie die Sonne
oder nur die Tageshelle sehen können und daher auch
nicht den Unterschied zwischen Tag und Nacht erfahren.
Er hatte keine andere Beschäftigung gehabt, als mit
zwei hölzernen Pferden zu spielen. Einige Zeit vor der
Wegführung nach Nürnberg hatte der Mann sich in
dem Kerker öfters eingefunden und den Gefangenen
[Spaltenumbruch] durch Führung seiner Hand im Schreiben, so wie durch
Aufheben der Füße im Gehen unterrichtet. Endlich
hatte er ihn einmal auf die Schultern gelegt, zu dem
Loche heraus einen Berg ( oder eine Treppe ) hinaufge-
tragen und sich mit ihm auf die Reise nach Nürnberg
begeben. Von Allem, was Hausern unterwegs in die
offenen Augen und Ohren gedrungen, oder er sonst
empfunden, war nichts von ihm zu erfragen, das über
die Gegend, aus welcher er gekommen, oder über die
Richtung, Länge und Dauer des Wegs nur den gering-
sten Aufschluß hätte geben können; nur an unbedeutende,
sich von selbst verstehende Dinge erinnerte er sich. Nicht
einmal das Gesicht des Mannes, mit welchem er in der
letzten Zeit seiner Gefangenschaft öfters umging, hat er
beschrieben und will es, obwol es nicht vermummt war,
nie angeblickt haben, weil es ihm verboten worden.

Am 18. Juli 1828 wurde Hauser dem Professor
Daumer zu Nürnberg zur Erziehung in seinem Hause
anvertraut. Seine Fortschritte waren im Ganzen ge-
ring und wurden zuletzt durch Kränklichkeit und einen
Vorfall unterbrochen, der die ziemlich gesunkene Theil-
nahme der Bewohner Nürnbergs wie des Auslandes
aufs Neue in hohem Grade aufregte. Am 17. Oktober
( 1829 ) Mittags fand man nämlich Hausern in einem
Winkel des Kellers, wie todt daliegend, das bleiche
Gesicht mit Blut bedeckt. Nachdem er wieder zur Be-
sinnung gekommen war, erzählte er, daß er, auf dem
Abtritte sitzend, einen Mann mit ganz schwarzem Kopfe,
den er für den Schlotfeger gehalten, heranschleichen ge-
sehen habe. Dieser Mann habe ihm, so wie er den
Kopf hervorgestreckt, einen Schlag auf die Stirne ge-
geben, in Folge dessen er sogleich auf den Boden ge-
stürzt sei. Nachdem er wieder zu sich gekommen, habe
er zur Mutter seines Lehrers hinaufgewollt, sei aber
in der Angst zuerst an seine Stube und sodann wieder
die Treppe hinunter an den Keller gekommen, in dem
er sich verkrochen habe. Mit Recht nahm dieser Vor-
fall die ausgezeichnetste Thätigkeit der Justiz= und Po-
lizeibehörden in Anspruch, allein alle Nachforschungen
waren erfolglos und fügten zu den alten Räthseln nur
noch neue schwierigere hinzu.

Unter den vielen Fremden, welche den berühmten
Findling zu sehen kamen, hatte zuletzt Hausers Genius
auch den Grafen Stanhope hinzugeführt, welcher ihn
liebgewann und ihn als seinen Pflegesohn förmlich an-
nahm. Der Graf schickte Hausern nach Ansbach, um
ihn weiter unterrichten und dann nach England kommen
zu lassen. Dem Präsidenten von Feuerbach übergab er
eine bedeutende Summe zur Förderung der Untersuchung
und zur Verfolgung jeder Spur.

Kaspar Hauser, welcher seit 2 Jahren in Anspach
lebte und auf einer dortigen Kanzlei arbeitete, begab
sich am 14. December 1833 Mittags von der Kanzlei zu
Hause, als ein wohlgekleideter Mann ihn unterwegs
anredete und ihn einlud, ihn zu begleiten, weil er ihm
[Ende Spaltensatz]

Das Heller=Blatt.
[Beginn Spaltensatz] was hinsichtlich seiner Herkunft eine Vermuthung hätte
gewähren können. Der mitgebrachte Brief war also
datirt: „von der Bayerschen Gränz daß Orte ist unbe-
nannt 1828.“ Der Briefsteller sagt darin, daß er ein
armer Taglöhner und Vater von 10 Kindern sei; daß
ihm der Knabe am 7. Oct. 1812 von seiner unbekann-
ten Mutter gelegt worden; daß er denselben vor dem
Landgerichte verheimlicht und keinen Schritt weit aus
dem Hause gelassen habe, und dieser nicht wisse, wie
das Haus oder der Wohnort des Pflegers heiße; daß
der Knabe christlich erzogen worden, lesen und schrei-
ben gelernt habe, auch geschickt und gelehrig sei und
ein Reiter zu werden wünsche, wie sein Vater einer ge-
wesen; endlich, daß er ihn bei Nacht aus seinem Hause
fort= und bis Neumark geführt habe. Jn dem Briefe
lag ein, wie von der Mutter geschriebener Zettel, worin
es heißt, daß sie ein armes Mägdlein, der Knabe am
30. April 1812 geboren worden, sein Taufname Kas-
par und sein Vater, ehemals ein Chevauxleger beim
sechsten Regiment in Nürnberg, gestorben sei.

Hauser wurde vom Magistrate zu Nürnberg als
ein verwahrloster Junge von unbekannter Heimath be-
handelt und deshalb in polizeiliche Verwahrung gebracht.

Der Vorstand des Magistrats, Bürgermeister
Binder, früher ein Justizbeamter von bewährter Ge-
schäftskenntniß, widmete der seltsamen Erscheinung
seine besondere, sowohl menschenfreundliche als amt-
liche Theilnahme. Das Hauptbestreben des Bürger-
meisters ging dahin, durch vielfältiges Unterreden mit
Hauser den Schleier so viel möglich zu lüften, der auf
dem frühern Leben desselben lag. Dies glaubte er bald
bewirkt zu haben, und er erließ bereits unterm 7. Juli
eine öffentliche Bekanntmachung, worin er das Leben
und Leiden Kaspars schilderte und alle Behörden zur
Mitwirkung behufs der nähern Ermittelung der an ihm
verübten Verbrechen und ihrer Urheber aufforderte.
Nach diesem Umlaufschreiben, welches überall die leb-
hafteste Sensation erregte und den Findling zu einem
Gegenstande des höchsten Jnteresse im Jn= und Auslande
machte, war derselbe von seiner Kindheit an in einem
unterirdischen Behältnisse, von der Natur und allen
Menschen ganz isolirt, bloß mit Brot und Wasser durch
einen Mann aufgezogen worden, der sich ihm selbst
nicht einmal zeigte, sondern ihn, während er im na-
türlichen oder durch Opiate bewirkten Schlafe lag, ver-
pflegte, reinigte und ankleidete. Der unglückliche
Knabe, blos mit einem Hemde und hinten offenen Ho-
sen bekleidet, hatte in dem Kerker nicht einmal ausge-
streckt liegen, darin nie einen Laut hören, nie die Sonne
oder nur die Tageshelle sehen können und daher auch
nicht den Unterschied zwischen Tag und Nacht erfahren.
Er hatte keine andere Beschäftigung gehabt, als mit
zwei hölzernen Pferden zu spielen. Einige Zeit vor der
Wegführung nach Nürnberg hatte der Mann sich in
dem Kerker öfters eingefunden und den Gefangenen
[Spaltenumbruch] durch Führung seiner Hand im Schreiben, so wie durch
Aufheben der Füße im Gehen unterrichtet. Endlich
hatte er ihn einmal auf die Schultern gelegt, zu dem
Loche heraus einen Berg ( oder eine Treppe ) hinaufge-
tragen und sich mit ihm auf die Reise nach Nürnberg
begeben. Von Allem, was Hausern unterwegs in die
offenen Augen und Ohren gedrungen, oder er sonst
empfunden, war nichts von ihm zu erfragen, das über
die Gegend, aus welcher er gekommen, oder über die
Richtung, Länge und Dauer des Wegs nur den gering-
sten Aufschluß hätte geben können; nur an unbedeutende,
sich von selbst verstehende Dinge erinnerte er sich. Nicht
einmal das Gesicht des Mannes, mit welchem er in der
letzten Zeit seiner Gefangenschaft öfters umging, hat er
beschrieben und will es, obwol es nicht vermummt war,
nie angeblickt haben, weil es ihm verboten worden.

Am 18. Juli 1828 wurde Hauser dem Professor
Daumer zu Nürnberg zur Erziehung in seinem Hause
anvertraut. Seine Fortschritte waren im Ganzen ge-
ring und wurden zuletzt durch Kränklichkeit und einen
Vorfall unterbrochen, der die ziemlich gesunkene Theil-
nahme der Bewohner Nürnbergs wie des Auslandes
aufs Neue in hohem Grade aufregte. Am 17. Oktober
( 1829 ) Mittags fand man nämlich Hausern in einem
Winkel des Kellers, wie todt daliegend, das bleiche
Gesicht mit Blut bedeckt. Nachdem er wieder zur Be-
sinnung gekommen war, erzählte er, daß er, auf dem
Abtritte sitzend, einen Mann mit ganz schwarzem Kopfe,
den er für den Schlotfeger gehalten, heranschleichen ge-
sehen habe. Dieser Mann habe ihm, so wie er den
Kopf hervorgestreckt, einen Schlag auf die Stirne ge-
geben, in Folge dessen er sogleich auf den Boden ge-
stürzt sei. Nachdem er wieder zu sich gekommen, habe
er zur Mutter seines Lehrers hinaufgewollt, sei aber
in der Angst zuerst an seine Stube und sodann wieder
die Treppe hinunter an den Keller gekommen, in dem
er sich verkrochen habe. Mit Recht nahm dieser Vor-
fall die ausgezeichnetste Thätigkeit der Justiz= und Po-
lizeibehörden in Anspruch, allein alle Nachforschungen
waren erfolglos und fügten zu den alten Räthseln nur
noch neue schwierigere hinzu.

Unter den vielen Fremden, welche den berühmten
Findling zu sehen kamen, hatte zuletzt Hausers Genius
auch den Grafen Stanhope hinzugeführt, welcher ihn
liebgewann und ihn als seinen Pflegesohn förmlich an-
nahm. Der Graf schickte Hausern nach Ansbach, um
ihn weiter unterrichten und dann nach England kommen
zu lassen. Dem Präsidenten von Feuerbach übergab er
eine bedeutende Summe zur Förderung der Untersuchung
und zur Verfolgung jeder Spur.

Kaspar Hauser, welcher seit 2 Jahren in Anspach
lebte und auf einer dortigen Kanzlei arbeitete, begab
sich am 14. December 1833 Mittags von der Kanzlei zu
Hause, als ein wohlgekleideter Mann ihn unterwegs
anredete und ihn einlud, ihn zu begleiten, weil er ihm
[Ende Spaltensatz]

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Einige Zeit vor der Wegführung nach Nürnberg hatte der Mann sich in dem Kerker öfters eingefunden und den Gefangenen durch Führung seiner Hand im Schreiben, so wie durch Aufheben der Füße im Gehen unterrichtet. Endlich hatte er ihn einmal auf die Schultern gelegt, zu dem Loche heraus einen Berg ( oder eine Treppe ) hinaufge- tragen und sich mit ihm auf die Reise nach Nürnberg begeben. Von Allem, was Hausern unterwegs in die offenen Augen und Ohren gedrungen, oder er sonst empfunden, war nichts von ihm zu erfragen, das über die Gegend, aus welcher er gekommen, oder über die Richtung, Länge und Dauer des Wegs nur den gering- sten Aufschluß hätte geben können; nur an unbedeutende, sich von selbst verstehende Dinge erinnerte er sich. Nicht einmal das Gesicht des Mannes, mit welchem er in der letzten Zeit seiner Gefangenschaft öfters umging, hat er beschrieben und will es, obwol es nicht vermummt war, nie angeblickt haben, weil es ihm verboten worden. Am 18. Juli 1828 wurde Hauser dem Professor Daumer zu Nürnberg zur Erziehung in seinem Hause anvertraut. Seine Fortschritte waren im Ganzen ge- ring und wurden zuletzt durch Kränklichkeit und einen Vorfall unterbrochen, der die ziemlich gesunkene Theil- nahme der Bewohner Nürnbergs wie des Auslandes aufs Neue in hohem Grade aufregte. Am 17. Oktober ( 1829 ) Mittags fand man nämlich Hausern in einem Winkel des Kellers, wie todt daliegend, das bleiche Gesicht mit Blut bedeckt. Nachdem er wieder zur Be- sinnung gekommen war, erzählte er, daß er, auf dem Abtritte sitzend, einen Mann mit ganz schwarzem Kopfe, den er für den Schlotfeger gehalten, heranschleichen ge- sehen habe. Dieser Mann habe ihm, so wie er den Kopf hervorgestreckt, einen Schlag auf die Stirne ge- geben, in Folge dessen er sogleich auf den Boden ge- stürzt sei. Nachdem er wieder zu sich gekommen, habe er zur Mutter seines Lehrers hinaufgewollt, sei aber in der Angst zuerst an seine Stube und sodann wieder die Treppe hinunter an den Keller gekommen, in dem er sich verkrochen habe. Mit Recht nahm dieser Vor- fall die ausgezeichnetste Thätigkeit der Justiz= und Po- lizeibehörden in Anspruch, allein alle Nachforschungen waren erfolglos und fügten zu den alten Räthseln nur noch neue schwierigere hinzu. Unter den vielen Fremden, welche den berühmten Findling zu sehen kamen, hatte zuletzt Hausers Genius auch den Grafen Stanhope hinzugeführt, welcher ihn liebgewann und ihn als seinen Pflegesohn förmlich an- nahm. Der Graf schickte Hausern nach Ansbach, um ihn weiter unterrichten und dann nach England kommen zu lassen. Dem Präsidenten von Feuerbach übergab er eine bedeutende Summe zur Förderung der Untersuchung und zur Verfolgung jeder Spur. Kaspar Hauser, welcher seit 2 Jahren in Anspach lebte und auf einer dortigen Kanzlei arbeitete, begab sich am 14. December 1833 Mittags von der Kanzlei zu Hause, als ein wohlgekleideter Mann ihn unterwegs anredete und ihn einlud, ihn zu begleiten, weil er ihm

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Zitationshilfe: Das Heller-Blatt. Nr. 12. Breslau, 22. März 1834, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_heller12_1834/7>, abgerufen am 01.06.2024.