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Mährisches Tagblatt. Nr. 20, Olmütz, 26.01.1891.

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[Spaltenumbruch]
Verlorene Jahre.


= Ist er ausgeträumt der stolze Traum
der Versöhnungsära; verfliegen die wunderlichen
Nebelbilder, mit welchen man das System auf-
geputzt hatte, das seit einem Dutzend von Jah-
ren an dem Leibe unseres Vaterlandes herumex-
perimentirte? Noch nicht ganz, so scheint es,
wollen die Traumgestalten verschwinden, man
reibt sich erst den Schlaf aus den Augen und
das volle Licht, das auf die trübe Nacht der
Versöhnungsära, auf den ganzen dunklen Spuck
fällt, den man für heilbringende Regierungsweis-
heit gepriesen hat, ist noch zu grell. Man glaubt
sich schützen zu können, indem man die Augen
schließt. Vergebliche Mühe! Das Licht dringt
strahlend durch und in seinem hellen Glanze liegt
der offene Bankerott des Systems vor uns, dem
mit dem gestern veröffentlichten kaiserlichen Pa-
tente der Todtenzettel geschrieben wurde. Zwei-
fellos der Todtenzettel. Dena was ist der plötz-
liche Appell an die Einsicht und den Patrio-
tismus der Wähler anderes, als das stille Ein-
geständniß, daß jene Parlamentsmajorität,
welche von dem bis nun herrschenden Regierungs-
systeme selbst geschaffen und durch Concessionen
großgefüttert worden war, unfähig ist den
Anforderungen der Staatsnothwendigkeit, den
Aufgaben der modernen Gesetzgebung zu ent-
sprechen? Selten noch wurde ein Parla-
ment mit so beschämendem Zeugnisse heim-
geschickt; seltener noch findet man Staatsmänner,
die sich zu dem Bekenntnisse gezwungen sehen, daß
die Parlamentsmajorität, die ihr Stab und
ihre Stütze war, von welcher die Minister selbst
noch vor Kurzem verkündeten, daß sie mit ihr
eines Sinnes seien, daß diese Parlamentsmajorität
nicht die Kraft, nicht das Talent besitze "die
Politik des Staates unter allen Umständen mit
Festigkeit den richtigen Zielen zuzuführen."

Wenn aber dieses Zeugniß beschämend für
das Parlament ist, so ist es noch weit beschämen-
der für die Politik, die sich in dem Wahne
befand, daß mit diesem Parlamente die wichtigen
staatlichen Ziele erreicht werden können und die
an diesem Wahne zwölf volle Jabre festhielt.
Das reumüthige Bekenntniß des Irrthums mag
die Schuld verringern, die schlimmen Folgen des
Irrthums, die trüben Consequenzen des unheil-
bringenden Wahns können dadurch nimmermehr
aus der Welt geschafft werden.

Sie sind vorhanden, sie thürmen sich riesen-
groß vor uns, vor der Regierung selbst auf, der
[Spaltenumbruch] ersichtlich erst die tollen Sprünge des jung-
tschechischen Uebermuths im böhmischen Landtage
die Augen über die Ziele öffneten, denen man
auf den Bahnen des nun verleugneten Systems
zusteuerte. Dieser böhmische Landtag tagt merk-
würdiger Weise heute noch weiter, obgleich er als
ein Hemniß der Völkerversöhnung erkannt ist,
obgleich man ihm jeden kleinen Schritt zur Ver-
söhnung gewaltsam abringen muß; dem Reichs-
rathe aber, der dem Grabe zueilte, hat man vor-
zeitig den dünnen Lebensfaden abgeschnitten. Ihn
hält man nicht einmal mehr für fähig den
Staatshaushalt zu berathen, oder richtiger, man
besorgt, daß die tollen Sprünge, deren Zeuge
der böhmische Landtag ist, sich im Wiener Par-
lamente wiederholen könnten. Dem sollte offenbar
vorgebeugt werden. Der Regierung wurde plötzlich
vor ihrer eigenen Majorität bange. Sie erkannte
aus den Tiraden und voreiligen Expectorationen
der jungtschechischen Exaltados, daß sie nicht nur
um keinen Schritt zur Versöhnung vorwärts ge-
kommen, sondern vielmehr um 20 Jahre zurück-
geworfen und dort angelangt sei, wo Graf
Hohenwart im Jahre 1871 aufhörte, aufhören
mußte, bei dem tschechischen Staatsrechte, das mit
dem Rechte des Staates Oesterreich unver-
einbar ist und als solches bereits vor 20 Jahren
erkannt wurde. Wie einst der gegenwärtige
Finanzminister der deutschen Partei bei der
Budgetberathung zugerufen: "Ipse fecit", sie
selbst hat es gemacht, so darf man auch jetzt
dem Grafen Taaffe zurufen: Ipse fecit. Er
selbst hat die Zustände heraufbeschworen, zu deren
Beseitigung er nun die gemäßigten Männer aller
Parteien herbeiruft. Das System, das sich gestern
in der amtlichen Zeitung bankerott erklärte, es
trägt seinen Namen; er allein ist für die Sün-
den und Fehler dieses Systems verantwortlich.
Er war es, der die Mahnungen und Warnun-
gen nicht hören wollte, die so oft und so ver-
nehmlich aus dem deutschen Lager an sein Ohr
schlugen; er war es, den man als den Urheber
des Wortes von der factiösen Opposition be-
zeichnen darf, mit welchem die deutsche Partei
gebrandmarkt werden sollte, deren Männer jetzt
deutlich angerufen werden, mitzuwirken dabei "die
Politik des Staates richtigen Zielen zuzuführen."
Was man bisher als Ziel angesehen hatte, scheint
also offenbar nicht das richtige gewesen zu sein,
und die verwegene Sicherheit, mit der man er-
klärt hatte, ohne und gegen die Deutschen regie-
ren zu können, ist einem zaghaften Hilferuf
an dieselben Deutschen gewichen. Ob diese den
Ruf hören werden? Gewiß der Hilferuf klingt
an unser Ohr und findet lauten Widerhall in
[Spaltenumbruch] unseren Herzen, an deren Patriotismus, an deren
selbstlose Liebe zum Vaterlande noch nie verge-
gebens appellirt wurde. Allein unser Patriotis-
mus gilt dem Staate, nicht der Regierung, und
nur dem Dienste des Staates werden unsere
Führer ihre erprobte Kraft und ihr reiches Ta-
lent zur Verfügung stellen. Zur Rettung des ge-
borstenen Systems dürfen sie nicht berufen wer-
den, und keiner von ihnen dürfte auch die Lust
verspüren unter dem Grafen Taaffe zu dienen.
Ein Ministerportefeuille kann und darf sie nicht
locken, und der versinkende Glanz der Regierungs-
herrlichkeit ist wahrlich auch kein Kitzel, dem sie
nicht widerstehen könnten. Das System ist ge-
borsten, und es wäre ein Frevel an dem Staate,
wenn man glauben würde, es unter geänderter
Firma weiter führen zu können. Dieser Glaube
scheint leider zu bestehen. Dahin deutet wenigstens
jene Stelle des amtlichen Communiques, das ge-
wissermaßen die Stelle einer Thronrede an das
heimgeschickte Parlament vertritt, in welcher aber-
mals von den Rechten der Königreiche und Län-
der und von der religiösen Ueberzeugung gespro-
chen wird, welche die Grundlage der Regierungs-
principien bilden soll. Wir denken, auf dieser
Grundlage wurde nunmehr durch 12 Jahre
regiert, und ebenso lange hat man vergebens
versucht, die Rechte der Königreiche und Länder
mit der lebendigen Verfassung des Staates auf
Kosten der Letzteren in Einklang zu bringen.
Das Resultat ist nun der unleugbare Zusammen-
bruch und die Unmöglichkeit "fortzuwursteln",
wie der classische Ausspruch des Grafen Taaffe
lautete. Die religiöse Ueberzeugung des Einzelnen
sei hochgehalten, aber beim Staate, der aus
Millionen von Menschen mit verschiedener reli-
giöser Ueberzeugung besteht, kann man wohl nicht
von einer religiösen Ueberzeugung sprechen, auf
welcher dessen Existenzbedingungen ruhen sollen.
Und was soll erst wieder der föderalistische Auf-
putz von den Rechten der Königreiche und Län-
der? Ist man noch immer nicht von dem Wahne
geheilt, daß Oesterreich von verschiedenen Punkten
aus regiert werden könne? Will man durchaus
nochmals hören, daß man in Prag andere Alli-
anzen wünscht, als in Wien, daß man dort so
gerne und vehement mit den Gegnern der Freunde
und Alliirten unseres Reiches liebäugelt? Nein,
da gibt es kein Laviren, keine Halbheiten. Das
System ist geborsten, unwiderruflich geborsten,
und wenn der Mantel fällt, muß der Herzog
nach! Es geht nicht an, die Form zu zerschlagen
und den Inhalt nicht ausgießen zu wollen. Man
muß sich zu vollem Frontwechsel entschließen,
wenn man nicht zu dem Dutzend verlorener




[Spaltenumbruch]

Sichere Kunde dagegen bringt der Almanach
von der Mehrzahl unserer ehemaligen Bühnen-
leiter. Der alte Czernits -- er führt das
Epitheton "alt" seit zwanzig Jahren -- lebt in
Innsbruck, woselbst ihn die Munificenz eines
Cavaliers von drückender Sorge ums tägliche Brod
befreite; unser Landsmann, Julius Schwabe
ist Regisseur an einer der größeren Berliner
Bühnen. Sein Nachfolger Bertalan, dem
einzigen unserer Directoren, dem "die Kunst
eine melkende Kuh" gewesen, ruht von seinen
Bühnen-Erfolgen im Steyrerlande aus, Director
Fritzsche leitet noch immer mit seiner Gattin,
Frau Fritzsche-Wagner das ihm gehö-
rige Friedrich-Wilhelmstädtische Theater in Ber-
lin, das ihm bald des Glückes Fülle in den
Schoß wirft, bald wieder leidvolle Sorge berei-
tet, Director Raul führt mit Glück und Ge-
schick die Bühnen in Preßburg und Carlsbad an
der Seite seiner Gattin, die ebenfalls noch der
Bühne angehört, Director Müller scheiterte
vollkommen in Wiener-Neustadt, Director
Westen findet dagegen in Reichenberg
allgemeine Anerkennung und zum Theile
auch jene Gunst des Glücks, nach der er
hier vergebens rang; Director Stick beglückt
heuer die Budweiser mit Gschnasvorstellungen
und Director Schönerstädt, der im Alma-
nach gar nicht mehr genannt ist, scheint auch in
Deutschland nicht die Lorbeeren gefunden zu haben,
die ihm hier versagt waren.

Von den Künstlern, die unter den genannten
Directoren hier thätig waren, haben jene, die
zur Zeit der Direction Raul engagirt
waren, wohl die bedeutendsten Carrieren gemacht.
Konrad Löw wurde ans Burgtheater, Max
Pategg ans deutsche Volkstheater in Berlin,
[Spaltenumbruch] der Tenorist Weltlinger nach Hamburg und
später ans Hoftheater nach Kassel, die Sängerin
Nikolai ebenfalls nach Hamburg und später
nach Magdeburg engagirt. Adolf Wallnöfer
ist eine Zierde des Prager deutschen Theaters,
Capellmeister Mahler Director des königl. Hof-
operntheaters in Pest geworden; L. Klang
wirkt seit Jahren als Regisseur in Graz, der
Komiker Lindau im Theater a d. Wien, Fre-
derigk
als Regisseur am Hoftheater in Braun-
schweig, Manheit an der königl. Hofoper zu
Budapest, der Operettentenor Hauk in Frank-
furt a. M.

Der Bonivant, Herr Czagell wurde nach
Reval verschlagen, Frl. Gusti Zimmermann
nach Petersburg, Herr Leuthold nach Bern.
Frl. Gusti Galster, die zwischen Schauspiel
und Operette schwankt, ist in Linz thätig, Frl.
Hild ist leider abwärts bis nach Braunau ge-
kommen, Frl. Leeb bis nach Pilsen, während
der beliebte Komiker Netsch und die treffliche
Heldenmutter Frau Krauß derzeit bei Herrn
Raul in Preßburg engagirt sind. Auch unserer
Landsmännin, Frl. Bertha Hausner, der
Schülerin von Frau Krauß, die unter Director
Raul ihre ersten Bühnenversuche wagte, müssen
wir hier gedenken. Herzlich ungeschickt schritt sie
anfangs über die Bretter; allein der künstlerische
Funke, der ihre Seele entzündete, war nicht zu
verkennen, und in rascher Laufbahn kam sie von
hier nach Bremen, von da an's Berliner deutsche
Theater und von dort an's deutsche Volkstheater
nach Wien, zu dessen beliebtesten Mitgliedern sie
zählt. Auch der Bassist, Herr Fuchs, der gegen-
wärtig in Düsseldorf engagirt ist, war damals
hier thätig. Von den Mitgliedern der Bertalan'-
schen Direction sei hier Herr W. Horwitz, der
[Spaltenumbruch] an der Wiener Wiener Hofoper sich eine geach-
tete Stellung errungen hat, an erster Stelle ge-
nannt. Nach ihm müssen wir an Frl. Jenny
Stubel, die überaus beliebte Soubrette er-
innern, die seit Jahren am Friedrich Wilhelm-
städtischen Theater in Berlin engagirt ist. Von
dem trefflichen Schauspielpersonale jener Zeit
finden wir Frau Ludwig-Furlani in Graz,
woselbst auch die vortreffliche Majetti enga-
girt ist, Frl. Wank in Nürnberg, Herrn
Holm in Preßburg, Herrn Sternau in
Hamburg, Herrn Wilhelm Thaller in Prag,
wo er zu den beliebtesten Komikern des deutschen
Theaters zählt. Seine Schwester, Frau Thal-
ler,
die eine Zeit lang in München engagirt
war, wirkt gegenwärtig als Salondame in Lübeck,
während ihr Gatte, Capellmeister Hugo Schenk
am Theater a. d. Wien engagirt ist. Das Ehe-
paar Lechner-Thal führt die Direction der
Salzburger Bühne, der Operncapellmeister der
Bertalan'schen Aera, Herr Anger ist Capell-
meister am tschechischen Landestheater in Prag,
der Opernregisseur jener Zeit, Herr Chlu-
metzky
wirkt seitdem in gleicher Eigenschaft
verdienstvoll in Brünn, wo auch der Baritonist
Herr Korschen, der Sympathie des Publicums
sich erfreut.

Von dem Ensemble der Direction Fritzsche
haben nur zwei Mitglieder eine bedeutende
Laufbahn hinter sich, Frl. Conrad, die seit
Jahren dem Berliner k. Schauspiele angehört
und Frau Bauer, die k. u. k, Hofschauspielerin
in Wien ist und dort in zweiten Rollen wirkt.
Der Capellmeister der Aera Fritzsche, Herr
Federmann ist seither bei Herrn Fritsche
in Berlin engagirt, während der Komiker
Laska als Director seit 5 Jahren das Linzer


[Spaltenumbruch]
Verlorene Jahre.


= Iſt er ausgeträumt der ſtolze Traum
der Verſöhnungsära; verfliegen die wunderlichen
Nebelbilder, mit welchen man das Syſtem auf-
geputzt hatte, das ſeit einem Dutzend von Jah-
ren an dem Leibe unſeres Vaterlandes herumex-
perimentirte? Noch nicht ganz, ſo ſcheint es,
wollen die Traumgeſtalten verſchwinden, man
reibt ſich erſt den Schlaf aus den Augen und
das volle Licht, das auf die trübe Nacht der
Verſöhnungsära, auf den ganzen dunklen Spuck
fällt, den man für heilbringende Regierungsweis-
heit geprieſen hat, iſt noch zu grell. Man glaubt
ſich ſchützen zu können, indem man die Augen
ſchließt. Vergebliche Mühe! Das Licht dringt
ſtrahlend durch und in ſeinem hellen Glanze liegt
der offene Bankerott des Syſtems vor uns, dem
mit dem geſtern veröffentlichten kaiſerlichen Pa-
tente der Todtenzettel geſchrieben wurde. Zwei-
fellos der Todtenzettel. Dena was iſt der plötz-
liche Appell an die Einſicht und den Patrio-
tismus der Wähler anderes, als das ſtille Ein-
geſtändniß, daß jene Parlamentsmajorität,
welche von dem bis nun herrſchenden Regierungs-
ſyſteme ſelbſt geſchaffen und durch Conceſſionen
großgefüttert worden war, unfähig iſt den
Anforderungen der Staatsnothwendigkeit, den
Aufgaben der modernen Geſetzgebung zu ent-
ſprechen? Selten noch wurde ein Parla-
ment mit ſo beſchämendem Zeugniſſe heim-
geſchickt; ſeltener noch findet man Staatsmänner,
die ſich zu dem Bekenntniſſe gezwungen ſehen, daß
die Parlamentsmajorität, die ihr Stab und
ihre Stütze war, von welcher die Miniſter ſelbſt
noch vor Kurzem verkündeten, daß ſie mit ihr
eines Sinnes ſeien, daß dieſe Parlamentsmajorität
nicht die Kraft, nicht das Talent beſitze „die
Politik des Staates unter allen Umſtänden mit
Feſtigkeit den richtigen Zielen zuzuführen.“

Wenn aber dieſes Zeugniß beſchämend für
das Parlament iſt, ſo iſt es noch weit beſchämen-
der für die Politik, die ſich in dem Wahne
befand, daß mit dieſem Parlamente die wichtigen
ſtaatlichen Ziele erreicht werden können und die
an dieſem Wahne zwölf volle Jabre feſthielt.
Das reumüthige Bekenntniß des Irrthums mag
die Schuld verringern, die ſchlimmen Folgen des
Irrthums, die trüben Conſequenzen des unheil-
bringenden Wahns können dadurch nimmermehr
aus der Welt geſchafft werden.

Sie ſind vorhanden, ſie thürmen ſich rieſen-
groß vor uns, vor der Regierung ſelbſt auf, der
[Spaltenumbruch] erſichtlich erſt die tollen Sprünge des jung-
tſchechiſchen Uebermuths im böhmiſchen Landtage
die Augen über die Ziele öffneten, denen man
auf den Bahnen des nun verleugneten Syſtems
zuſteuerte. Dieſer böhmiſche Landtag tagt merk-
würdiger Weiſe heute noch weiter, obgleich er als
ein Hemniß der Völkerverſöhnung erkannt iſt,
obgleich man ihm jeden kleinen Schritt zur Ver-
ſöhnung gewaltſam abringen muß; dem Reichs-
rathe aber, der dem Grabe zueilte, hat man vor-
zeitig den dünnen Lebensfaden abgeſchnitten. Ihn
hält man nicht einmal mehr für fähig den
Staatshaushalt zu berathen, oder richtiger, man
beſorgt, daß die tollen Sprünge, deren Zeuge
der böhmiſche Landtag iſt, ſich im Wiener Par-
lamente wiederholen könnten. Dem ſollte offenbar
vorgebeugt werden. Der Regierung wurde plötzlich
vor ihrer eigenen Majorität bange. Sie erkannte
aus den Tiraden und voreiligen Expectorationen
der jungtſchechiſchen Exaltados, daß ſie nicht nur
um keinen Schritt zur Verſöhnung vorwärts ge-
kommen, ſondern vielmehr um 20 Jahre zurück-
geworfen und dort angelangt ſei, wo Graf
Hohenwart im Jahre 1871 aufhörte, aufhören
mußte, bei dem tſchechiſchen Staatsrechte, das mit
dem Rechte des Staates Oeſterreich unver-
einbar iſt und als ſolches bereits vor 20 Jahren
erkannt wurde. Wie einſt der gegenwärtige
Finanzminiſter der deutſchen Partei bei der
Budgetberathung zugerufen: „Ipse fecit“, ſie
ſelbſt hat es gemacht, ſo darf man auch jetzt
dem Grafen Taaffe zurufen: Ipse fecit. Er
ſelbſt hat die Zuſtände heraufbeſchworen, zu deren
Beſeitigung er nun die gemäßigten Männer aller
Parteien herbeiruft. Das Syſtem, das ſich geſtern
in der amtlichen Zeitung bankerott erklärte, es
trägt ſeinen Namen; er allein iſt für die Sün-
den und Fehler dieſes Syſtems verantwortlich.
Er war es, der die Mahnungen und Warnun-
gen nicht hören wollte, die ſo oft und ſo ver-
nehmlich aus dem deutſchen Lager an ſein Ohr
ſchlugen; er war es, den man als den Urheber
des Wortes von der factiöſen Oppoſition be-
zeichnen darf, mit welchem die deutſche Partei
gebrandmarkt werden ſollte, deren Männer jetzt
deutlich angerufen werden, mitzuwirken dabei „die
Politik des Staates richtigen Zielen zuzuführen.“
Was man bisher als Ziel angeſehen hatte, ſcheint
alſo offenbar nicht das richtige geweſen zu ſein,
und die verwegene Sicherheit, mit der man er-
klärt hatte, ohne und gegen die Deutſchen regie-
ren zu können, iſt einem zaghaften Hilferuf
an dieſelben Deutſchen gewichen. Ob dieſe den
Ruf hören werden? Gewiß der Hilferuf klingt
an unſer Ohr und findet lauten Widerhall in
[Spaltenumbruch] unſeren Herzen, an deren Patriotismus, an deren
ſelbſtloſe Liebe zum Vaterlande noch nie verge-
gebens appellirt wurde. Allein unſer Patriotis-
mus gilt dem Staate, nicht der Regierung, und
nur dem Dienſte des Staates werden unſere
Führer ihre erprobte Kraft und ihr reiches Ta-
lent zur Verfügung ſtellen. Zur Rettung des ge-
borſtenen Syſtems dürfen ſie nicht berufen wer-
den, und keiner von ihnen dürfte auch die Luſt
verſpüren unter dem Grafen Taaffe zu dienen.
Ein Miniſterportefeuille kann und darf ſie nicht
locken, und der verſinkende Glanz der Regierungs-
herrlichkeit iſt wahrlich auch kein Kitzel, dem ſie
nicht widerſtehen könnten. Das Syſtem iſt ge-
borſten, und es wäre ein Frevel an dem Staate,
wenn man glauben würde, es unter geänderter
Firma weiter führen zu können. Dieſer Glaube
ſcheint leider zu beſtehen. Dahin deutet wenigſtens
jene Stelle des amtlichen Communiques, das ge-
wiſſermaßen die Stelle einer Thronrede an das
heimgeſchickte Parlament vertritt, in welcher aber-
mals von den Rechten der Königreiche und Län-
der und von der religiöſen Ueberzeugung geſpro-
chen wird, welche die Grundlage der Regierungs-
principien bilden ſoll. Wir denken, auf dieſer
Grundlage wurde nunmehr durch 12 Jahre
regiert, und ebenſo lange hat man vergebens
verſucht, die Rechte der Königreiche und Länder
mit der lebendigen Verfaſſung des Staates auf
Koſten der Letzteren in Einklang zu bringen.
Das Reſultat iſt nun der unleugbare Zuſammen-
bruch und die Unmöglichkeit „fortzuwurſteln“,
wie der claſſiſche Ausſpruch des Grafen Taaffe
lautete. Die religiöſe Ueberzeugung des Einzelnen
ſei hochgehalten, aber beim Staate, der aus
Millionen von Menſchen mit verſchiedener reli-
giöſer Ueberzeugung beſteht, kann man wohl nicht
von einer religiöſen Ueberzeugung ſprechen, auf
welcher deſſen Exiſtenzbedingungen ruhen ſollen.
Und was ſoll erſt wieder der föderaliſtiſche Auf-
putz von den Rechten der Königreiche und Län-
der? Iſt man noch immer nicht von dem Wahne
geheilt, daß Oeſterreich von verſchiedenen Punkten
aus regiert werden könne? Will man durchaus
nochmals hören, daß man in Prag andere Alli-
anzen wünſcht, als in Wien, daß man dort ſo
gerne und vehement mit den Gegnern der Freunde
und Alliirten unſeres Reiches liebäugelt? Nein,
da gibt es kein Laviren, keine Halbheiten. Das
Syſtem iſt geborſten, unwiderruflich geborſten,
und wenn der Mantel fällt, muß der Herzog
nach! Es geht nicht an, die Form zu zerſchlagen
und den Inhalt nicht ausgießen zu wollen. Man
muß ſich zu vollem Frontwechſel entſchließen,
wenn man nicht zu dem Dutzend verlorener




[Spaltenumbruch]

Sichere Kunde dagegen bringt der Almanach
von der Mehrzahl unſerer ehemaligen Bühnen-
leiter. Der alte Czernits — er führt das
Epitheton „alt“ ſeit zwanzig Jahren — lebt in
Innsbruck, woſelbſt ihn die Munificenz eines
Cavaliers von drückender Sorge ums tägliche Brod
befreite; unſer Landsmann, Julius Schwabe
iſt Regiſſeur an einer der größeren Berliner
Bühnen. Sein Nachfolger Bertalan, dem
einzigen unſerer Directoren, dem „die Kunſt
eine melkende Kuh“ geweſen, ruht von ſeinen
Bühnen-Erfolgen im Steyrerlande aus, Director
Fritzſche leitet noch immer mit ſeiner Gattin,
Frau Fritzſche-Wagner das ihm gehö-
rige Friedrich-Wilhelmſtädtiſche Theater in Ber-
lin, das ihm bald des Glückes Fülle in den
Schoß wirft, bald wieder leidvolle Sorge berei-
tet, Director Raul führt mit Glück und Ge-
ſchick die Bühnen in Preßburg und Carlsbad an
der Seite ſeiner Gattin, die ebenfalls noch der
Bühne angehört, Director Müller ſcheiterte
vollkommen in Wiener-Neuſtadt, Director
Weſten findet dagegen in Reichenberg
allgemeine Anerkennung und zum Theile
auch jene Gunſt des Glücks, nach der er
hier vergebens rang; Director Stick beglückt
heuer die Budweiſer mit Gſchnasvorſtellungen
und Director Schönerſtädt, der im Alma-
nach gar nicht mehr genannt iſt, ſcheint auch in
Deutſchland nicht die Lorbeeren gefunden zu haben,
die ihm hier verſagt waren.

Von den Künſtlern, die unter den genannten
Directoren hier thätig waren, haben jene, die
zur Zeit der Direction Raul engagirt
waren, wohl die bedeutendſten Carrieren gemacht.
Konrad Löw wurde ans Burgtheater, Max
Pategg ans deutſche Volkstheater in Berlin,
[Spaltenumbruch] der Tenoriſt Weltlinger nach Hamburg und
ſpäter ans Hoftheater nach Kaſſel, die Sängerin
Nikolai ebenfalls nach Hamburg und ſpäter
nach Magdeburg engagirt. Adolf Wallnöfer
iſt eine Zierde des Prager deutſchen Theaters,
Capellmeiſter Mahler Director des königl. Hof-
operntheaters in Peſt geworden; L. Klang
wirkt ſeit Jahren als Regiſſeur in Graz, der
Komiker Lindau im Theater a d. Wien, Fre-
derigk
als Regiſſeur am Hoftheater in Braun-
ſchweig, Manheit an der königl. Hofoper zu
Budapeſt, der Operettentenor Hauk in Frank-
furt a. M.

Der Bonivant, Herr Czagell wurde nach
Reval verſchlagen, Frl. Guſti Zimmermann
nach Petersburg, Herr Leuthold nach Bern.
Frl. Guſti Galſter, die zwiſchen Schauſpiel
und Operette ſchwankt, iſt in Linz thätig, Frl.
Hild iſt leider abwärts bis nach Braunau ge-
kommen, Frl. Leeb bis nach Pilſen, während
der beliebte Komiker Netſch und die treffliche
Heldenmutter Frau Krauß derzeit bei Herrn
Raul in Preßburg engagirt ſind. Auch unſerer
Landsmännin, Frl. Bertha Hausner, der
Schülerin von Frau Krauß, die unter Director
Raul ihre erſten Bühnenverſuche wagte, müſſen
wir hier gedenken. Herzlich ungeſchickt ſchritt ſie
anfangs über die Bretter; allein der künſtleriſche
Funke, der ihre Seele entzündete, war nicht zu
verkennen, und in raſcher Laufbahn kam ſie von
hier nach Bremen, von da an’s Berliner deutſche
Theater und von dort an’s deutſche Volkstheater
nach Wien, zu deſſen beliebteſten Mitgliedern ſie
zählt. Auch der Baſſiſt, Herr Fuchs, der gegen-
wärtig in Düſſeldorf engagirt iſt, war damals
hier thätig. Von den Mitgliedern der Bertalan’-
ſchen Direction ſei hier Herr W. Horwitz, der
[Spaltenumbruch] an der Wiener Wiener Hofoper ſich eine geach-
tete Stellung errungen hat, an erſter Stelle ge-
nannt. Nach ihm müſſen wir an Frl. Jenny
Stubel, die überaus beliebte Soubrette er-
innern, die ſeit Jahren am Friedrich Wilhelm-
ſtädtiſchen Theater in Berlin engagirt iſt. Von
dem trefflichen Schauſpielperſonale jener Zeit
finden wir Frau Ludwig-Furlani in Graz,
woſelbſt auch die vortreffliche Majetti enga-
girt iſt, Frl. Wank in Nürnberg, Herrn
Holm in Preßburg, Herrn Sternau in
Hamburg, Herrn Wilhelm Thaller in Prag,
wo er zu den beliebteſten Komikern des deutſchen
Theaters zählt. Seine Schweſter, Frau Thal-
ler,
die eine Zeit lang in München engagirt
war, wirkt gegenwärtig als Salondame in Lübeck,
während ihr Gatte, Capellmeiſter Hugo Schenk
am Theater a. d. Wien engagirt iſt. Das Ehe-
paar Lechner-Thal führt die Direction der
Salzburger Bühne, der Operncapellmeiſter der
Bertalan’ſchen Aera, Herr Anger iſt Capell-
meiſter am tſchechiſchen Landestheater in Prag,
der Opernregiſſeur jener Zeit, Herr Chlu-
metzky
wirkt ſeitdem in gleicher Eigenſchaft
verdienſtvoll in Brünn, wo auch der Baritoniſt
Herr Korſchen, der Sympathie des Publicums
ſich erfreut.

Von dem Enſemble der Direction Fritzſche
haben nur zwei Mitglieder eine bedeutende
Laufbahn hinter ſich, Frl. Conrad, die ſeit
Jahren dem Berliner k. Schauſpiele angehört
und Frau Bauer, die k. u. k, Hofſchauſpielerin
in Wien iſt und dort in zweiten Rollen wirkt.
Der Capellmeiſter der Aera Fritzſche, Herr
Federmann iſt ſeither bei Herrn Fritſche
in Berlin engagirt, während der Komiker
Laska als Director ſeit 5 Jahren das Linzer


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[[2]/0002] Verlorene Jahre. Olmütz, 26. Jänner. = Iſt er ausgeträumt der ſtolze Traum der Verſöhnungsära; verfliegen die wunderlichen Nebelbilder, mit welchen man das Syſtem auf- geputzt hatte, das ſeit einem Dutzend von Jah- ren an dem Leibe unſeres Vaterlandes herumex- perimentirte? Noch nicht ganz, ſo ſcheint es, wollen die Traumgeſtalten verſchwinden, man reibt ſich erſt den Schlaf aus den Augen und das volle Licht, das auf die trübe Nacht der Verſöhnungsära, auf den ganzen dunklen Spuck fällt, den man für heilbringende Regierungsweis- heit geprieſen hat, iſt noch zu grell. Man glaubt ſich ſchützen zu können, indem man die Augen ſchließt. Vergebliche Mühe! Das Licht dringt ſtrahlend durch und in ſeinem hellen Glanze liegt der offene Bankerott des Syſtems vor uns, dem mit dem geſtern veröffentlichten kaiſerlichen Pa- tente der Todtenzettel geſchrieben wurde. Zwei- fellos der Todtenzettel. Dena was iſt der plötz- liche Appell an die Einſicht und den Patrio- tismus der Wähler anderes, als das ſtille Ein- geſtändniß, daß jene Parlamentsmajorität, welche von dem bis nun herrſchenden Regierungs- ſyſteme ſelbſt geſchaffen und durch Conceſſionen großgefüttert worden war, unfähig iſt den Anforderungen der Staatsnothwendigkeit, den Aufgaben der modernen Geſetzgebung zu ent- ſprechen? Selten noch wurde ein Parla- ment mit ſo beſchämendem Zeugniſſe heim- geſchickt; ſeltener noch findet man Staatsmänner, die ſich zu dem Bekenntniſſe gezwungen ſehen, daß die Parlamentsmajorität, die ihr Stab und ihre Stütze war, von welcher die Miniſter ſelbſt noch vor Kurzem verkündeten, daß ſie mit ihr eines Sinnes ſeien, daß dieſe Parlamentsmajorität nicht die Kraft, nicht das Talent beſitze „die Politik des Staates unter allen Umſtänden mit Feſtigkeit den richtigen Zielen zuzuführen.“ Wenn aber dieſes Zeugniß beſchämend für das Parlament iſt, ſo iſt es noch weit beſchämen- der für die Politik, die ſich in dem Wahne befand, daß mit dieſem Parlamente die wichtigen ſtaatlichen Ziele erreicht werden können und die an dieſem Wahne zwölf volle Jabre feſthielt. Das reumüthige Bekenntniß des Irrthums mag die Schuld verringern, die ſchlimmen Folgen des Irrthums, die trüben Conſequenzen des unheil- bringenden Wahns können dadurch nimmermehr aus der Welt geſchafft werden. Sie ſind vorhanden, ſie thürmen ſich rieſen- groß vor uns, vor der Regierung ſelbſt auf, der erſichtlich erſt die tollen Sprünge des jung- tſchechiſchen Uebermuths im böhmiſchen Landtage die Augen über die Ziele öffneten, denen man auf den Bahnen des nun verleugneten Syſtems zuſteuerte. Dieſer böhmiſche Landtag tagt merk- würdiger Weiſe heute noch weiter, obgleich er als ein Hemniß der Völkerverſöhnung erkannt iſt, obgleich man ihm jeden kleinen Schritt zur Ver- ſöhnung gewaltſam abringen muß; dem Reichs- rathe aber, der dem Grabe zueilte, hat man vor- zeitig den dünnen Lebensfaden abgeſchnitten. Ihn hält man nicht einmal mehr für fähig den Staatshaushalt zu berathen, oder richtiger, man beſorgt, daß die tollen Sprünge, deren Zeuge der böhmiſche Landtag iſt, ſich im Wiener Par- lamente wiederholen könnten. Dem ſollte offenbar vorgebeugt werden. Der Regierung wurde plötzlich vor ihrer eigenen Majorität bange. Sie erkannte aus den Tiraden und voreiligen Expectorationen der jungtſchechiſchen Exaltados, daß ſie nicht nur um keinen Schritt zur Verſöhnung vorwärts ge- kommen, ſondern vielmehr um 20 Jahre zurück- geworfen und dort angelangt ſei, wo Graf Hohenwart im Jahre 1871 aufhörte, aufhören mußte, bei dem tſchechiſchen Staatsrechte, das mit dem Rechte des Staates Oeſterreich unver- einbar iſt und als ſolches bereits vor 20 Jahren erkannt wurde. Wie einſt der gegenwärtige Finanzminiſter der deutſchen Partei bei der Budgetberathung zugerufen: „Ipse fecit“, ſie ſelbſt hat es gemacht, ſo darf man auch jetzt dem Grafen Taaffe zurufen: Ipse fecit. Er ſelbſt hat die Zuſtände heraufbeſchworen, zu deren Beſeitigung er nun die gemäßigten Männer aller Parteien herbeiruft. Das Syſtem, das ſich geſtern in der amtlichen Zeitung bankerott erklärte, es trägt ſeinen Namen; er allein iſt für die Sün- den und Fehler dieſes Syſtems verantwortlich. Er war es, der die Mahnungen und Warnun- gen nicht hören wollte, die ſo oft und ſo ver- nehmlich aus dem deutſchen Lager an ſein Ohr ſchlugen; er war es, den man als den Urheber des Wortes von der factiöſen Oppoſition be- zeichnen darf, mit welchem die deutſche Partei gebrandmarkt werden ſollte, deren Männer jetzt deutlich angerufen werden, mitzuwirken dabei „die Politik des Staates richtigen Zielen zuzuführen.“ Was man bisher als Ziel angeſehen hatte, ſcheint alſo offenbar nicht das richtige geweſen zu ſein, und die verwegene Sicherheit, mit der man er- klärt hatte, ohne und gegen die Deutſchen regie- ren zu können, iſt einem zaghaften Hilferuf an dieſelben Deutſchen gewichen. Ob dieſe den Ruf hören werden? Gewiß der Hilferuf klingt an unſer Ohr und findet lauten Widerhall in unſeren Herzen, an deren Patriotismus, an deren ſelbſtloſe Liebe zum Vaterlande noch nie verge- gebens appellirt wurde. Allein unſer Patriotis- mus gilt dem Staate, nicht der Regierung, und nur dem Dienſte des Staates werden unſere Führer ihre erprobte Kraft und ihr reiches Ta- lent zur Verfügung ſtellen. Zur Rettung des ge- borſtenen Syſtems dürfen ſie nicht berufen wer- den, und keiner von ihnen dürfte auch die Luſt verſpüren unter dem Grafen Taaffe zu dienen. Ein Miniſterportefeuille kann und darf ſie nicht locken, und der verſinkende Glanz der Regierungs- herrlichkeit iſt wahrlich auch kein Kitzel, dem ſie nicht widerſtehen könnten. Das Syſtem iſt ge- borſten, und es wäre ein Frevel an dem Staate, wenn man glauben würde, es unter geänderter Firma weiter führen zu können. Dieſer Glaube ſcheint leider zu beſtehen. Dahin deutet wenigſtens jene Stelle des amtlichen Communiques, das ge- wiſſermaßen die Stelle einer Thronrede an das heimgeſchickte Parlament vertritt, in welcher aber- mals von den Rechten der Königreiche und Län- der und von der religiöſen Ueberzeugung geſpro- chen wird, welche die Grundlage der Regierungs- principien bilden ſoll. Wir denken, auf dieſer Grundlage wurde nunmehr durch 12 Jahre regiert, und ebenſo lange hat man vergebens verſucht, die Rechte der Königreiche und Länder mit der lebendigen Verfaſſung des Staates auf Koſten der Letzteren in Einklang zu bringen. Das Reſultat iſt nun der unleugbare Zuſammen- bruch und die Unmöglichkeit „fortzuwurſteln“, wie der claſſiſche Ausſpruch des Grafen Taaffe lautete. Die religiöſe Ueberzeugung des Einzelnen ſei hochgehalten, aber beim Staate, der aus Millionen von Menſchen mit verſchiedener reli- giöſer Ueberzeugung beſteht, kann man wohl nicht von einer religiöſen Ueberzeugung ſprechen, auf welcher deſſen Exiſtenzbedingungen ruhen ſollen. Und was ſoll erſt wieder der föderaliſtiſche Auf- putz von den Rechten der Königreiche und Län- der? Iſt man noch immer nicht von dem Wahne geheilt, daß Oeſterreich von verſchiedenen Punkten aus regiert werden könne? Will man durchaus nochmals hören, daß man in Prag andere Alli- anzen wünſcht, als in Wien, daß man dort ſo gerne und vehement mit den Gegnern der Freunde und Alliirten unſeres Reiches liebäugelt? Nein, da gibt es kein Laviren, keine Halbheiten. Das Syſtem iſt geborſten, unwiderruflich geborſten, und wenn der Mantel fällt, muß der Herzog nach! Es geht nicht an, die Form zu zerſchlagen und den Inhalt nicht ausgießen zu wollen. Man muß ſich zu vollem Frontwechſel entſchließen, wenn man nicht zu dem Dutzend verlorener Sichere Kunde dagegen bringt der Almanach von der Mehrzahl unſerer ehemaligen Bühnen- leiter. Der alte Czernits — er führt das Epitheton „alt“ ſeit zwanzig Jahren — lebt in Innsbruck, woſelbſt ihn die Munificenz eines Cavaliers von drückender Sorge ums tägliche Brod befreite; unſer Landsmann, Julius Schwabe iſt Regiſſeur an einer der größeren Berliner Bühnen. Sein Nachfolger Bertalan, dem einzigen unſerer Directoren, dem „die Kunſt eine melkende Kuh“ geweſen, ruht von ſeinen Bühnen-Erfolgen im Steyrerlande aus, Director Fritzſche leitet noch immer mit ſeiner Gattin, Frau Fritzſche-Wagner das ihm gehö- rige Friedrich-Wilhelmſtädtiſche Theater in Ber- lin, das ihm bald des Glückes Fülle in den Schoß wirft, bald wieder leidvolle Sorge berei- tet, Director Raul führt mit Glück und Ge- ſchick die Bühnen in Preßburg und Carlsbad an der Seite ſeiner Gattin, die ebenfalls noch der Bühne angehört, Director Müller ſcheiterte vollkommen in Wiener-Neuſtadt, Director Weſten findet dagegen in Reichenberg allgemeine Anerkennung und zum Theile auch jene Gunſt des Glücks, nach der er hier vergebens rang; Director Stick beglückt heuer die Budweiſer mit Gſchnasvorſtellungen und Director Schönerſtädt, der im Alma- nach gar nicht mehr genannt iſt, ſcheint auch in Deutſchland nicht die Lorbeeren gefunden zu haben, die ihm hier verſagt waren. Von den Künſtlern, die unter den genannten Directoren hier thätig waren, haben jene, die zur Zeit der Direction Raul engagirt waren, wohl die bedeutendſten Carrieren gemacht. Konrad Löw wurde ans Burgtheater, Max Pategg ans deutſche Volkstheater in Berlin, der Tenoriſt Weltlinger nach Hamburg und ſpäter ans Hoftheater nach Kaſſel, die Sängerin Nikolai ebenfalls nach Hamburg und ſpäter nach Magdeburg engagirt. Adolf Wallnöfer iſt eine Zierde des Prager deutſchen Theaters, Capellmeiſter Mahler Director des königl. Hof- operntheaters in Peſt geworden; L. Klang wirkt ſeit Jahren als Regiſſeur in Graz, der Komiker Lindau im Theater a d. Wien, Fre- derigk als Regiſſeur am Hoftheater in Braun- ſchweig, Manheit an der königl. Hofoper zu Budapeſt, der Operettentenor Hauk in Frank- furt a. M. Der Bonivant, Herr Czagell wurde nach Reval verſchlagen, Frl. Guſti Zimmermann nach Petersburg, Herr Leuthold nach Bern. Frl. Guſti Galſter, die zwiſchen Schauſpiel und Operette ſchwankt, iſt in Linz thätig, Frl. Hild iſt leider abwärts bis nach Braunau ge- kommen, Frl. Leeb bis nach Pilſen, während der beliebte Komiker Netſch und die treffliche Heldenmutter Frau Krauß derzeit bei Herrn Raul in Preßburg engagirt ſind. Auch unſerer Landsmännin, Frl. Bertha Hausner, der Schülerin von Frau Krauß, die unter Director Raul ihre erſten Bühnenverſuche wagte, müſſen wir hier gedenken. Herzlich ungeſchickt ſchritt ſie anfangs über die Bretter; allein der künſtleriſche Funke, der ihre Seele entzündete, war nicht zu verkennen, und in raſcher Laufbahn kam ſie von hier nach Bremen, von da an’s Berliner deutſche Theater und von dort an’s deutſche Volkstheater nach Wien, zu deſſen beliebteſten Mitgliedern ſie zählt. Auch der Baſſiſt, Herr Fuchs, der gegen- wärtig in Düſſeldorf engagirt iſt, war damals hier thätig. Von den Mitgliedern der Bertalan’- ſchen Direction ſei hier Herr W. Horwitz, der an der Wiener Wiener Hofoper ſich eine geach- tete Stellung errungen hat, an erſter Stelle ge- nannt. Nach ihm müſſen wir an Frl. Jenny Stubel, die überaus beliebte Soubrette er- innern, die ſeit Jahren am Friedrich Wilhelm- ſtädtiſchen Theater in Berlin engagirt iſt. Von dem trefflichen Schauſpielperſonale jener Zeit finden wir Frau Ludwig-Furlani in Graz, woſelbſt auch die vortreffliche Majetti enga- girt iſt, Frl. Wank in Nürnberg, Herrn Holm in Preßburg, Herrn Sternau in Hamburg, Herrn Wilhelm Thaller in Prag, wo er zu den beliebteſten Komikern des deutſchen Theaters zählt. Seine Schweſter, Frau Thal- ler, die eine Zeit lang in München engagirt war, wirkt gegenwärtig als Salondame in Lübeck, während ihr Gatte, Capellmeiſter Hugo Schenk am Theater a. d. Wien engagirt iſt. Das Ehe- paar Lechner-Thal führt die Direction der Salzburger Bühne, der Operncapellmeiſter der Bertalan’ſchen Aera, Herr Anger iſt Capell- meiſter am tſchechiſchen Landestheater in Prag, der Opernregiſſeur jener Zeit, Herr Chlu- metzky wirkt ſeitdem in gleicher Eigenſchaft verdienſtvoll in Brünn, wo auch der Baritoniſt Herr Korſchen, der Sympathie des Publicums ſich erfreut. Von dem Enſemble der Direction Fritzſche haben nur zwei Mitglieder eine bedeutende Laufbahn hinter ſich, Frl. Conrad, die ſeit Jahren dem Berliner k. Schauſpiele angehört und Frau Bauer, die k. u. k, Hofſchauſpielerin in Wien iſt und dort in zweiten Rollen wirkt. Der Capellmeiſter der Aera Fritzſche, Herr Federmann iſt ſeither bei Herrn Fritſche in Berlin engagirt, während der Komiker Laska als Director ſeit 5 Jahren das Linzer

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Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 20, Olmütz, 26.01.1891, S. [2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches20_1891/2>, abgerufen am 21.11.2024.