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Mährisches Tagblatt. Nr. 300, Olmütz, 30.12.1896.

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[Spaltenumbruch]

und ihrer Herrschaft Raum schaffen sollte. Cleve-
land widerstand mit bewunderungswürdiger
Energie diesem Anstürmen, und wenn bei der
Neuwahl des Präsidenten Mac Kinley fiegte, der
sich als Mann der Goldwährung proclamirte,
so ist das zum größten Theile das Verdienst des
scheidenden Staatsoberhauptes, welcher mit voller
Selbstverleugnung in die Agitation eingriff. So
ist wenigstens die Währungsfrage vorläufig aus
dem Bereiche der Erschütterung gezogen worden,
während der Hochschutzzoll allerdings neuen
Triumphen entgegensieht, wenn Mac Kinley von
der Stellung eines rücksichtslosen Congreßmit-
gliedes in die, Vorsicht und Zurückhaltung ge-
bietende Würde des Präsidenten der Union
vorrückt.

Zu den inneren Verlegenheiten ist nun noch
eine äußere Frage hinzugetreten. Ein großer
Theil der Bevölkerung der Union sympathisirt
mit den Aufständischen auf Cuba und im Senate
ist deren Anerkennung als kriegführende Macht
beantragt worden. Cleveland und sein Staats-
secretär des Aeußeren widerstehen mit Geschick.
In der sicheren Erkenntniß, daß einem solchen
Schritte die Kriegserklärung Spaniens auf dem
Fuße folgen würde, beruft sich Herr Olney
darauf, daß nach der Verfassung die gesetzgebende
Körperschaft in solche Dinge überhaupt nichts
dreinzureden habe, und verweigert die Erfüllung
des Verlangens. Man mag in den Vereinigten
Staaten aus den geringen Erfolgen der spani-
schen Armee gegen die Aufständischen den nicht
unberechtigten Schluß ziehen, daß die Frage für
Nordamerika so gut wie entschieden sei, wenn es
sich zu jener Anerkennung herbeiläßt, allein es
wäre doch gegen allen völkerrechtlichen Gebrauch,
auf solche Art sein Gebiet zu vergrößern. Die
Vereinigten Staaten würden von den anderen
Mächten geächtet, wenn sie zu einer solchen
Piratenpolitik herabstiegen. Sie mögen aus
irgend einem Grunde, selbst aus einem cubani-
schen, gegen Spanien die Waffen ziehen und das
Schwert entscheiden lassen, sie werden selbst im
Falle der größten Gewaltsamkeit sich an bekannte
Beispiele anlehnen können; der Fall jedoch, daß
Rebellen als kriegführende Macht anerkannt wur-
den, ist noch nicht vorgekommen. Dasselbe
Spanien, welchem jetzt ein Bein gestellt werden
soll, hätte Grund gehabt, füe die Secessionisten
dasselbe zu thun, und vermied den Schritt, ob-
wohl zwei wohlorganisirte Armeen in ordentlicher
Kriegführung einander gegenüberstanden. Es hielt
sich jedoch an den internationalen Anstand. Zur
Stunde vermag, sagt die "Wiener Montags-
R[e]vue", auch Cleveland noch Widerstand zu leisten,
wer aber kann wissen, ob nach ihm, und wenn
die Spanier auch weiter keine nennenswerthen
Fortschritte machen, die Aufregung in den Ver-
einigten Staaten nicht in einem solchen Maße
wächst, daß die verhänguißvolle Anerkennung den-
[Spaltenumbruch] noch geschieht. Auch diese Sorge nimmt Grover
Cleveland in das Privatleben mit.




Niederösterreichischer Landtag.


In der heutigen Sitzung des niederöster-
reichischen Landtages kam es zu so bewegten
Scenen, wie sie sich in der niederösterreichischen
Landtagsstube wohl kaum jemals zugetragen haben.

Auf der Tagesordnung standen die Wahlen
aus den Curien.

Während sich die Mitglieder der einzelnen
Curien in die verschiedenen Säle zur Berathung
zurückzogen, wird plötzlich aus dem an den
Sitzungssaal stoßenden Herrensaal, wo die
Stadtgemeindenvertreter beriethen, ein immer
stärker werdendes Lärmen und Schreien hörbar,
aus welchem wiederholt das Wort Ohrfeigen
deutlich hervortönt. Der Lärm wurde durch ein
heftiges Rencontre zwischen den Abg. Schneider
und Dr. Benedikt hervorgerufen. Bei der
Wahl in den Verwaltungsausschuß hatte nämlich
Dr. Kopp den Abg. Dr. Benedikt als Can-
didaten der Minorität vorgeschlagen. Abg.
Schneider, der, wie heute das antisemitische
Organ zu melden wußte, schon bei der gestrigen
Wahl in den Finanzausschuß, für welchen gleich-
falls Dr. Benedikt candidirt wurde, seinen Stimm-
zettel mit den Worten: "Ich wähle keinen
Juden!" ausgefüllt hatte, rief heute bei dem Vor-
schlage Dr. Kopp's laut in den Saal: "Ich
wähle keinen Juden!" Dr. Benedikt replicirte:
"Das ist eine Frechheit!" Nun entstand ein er-
regter Disput zwischen den beiden Abgeordneten,
in dessen Verlaufe Dr. Benedikt dem Abgeord-
neten Schneider zurief: "Ein nächstesmal gebe
ich Ihnen eine Ohrfeige!" Nun wurde der Streit
allgemein. Abg. Gregorig schreit: "Streitet
doch nicht wegen eines Juden!" Abg. Dr.
Lueger ruft: "Hier wird nicht geohrfeigt.
Wenn es aber wirklich zum Prügeln kommt,
wird es sich erst zeigen, wer stärker ist!" Noch
einige Minuten wogte der Streit auf und ab,
bis endlich so weit Ruhe eintrat, um die Wahlen
vornehmen zu können.

Die Antisemiten beschlossen die Affaire
Benedikt-Schneider durch einen Dring-
lichkeitsantrag vor das Plenum zu bringen.
Dieser Antrag geht dahin dem Abg. Dr. Benedikt
die tiefste Entrüstung und Mißbilligung aus-
zusprechen.

Nach Einbringung des Antrages erklärt der
Landmarschall er werde diese Angelegenheit,
die nicht in öffentlicher, sondern in geschlossener
Sitzung einer Curie vorgefallen, nicht zur Be-
handlung in öffentlicher Sitzung des Landtages
zulassen.

Abg. Dr. Lueger: Es ist wohl wahr,
daß dies der erste derartige Fall im parlamen-
[Spaltenumbruch] tarischen Leben Oesterreichs ist, er ist aber nach
meiner Ueberzeugung auch der erste Fall eines
derartigen Benehmens, das nach unserer Ueber-
zeugung nicht ungerügt hingenommen werden
kann. Nachdem dem Landmarschall über die Vor-
gänge in den Curien kein Disciplinarrecht zu-
steht, muß sich der ganze Landtag dieser Sache
bemächtigen. Ich bitte um die dringliche Be-
handlung meines Antrages.

Der Landmarschall beharrt bei seiner Auf-
fassung und erklärt, eine weitere Discussion
nicht zuzulassen.

Abg. Gregorig erklärt, die in der Curie
gefallene Aeußerung sei als im Hause gefallen
zu betrachten.

Dr. Lueger: Ich bitte, über meinen An-
trag abstimmen zu lassen....

Landmarschall (einfallend): Herr Dr.
Lueger, Sie haben nicht das Wort! Wir schreiten
weiter in den Wahlen!

Auf diese Worte entsteht ein großer Lärm
auf der Rechten. Man ruft: Das gibt es nicht!
Keine Vergewaltigung! Wir wurden hieher ge-
sendet, um uns auszusprechen!

Dr. Lueger schreit: Ich erkläre Ihnen,
Herr Landmarschall, daß hier nicht weiter gewählt
wird, ehe diese Sache nicht im Plenum besprochen
ist. (Stürmischer Beifall rechts, an dem auch die
Galerie theilnimmt.) Wir lassen uns keine Ohr-
feigen antragen. (Rufe: Das geht nicht, Herr
Landmarschall! So lassen wir nicht mit uns um-
gehen!) Ich bitte, das Haus zu befragen.

Landmarschall: Es wurde der Antrag
gestellt, ob der Dringlichkeitsantrag verlesen
werden soll. Ich bitte die Herren, die dafür sind,
sich zu erheben Bei der Abstimmung erheben sich
die antisemitische Majorität und zwei Mitglieder
der Großgrundbesitzer-Curie für die Verlesung
des Antrages Lueger. Der Antrag lautet: "Bei
der heute vorgenommenen Wahl der Ausschüsse in
der Städtecurie appellirte (soll wol heißen apo-
strophirte) Abg. Benedikt den Abg. Schneider:
In Zukunft werde ich Sie ohrfeigen! Rufe der
Antisemiten: Das ist die neue Social-Politik!
Pfui! Pfui!) Dieser Zuruf beweist eine pöbel-
hafte Gesinnung und zeigt eine solche Unbildung
dieses Abgeordneten, daß demselben von Seite
des Landtages eine Zurechtweisung zu Theil werden
muß. Wir stellen daher den Antrag, der Land-
tag beschließe, dem Abg. Benedikt wird wegen
seines unqualificirbaren Benehmens die tiefste
Entrüstung und Mißbilligung ausgesprochen."
(Lauter Beifall rechts.)

Abg. Gregorig beantragt die Befragung
des Hauses, was der Landmarschall zuläßt.

Das Haus beschließt den Dringlichkeitsan-
trag Luegers in Berathung zu ziehen.

Abg. Dr. Benedikt: Ich hatte nicht be-
absichtigt, bereits am zweiten Tage der Session
in irgend einer Weise in den Vordergrund zu




[Spaltenumbruch]

verdrängt werden, sondern es könnte davon nur
eine Verbesserung und Verbilligung erwarten,
da dem Steinkohlengase, welches Spuren von
Acetylen stets enthält, durch eine größere Bei-
mischung desselben eine weit erhöhtere Leuchtkraft
verliehen werden kann.

Aber das neue Gas erschien, bevor man
seine bösen Eigenschaften, die sich nun zu mehreren
Malen und zuletzt in der schrecklichen Berliner
Explosionscatastrophe vom 11. December so
fürchterlich offenbarten, genauer kannte, einer weit
vielseitigeren Verwendung fähig. Vor allem be-
sitzt es ja eine Eigenschaft, die dem Leuchtgas
fast ganz abgeht und deren Mangel letzterem
niemals eine unbedingte Herrschaft über das
Petroleum gestatten wird. Das Leuchtgas will
überallhin durch Röhren geleitet sein, das Acetylen
dagegen läßt sich, und zwar am bequemsten in
seiner Zwischenform als Carbid, transportiren,
wohin man es wünscht. Eine Gaslampe in der
Gestalt einer tragbaren Petroleumlampe ist noch
immer ein frommer Wunsch, eine Acetylenlampe,
die viel sauberer und ebenso bequem wie die
Petrolenmlampe mit Carbidstückchen gefüllt wird,
war dagegen eine der ersten Erfindungen, die
der Einführung des Acetylens folgten. Für
häusliche Zwecke wird vorläusig, aber auch nur
vorläufig, das Petroleum noch den Vorzug der
größeren Wohlfeilheit vor dem Acetylen haben,
obwohl man z. B. in Frankreich, wo hohe
Petroleumzölle auch der Gasbeleuchtung eine viel
größere Rolle als bei uns verschafft haben, der
[Spaltenumbruch] Acetylenlampe schon jetzt großes Gewicht beimißt.
Für Straßen- oder Eisenbahnbeleuchtung dagegen,
für Leuchtbojen und ähnliche isolirte oder in
Bewegung besindliche Leuchtkörper kann das Acetylen
schon jetzt unter allen Umständen eine große
Wichtigkeit erlangen, denn die jetzt für diese
Zwecke üblichen Methoden der Gasbeleuchtung
sind noch keineswegs vollkommen. Die mangel-
hafte Eisenbahnbeleuchtung mit Fettgas, die wir
jetzt genießen, macht bekanntlich für jeden Wagen
einen großen Behälter nothwendig, um das com-
primirte Gas unter 8--10 Athmosphärendruck
mitzuführen. Ein paar Kilogramm Carbid, an
Ort und Stelle aufgelöst, besitzen mindestens die-
selbe Leuchtkraft. Ja das Acetylen hat noch einen
weiteren großen Vorzug, der sogar die Unbequem-
lichkeit, es überall erst in besonderen Apparaten
aus Carbid herstellen zu müssen, b[e]seitigt: es
läßt sich sehr leicht verflüssigen und in druck-
sicheren Gefäßen versenden, wie man Kohlensäure
und andere Gase in Stahlflaschen verschickt. Da
diese Flaschen meist auf 200 bis 400 Athmosphären
geprüft werden, so hätte die Aufspeicherung des
nur auf 40--50 Athmosphären gespannten flüssigen
Acetylens in ihnen gar keine Schwierigkeiten,
-- wenn nicht ein Umstand wäre, auf den ich
gleich zurückkommen werde, und der, wie es scheint,
der ganzen Acetylenindustrie einen argen Stoß
versetzt hat.

Man hat aber von dem Acetylen noch
ganz andere Dinge erhofft, als nur eine Hebung
der Beleuchtung. Die Thatsache, daß das flüssige
[Spaltenumbruch] Gas oder auch nur das Calciumcarbid es ge-
stattet, die an großen Wasserkräften oder Kohlen-
districten gewonnene Energie weithin zu trans-
portiren, ohne wie beim Leuchtgas oder bei der
Elektricität, eine Leitung nöthig zu haben, ließ
weitere große Hoffnungen zu. Da augenblicklich
die Technik der Gaskraftmaschine zu außer-
ordentlicher Höhe gesteigert ist, dachte man darauf,
die Gasmotoren durch Acetylen anstatt Leucht-
gas zu treiben und dergestalt die in Form von
Carbid versteinerte Kraft der Ströme an anderen
Orten durch Gasmotore wieder lebendig zu
machen. Theoretiker von hervorragender Bedeutung,
wie A. v. Ihering, haben nachgewiesen, daß bei
einer billigen Massenherstellung des Calcium-
carbids in Zukunft die Acetylenmaschine mit
der Dampfmaschine concurriren könne, und
wieder andere sahen hereits die Kriegsschiffe und
Schnelldampfer der Zukunft mit Gasmotoren
ausgerüstet und ohne die schwere Kesselbatterie,
nur von Carbid anstatt Kohle beschwert, in den
Ocean hinaussteuern. Noch viel mehr! Auch der
Chemie sollten aus der Acetylen-Aera neue, un-
erhörte Fortschritte erwachsen. Das merkwürdige
Gas ist einer der leichtreagirendsten Körper, die
wir besitzen. Eine Menge von chemischen Pro-
ducten, die wir bisher nur auf mühsamen Um-
wegen, größtentheils aus dem Steinkohlentheer,
herstellen können, lassen sich aus dem Acetylen
ganz leicht und einfach zusammensetzen. Andere,
wie Alcohol, Essigsäure und mehrere weitere,
lassen sich zwar nicht aus Acetylen machen, wohl


[Spaltenumbruch]

und ihrer Herrſchaft Raum ſchaffen ſollte. Cleve-
land widerſtand mit bewunderungswürdiger
Energie dieſem Anſtürmen, und wenn bei der
Neuwahl des Präſidenten Mac Kinley fiegte, der
ſich als Mann der Goldwährung proclamirte,
ſo iſt das zum größten Theile das Verdienſt des
ſcheidenden Staatsoberhauptes, welcher mit voller
Selbſtverleugnung in die Agitation eingriff. So
iſt wenigſtens die Währungsfrage vorläufig aus
dem Bereiche der Erſchütterung gezogen worden,
während der Hochſchutzzoll allerdings neuen
Triumphen entgegenſieht, wenn Mac Kinley von
der Stellung eines rückſichtsloſen Congreßmit-
gliedes in die, Vorſicht und Zurückhaltung ge-
bietende Würde des Präſidenten der Union
vorrückt.

Zu den inneren Verlegenheiten iſt nun noch
eine äußere Frage hinzugetreten. Ein großer
Theil der Bevölkerung der Union ſympathiſirt
mit den Aufſtändiſchen auf Cuba und im Senate
iſt deren Anerkennung als kriegführende Macht
beantragt worden. Cleveland und ſein Staats-
ſecretär des Aeußeren widerſtehen mit Geſchick.
In der ſicheren Erkenntniß, daß einem ſolchen
Schritte die Kriegserklärung Spaniens auf dem
Fuße folgen würde, beruft ſich Herr Olney
darauf, daß nach der Verfaſſung die geſetzgebende
Körperſchaft in ſolche Dinge überhaupt nichts
dreinzureden habe, und verweigert die Erfüllung
des Verlangens. Man mag in den Vereinigten
Staaten aus den geringen Erfolgen der ſpani-
ſchen Armee gegen die Aufſtändiſchen den nicht
unberechtigten Schluß ziehen, daß die Frage für
Nordamerika ſo gut wie entſchieden ſei, wenn es
ſich zu jener Anerkennung herbeiläßt, allein es
wäre doch gegen allen völkerrechtlichen Gebrauch,
auf ſolche Art ſein Gebiet zu vergrößern. Die
Vereinigten Staaten würden von den anderen
Mächten geächtet, wenn ſie zu einer ſolchen
Piratenpolitik herabſtiegen. Sie mögen aus
irgend einem Grunde, ſelbſt aus einem cubani-
ſchen, gegen Spanien die Waffen ziehen und das
Schwert entſcheiden laſſen, ſie werden ſelbſt im
Falle der größten Gewaltſamkeit ſich an bekannte
Beiſpiele anlehnen können; der Fall jedoch, daß
Rebellen als kriegführende Macht anerkannt wur-
den, iſt noch nicht vorgekommen. Dasſelbe
Spanien, welchem jetzt ein Bein geſtellt werden
ſoll, hätte Grund gehabt, füe die Seceſſioniſten
dasſelbe zu thun, und vermied den Schritt, ob-
wohl zwei wohlorganiſirte Armeen in ordentlicher
Kriegführung einander gegenüberſtanden. Es hielt
ſich jedoch an den internationalen Anſtand. Zur
Stunde vermag, ſagt die „Wiener Montags-
R[e]vue“, auch Cleveland noch Widerſtand zu leiſten,
wer aber kann wiſſen, ob nach ihm, und wenn
die Spanier auch weiter keine nennenswerthen
Fortſchritte machen, die Aufregung in den Ver-
einigten Staaten nicht in einem ſolchen Maße
wächſt, daß die verhänguißvolle Anerkennung den-
[Spaltenumbruch] noch geſchieht. Auch dieſe Sorge nimmt Grover
Cleveland in das Privatleben mit.




Niederöſterreichiſcher Landtag.


In der heutigen Sitzung des niederöſter-
reichiſchen Landtages kam es zu ſo bewegten
Scenen, wie ſie ſich in der niederöſterreichiſchen
Landtagsſtube wohl kaum jemals zugetragen haben.

Auf der Tagesordnung ſtanden die Wahlen
aus den Curien.

Während ſich die Mitglieder der einzelnen
Curien in die verſchiedenen Säle zur Berathung
zurückzogen, wird plötzlich aus dem an den
Sitzungsſaal ſtoßenden Herrenſaal, wo die
Stadtgemeindenvertreter beriethen, ein immer
ſtärker werdendes Lärmen und Schreien hörbar,
aus welchem wiederholt das Wort Ohrfeigen
deutlich hervortönt. Der Lärm wurde durch ein
heftiges Rencontre zwiſchen den Abg. Schneider
und Dr. Benedikt hervorgerufen. Bei der
Wahl in den Verwaltungsausſchuß hatte nämlich
Dr. Kopp den Abg. Dr. Benedikt als Can-
didaten der Minorität vorgeſchlagen. Abg.
Schneider, der, wie heute das antiſemitiſche
Organ zu melden wußte, ſchon bei der geſtrigen
Wahl in den Finanzausſchuß, für welchen gleich-
falls Dr. Benedikt candidirt wurde, ſeinen Stimm-
zettel mit den Worten: „Ich wähle keinen
Juden!“ ausgefüllt hatte, rief heute bei dem Vor-
ſchlage Dr. Kopp’s laut in den Saal: „Ich
wähle keinen Juden!“ Dr. Benedikt replicirte:
„Das iſt eine Frechheit!“ Nun entſtand ein er-
regter Disput zwiſchen den beiden Abgeordneten,
in deſſen Verlaufe Dr. Benedikt dem Abgeord-
neten Schneider zurief: „Ein nächſtesmal gebe
ich Ihnen eine Ohrfeige!“ Nun wurde der Streit
allgemein. Abg. Gregorig ſchreit: „Streitet
doch nicht wegen eines Juden!“ Abg. Dr.
Lueger ruft: „Hier wird nicht geohrfeigt.
Wenn es aber wirklich zum Prügeln kommt,
wird es ſich erſt zeigen, wer ſtärker iſt!“ Noch
einige Minuten wogte der Streit auf und ab,
bis endlich ſo weit Ruhe eintrat, um die Wahlen
vornehmen zu können.

Die Antiſemiten beſchloſſen die Affaire
Benedikt-Schneider durch einen Dring-
lichkeitsantrag vor das Plenum zu bringen.
Dieſer Antrag geht dahin dem Abg. Dr. Benedikt
die tiefſte Entrüſtung und Mißbilligung aus-
zuſprechen.

Nach Einbringung des Antrages erklärt der
Landmarſchall er werde dieſe Angelegenheit,
die nicht in öffentlicher, ſondern in geſchloſſener
Sitzung einer Curie vorgefallen, nicht zur Be-
handlung in öffentlicher Sitzung des Landtages
zulaſſen.

Abg. Dr. Lueger: Es iſt wohl wahr,
daß dies der erſte derartige Fall im parlamen-
[Spaltenumbruch] tariſchen Leben Oeſterreichs iſt, er iſt aber nach
meiner Ueberzeugung auch der erſte Fall eines
derartigen Benehmens, das nach unſerer Ueber-
zeugung nicht ungerügt hingenommen werden
kann. Nachdem dem Landmarſchall über die Vor-
gänge in den Curien kein Disciplinarrecht zu-
ſteht, muß ſich der ganze Landtag dieſer Sache
bemächtigen. Ich bitte um die dringliche Be-
handlung meines Antrages.

Der Landmarſchall beharrt bei ſeiner Auf-
faſſung und erklärt, eine weitere Discuſſion
nicht zuzulaſſen.

Abg. Gregorig erklärt, die in der Curie
gefallene Aeußerung ſei als im Hauſe gefallen
zu betrachten.

Dr. Lueger: Ich bitte, über meinen An-
trag abſtimmen zu laſſen....

Landmarſchall (einfallend): Herr Dr.
Lueger, Sie haben nicht das Wort! Wir ſchreiten
weiter in den Wahlen!

Auf dieſe Worte entſteht ein großer Lärm
auf der Rechten. Man ruft: Das gibt es nicht!
Keine Vergewaltigung! Wir wurden hieher ge-
ſendet, um uns auszuſprechen!

Dr. Lueger ſchreit: Ich erkläre Ihnen,
Herr Landmarſchall, daß hier nicht weiter gewählt
wird, ehe dieſe Sache nicht im Plenum beſprochen
iſt. (Stürmiſcher Beifall rechts, an dem auch die
Galerie theilnimmt.) Wir laſſen uns keine Ohr-
feigen antragen. (Rufe: Das geht nicht, Herr
Landmarſchall! So laſſen wir nicht mit uns um-
gehen!) Ich bitte, das Haus zu befragen.

Landmarſchall: Es wurde der Antrag
geſtellt, ob der Dringlichkeitsantrag verleſen
werden ſoll. Ich bitte die Herren, die dafür ſind,
ſich zu erheben Bei der Abſtimmung erheben ſich
die antiſemitiſche Majorität und zwei Mitglieder
der Großgrundbeſitzer-Curie für die Verleſung
des Antrages Lueger. Der Antrag lautet: „Bei
der heute vorgenommenen Wahl der Ausſchüſſe in
der Städtecurie appellirte (ſoll wol heißen apo-
ſtrophirte) Abg. Benedikt den Abg. Schneider:
In Zukunft werde ich Sie ohrfeigen! Rufe der
Antiſemiten: Das iſt die neue Social-Politik!
Pfui! Pfui!) Dieſer Zuruf beweiſt eine pöbel-
hafte Geſinnung und zeigt eine ſolche Unbildung
dieſes Abgeordneten, daß demſelben von Seite
des Landtages eine Zurechtweiſung zu Theil werden
muß. Wir ſtellen daher den Antrag, der Land-
tag beſchließe, dem Abg. Benedikt wird wegen
ſeines unqualificirbaren Benehmens die tiefſte
Entrüſtung und Mißbilligung ausgeſprochen.“
(Lauter Beifall rechts.)

Abg. Gregorig beantragt die Befragung
des Hauſes, was der Landmarſchall zuläßt.

Das Haus beſchließt den Dringlichkeitsan-
trag Luegers in Berathung zu ziehen.

Abg. Dr. Benedikt: Ich hatte nicht be-
abſichtigt, bereits am zweiten Tage der Seſſion
in irgend einer Weiſe in den Vordergrund zu




[Spaltenumbruch]

verdrängt werden, ſondern es könnte davon nur
eine Verbeſſerung und Verbilligung erwarten,
da dem Steinkohlengaſe, welches Spuren von
Acetylen ſtets enthält, durch eine größere Bei-
miſchung desſelben eine weit erhöhtere Leuchtkraft
verliehen werden kann.

Aber das neue Gas erſchien, bevor man
ſeine böſen Eigenſchaften, die ſich nun zu mehreren
Malen und zuletzt in der ſchrecklichen Berliner
Exploſionscataſtrophe vom 11. December ſo
fürchterlich offenbarten, genauer kannte, einer weit
vielſeitigeren Verwendung fähig. Vor allem be-
ſitzt es ja eine Eigenſchaft, die dem Leuchtgas
faſt ganz abgeht und deren Mangel letzterem
niemals eine unbedingte Herrſchaft über das
Petroleum geſtatten wird. Das Leuchtgas will
überallhin durch Röhren geleitet ſein, das Acetylen
dagegen läßt ſich, und zwar am bequemſten in
ſeiner Zwiſchenform als Carbid, transportiren,
wohin man es wünſcht. Eine Gaslampe in der
Geſtalt einer tragbaren Petroleumlampe iſt noch
immer ein frommer Wunſch, eine Acetylenlampe,
die viel ſauberer und ebenſo bequem wie die
Petrolenmlampe mit Carbidſtückchen gefüllt wird,
war dagegen eine der erſten Erfindungen, die
der Einführung des Acetylens folgten. Für
häusliche Zwecke wird vorläuſig, aber auch nur
vorläufig, das Petroleum noch den Vorzug der
größeren Wohlfeilheit vor dem Acetylen haben,
obwohl man z. B. in Frankreich, wo hohe
Petroleumzölle auch der Gasbeleuchtung eine viel
größere Rolle als bei uns verſchafft haben, der
[Spaltenumbruch] Acetylenlampe ſchon jetzt großes Gewicht beimißt.
Für Straßen- oder Eiſenbahnbeleuchtung dagegen,
für Leuchtbojen und ähnliche iſolirte oder in
Bewegung beſindliche Leuchtkörper kann das Acetylen
ſchon jetzt unter allen Umſtänden eine große
Wichtigkeit erlangen, denn die jetzt für dieſe
Zwecke üblichen Methoden der Gasbeleuchtung
ſind noch keineswegs vollkommen. Die mangel-
hafte Eiſenbahnbeleuchtung mit Fettgas, die wir
jetzt genießen, macht bekanntlich für jeden Wagen
einen großen Behälter nothwendig, um das com-
primirte Gas unter 8—10 Athmoſphärendruck
mitzuführen. Ein paar Kilogramm Carbid, an
Ort und Stelle aufgelöſt, beſitzen mindeſtens die-
ſelbe Leuchtkraft. Ja das Acetylen hat noch einen
weiteren großen Vorzug, der ſogar die Unbequem-
lichkeit, es überall erſt in beſonderen Apparaten
aus Carbid herſtellen zu müſſen, b[e]ſeitigt: es
läßt ſich ſehr leicht verflüſſigen und in druck-
ſicheren Gefäßen verſenden, wie man Kohlenſäure
und andere Gaſe in Stahlflaſchen verſchickt. Da
dieſe Flaſchen meiſt auf 200 bis 400 Athmoſphären
geprüft werden, ſo hätte die Aufſpeicherung des
nur auf 40—50 Athmoſphären geſpannten flüſſigen
Acetylens in ihnen gar keine Schwierigkeiten,
— wenn nicht ein Umſtand wäre, auf den ich
gleich zurückkommen werde, und der, wie es ſcheint,
der ganzen Acetyleninduſtrie einen argen Stoß
verſetzt hat.

Man hat aber von dem Acetylen noch
ganz andere Dinge erhofft, als nur eine Hebung
der Beleuchtung. Die Thatſache, daß das flüſſige
[Spaltenumbruch] Gas oder auch nur das Calciumcarbid es ge-
ſtattet, die an großen Waſſerkräften oder Kohlen-
diſtricten gewonnene Energie weithin zu trans-
portiren, ohne wie beim Leuchtgas oder bei der
Elektricität, eine Leitung nöthig zu haben, ließ
weitere große Hoffnungen zu. Da augenblicklich
die Technik der Gaskraftmaſchine zu außer-
ordentlicher Höhe geſteigert iſt, dachte man darauf,
die Gasmotoren durch Acetylen anſtatt Leucht-
gas zu treiben und dergeſtalt die in Form von
Carbid verſteinerte Kraft der Ströme an anderen
Orten durch Gasmotore wieder lebendig zu
machen. Theoretiker von hervorragender Bedeutung,
wie A. v. Ihering, haben nachgewieſen, daß bei
einer billigen Maſſenherſtellung des Calcium-
carbids in Zukunft die Acetylenmaſchine mit
der Dampfmaſchine concurriren könne, und
wieder andere ſahen hereits die Kriegsſchiffe und
Schnelldampfer der Zukunft mit Gasmotoren
ausgerüſtet und ohne die ſchwere Keſſelbatterie,
nur von Carbid anſtatt Kohle beſchwert, in den
Ocean hinausſteuern. Noch viel mehr! Auch der
Chemie ſollten aus der Acetylen-Aera neue, un-
erhörte Fortſchritte erwachſen. Das merkwürdige
Gas iſt einer der leichtreagirendſten Körper, die
wir beſitzen. Eine Menge von chemiſchen Pro-
ducten, die wir bisher nur auf mühſamen Um-
wegen, größtentheils aus dem Steinkohlentheer,
herſtellen können, laſſen ſich aus dem Acetylen
ganz leicht und einfach zuſammenſetzen. Andere,
wie Alcohol, Eſſigſäure und mehrere weitere,
laſſen ſich zwar nicht aus Acetylen machen, wohl


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[[2]/0002] und ihrer Herrſchaft Raum ſchaffen ſollte. Cleve- land widerſtand mit bewunderungswürdiger Energie dieſem Anſtürmen, und wenn bei der Neuwahl des Präſidenten Mac Kinley fiegte, der ſich als Mann der Goldwährung proclamirte, ſo iſt das zum größten Theile das Verdienſt des ſcheidenden Staatsoberhauptes, welcher mit voller Selbſtverleugnung in die Agitation eingriff. So iſt wenigſtens die Währungsfrage vorläufig aus dem Bereiche der Erſchütterung gezogen worden, während der Hochſchutzzoll allerdings neuen Triumphen entgegenſieht, wenn Mac Kinley von der Stellung eines rückſichtsloſen Congreßmit- gliedes in die, Vorſicht und Zurückhaltung ge- bietende Würde des Präſidenten der Union vorrückt. Zu den inneren Verlegenheiten iſt nun noch eine äußere Frage hinzugetreten. Ein großer Theil der Bevölkerung der Union ſympathiſirt mit den Aufſtändiſchen auf Cuba und im Senate iſt deren Anerkennung als kriegführende Macht beantragt worden. Cleveland und ſein Staats- ſecretär des Aeußeren widerſtehen mit Geſchick. In der ſicheren Erkenntniß, daß einem ſolchen Schritte die Kriegserklärung Spaniens auf dem Fuße folgen würde, beruft ſich Herr Olney darauf, daß nach der Verfaſſung die geſetzgebende Körperſchaft in ſolche Dinge überhaupt nichts dreinzureden habe, und verweigert die Erfüllung des Verlangens. Man mag in den Vereinigten Staaten aus den geringen Erfolgen der ſpani- ſchen Armee gegen die Aufſtändiſchen den nicht unberechtigten Schluß ziehen, daß die Frage für Nordamerika ſo gut wie entſchieden ſei, wenn es ſich zu jener Anerkennung herbeiläßt, allein es wäre doch gegen allen völkerrechtlichen Gebrauch, auf ſolche Art ſein Gebiet zu vergrößern. Die Vereinigten Staaten würden von den anderen Mächten geächtet, wenn ſie zu einer ſolchen Piratenpolitik herabſtiegen. Sie mögen aus irgend einem Grunde, ſelbſt aus einem cubani- ſchen, gegen Spanien die Waffen ziehen und das Schwert entſcheiden laſſen, ſie werden ſelbſt im Falle der größten Gewaltſamkeit ſich an bekannte Beiſpiele anlehnen können; der Fall jedoch, daß Rebellen als kriegführende Macht anerkannt wur- den, iſt noch nicht vorgekommen. Dasſelbe Spanien, welchem jetzt ein Bein geſtellt werden ſoll, hätte Grund gehabt, füe die Seceſſioniſten dasſelbe zu thun, und vermied den Schritt, ob- wohl zwei wohlorganiſirte Armeen in ordentlicher Kriegführung einander gegenüberſtanden. Es hielt ſich jedoch an den internationalen Anſtand. Zur Stunde vermag, ſagt die „Wiener Montags- Revue“, auch Cleveland noch Widerſtand zu leiſten, wer aber kann wiſſen, ob nach ihm, und wenn die Spanier auch weiter keine nennenswerthen Fortſchritte machen, die Aufregung in den Ver- einigten Staaten nicht in einem ſolchen Maße wächſt, daß die verhänguißvolle Anerkennung den- noch geſchieht. Auch dieſe Sorge nimmt Grover Cleveland in das Privatleben mit. Niederöſterreichiſcher Landtag. Wien, 29. December. In der heutigen Sitzung des niederöſter- reichiſchen Landtages kam es zu ſo bewegten Scenen, wie ſie ſich in der niederöſterreichiſchen Landtagsſtube wohl kaum jemals zugetragen haben. Auf der Tagesordnung ſtanden die Wahlen aus den Curien. Während ſich die Mitglieder der einzelnen Curien in die verſchiedenen Säle zur Berathung zurückzogen, wird plötzlich aus dem an den Sitzungsſaal ſtoßenden Herrenſaal, wo die Stadtgemeindenvertreter beriethen, ein immer ſtärker werdendes Lärmen und Schreien hörbar, aus welchem wiederholt das Wort Ohrfeigen deutlich hervortönt. Der Lärm wurde durch ein heftiges Rencontre zwiſchen den Abg. Schneider und Dr. Benedikt hervorgerufen. Bei der Wahl in den Verwaltungsausſchuß hatte nämlich Dr. Kopp den Abg. Dr. Benedikt als Can- didaten der Minorität vorgeſchlagen. Abg. Schneider, der, wie heute das antiſemitiſche Organ zu melden wußte, ſchon bei der geſtrigen Wahl in den Finanzausſchuß, für welchen gleich- falls Dr. Benedikt candidirt wurde, ſeinen Stimm- zettel mit den Worten: „Ich wähle keinen Juden!“ ausgefüllt hatte, rief heute bei dem Vor- ſchlage Dr. Kopp’s laut in den Saal: „Ich wähle keinen Juden!“ Dr. Benedikt replicirte: „Das iſt eine Frechheit!“ Nun entſtand ein er- regter Disput zwiſchen den beiden Abgeordneten, in deſſen Verlaufe Dr. Benedikt dem Abgeord- neten Schneider zurief: „Ein nächſtesmal gebe ich Ihnen eine Ohrfeige!“ Nun wurde der Streit allgemein. Abg. Gregorig ſchreit: „Streitet doch nicht wegen eines Juden!“ Abg. Dr. Lueger ruft: „Hier wird nicht geohrfeigt. Wenn es aber wirklich zum Prügeln kommt, wird es ſich erſt zeigen, wer ſtärker iſt!“ Noch einige Minuten wogte der Streit auf und ab, bis endlich ſo weit Ruhe eintrat, um die Wahlen vornehmen zu können. Die Antiſemiten beſchloſſen die Affaire Benedikt-Schneider durch einen Dring- lichkeitsantrag vor das Plenum zu bringen. Dieſer Antrag geht dahin dem Abg. Dr. Benedikt die tiefſte Entrüſtung und Mißbilligung aus- zuſprechen. Nach Einbringung des Antrages erklärt der Landmarſchall er werde dieſe Angelegenheit, die nicht in öffentlicher, ſondern in geſchloſſener Sitzung einer Curie vorgefallen, nicht zur Be- handlung in öffentlicher Sitzung des Landtages zulaſſen. Abg. Dr. Lueger: Es iſt wohl wahr, daß dies der erſte derartige Fall im parlamen- tariſchen Leben Oeſterreichs iſt, er iſt aber nach meiner Ueberzeugung auch der erſte Fall eines derartigen Benehmens, das nach unſerer Ueber- zeugung nicht ungerügt hingenommen werden kann. Nachdem dem Landmarſchall über die Vor- gänge in den Curien kein Disciplinarrecht zu- ſteht, muß ſich der ganze Landtag dieſer Sache bemächtigen. Ich bitte um die dringliche Be- handlung meines Antrages. Der Landmarſchall beharrt bei ſeiner Auf- faſſung und erklärt, eine weitere Discuſſion nicht zuzulaſſen. Abg. Gregorig erklärt, die in der Curie gefallene Aeußerung ſei als im Hauſe gefallen zu betrachten. Dr. Lueger: Ich bitte, über meinen An- trag abſtimmen zu laſſen.... Landmarſchall (einfallend): Herr Dr. Lueger, Sie haben nicht das Wort! Wir ſchreiten weiter in den Wahlen! Auf dieſe Worte entſteht ein großer Lärm auf der Rechten. Man ruft: Das gibt es nicht! Keine Vergewaltigung! Wir wurden hieher ge- ſendet, um uns auszuſprechen! Dr. Lueger ſchreit: Ich erkläre Ihnen, Herr Landmarſchall, daß hier nicht weiter gewählt wird, ehe dieſe Sache nicht im Plenum beſprochen iſt. (Stürmiſcher Beifall rechts, an dem auch die Galerie theilnimmt.) Wir laſſen uns keine Ohr- feigen antragen. (Rufe: Das geht nicht, Herr Landmarſchall! So laſſen wir nicht mit uns um- gehen!) Ich bitte, das Haus zu befragen. Landmarſchall: Es wurde der Antrag geſtellt, ob der Dringlichkeitsantrag verleſen werden ſoll. Ich bitte die Herren, die dafür ſind, ſich zu erheben Bei der Abſtimmung erheben ſich die antiſemitiſche Majorität und zwei Mitglieder der Großgrundbeſitzer-Curie für die Verleſung des Antrages Lueger. Der Antrag lautet: „Bei der heute vorgenommenen Wahl der Ausſchüſſe in der Städtecurie appellirte (ſoll wol heißen apo- ſtrophirte) Abg. Benedikt den Abg. Schneider: In Zukunft werde ich Sie ohrfeigen! Rufe der Antiſemiten: Das iſt die neue Social-Politik! Pfui! Pfui!) Dieſer Zuruf beweiſt eine pöbel- hafte Geſinnung und zeigt eine ſolche Unbildung dieſes Abgeordneten, daß demſelben von Seite des Landtages eine Zurechtweiſung zu Theil werden muß. Wir ſtellen daher den Antrag, der Land- tag beſchließe, dem Abg. Benedikt wird wegen ſeines unqualificirbaren Benehmens die tiefſte Entrüſtung und Mißbilligung ausgeſprochen.“ (Lauter Beifall rechts.) Abg. Gregorig beantragt die Befragung des Hauſes, was der Landmarſchall zuläßt. Das Haus beſchließt den Dringlichkeitsan- trag Luegers in Berathung zu ziehen. Abg. Dr. Benedikt: Ich hatte nicht be- abſichtigt, bereits am zweiten Tage der Seſſion in irgend einer Weiſe in den Vordergrund zu verdrängt werden, ſondern es könnte davon nur eine Verbeſſerung und Verbilligung erwarten, da dem Steinkohlengaſe, welches Spuren von Acetylen ſtets enthält, durch eine größere Bei- miſchung desſelben eine weit erhöhtere Leuchtkraft verliehen werden kann. Aber das neue Gas erſchien, bevor man ſeine böſen Eigenſchaften, die ſich nun zu mehreren Malen und zuletzt in der ſchrecklichen Berliner Exploſionscataſtrophe vom 11. December ſo fürchterlich offenbarten, genauer kannte, einer weit vielſeitigeren Verwendung fähig. Vor allem be- ſitzt es ja eine Eigenſchaft, die dem Leuchtgas faſt ganz abgeht und deren Mangel letzterem niemals eine unbedingte Herrſchaft über das Petroleum geſtatten wird. Das Leuchtgas will überallhin durch Röhren geleitet ſein, das Acetylen dagegen läßt ſich, und zwar am bequemſten in ſeiner Zwiſchenform als Carbid, transportiren, wohin man es wünſcht. Eine Gaslampe in der Geſtalt einer tragbaren Petroleumlampe iſt noch immer ein frommer Wunſch, eine Acetylenlampe, die viel ſauberer und ebenſo bequem wie die Petrolenmlampe mit Carbidſtückchen gefüllt wird, war dagegen eine der erſten Erfindungen, die der Einführung des Acetylens folgten. Für häusliche Zwecke wird vorläuſig, aber auch nur vorläufig, das Petroleum noch den Vorzug der größeren Wohlfeilheit vor dem Acetylen haben, obwohl man z. B. in Frankreich, wo hohe Petroleumzölle auch der Gasbeleuchtung eine viel größere Rolle als bei uns verſchafft haben, der Acetylenlampe ſchon jetzt großes Gewicht beimißt. Für Straßen- oder Eiſenbahnbeleuchtung dagegen, für Leuchtbojen und ähnliche iſolirte oder in Bewegung beſindliche Leuchtkörper kann das Acetylen ſchon jetzt unter allen Umſtänden eine große Wichtigkeit erlangen, denn die jetzt für dieſe Zwecke üblichen Methoden der Gasbeleuchtung ſind noch keineswegs vollkommen. Die mangel- hafte Eiſenbahnbeleuchtung mit Fettgas, die wir jetzt genießen, macht bekanntlich für jeden Wagen einen großen Behälter nothwendig, um das com- primirte Gas unter 8—10 Athmoſphärendruck mitzuführen. Ein paar Kilogramm Carbid, an Ort und Stelle aufgelöſt, beſitzen mindeſtens die- ſelbe Leuchtkraft. Ja das Acetylen hat noch einen weiteren großen Vorzug, der ſogar die Unbequem- lichkeit, es überall erſt in beſonderen Apparaten aus Carbid herſtellen zu müſſen, beſeitigt: es läßt ſich ſehr leicht verflüſſigen und in druck- ſicheren Gefäßen verſenden, wie man Kohlenſäure und andere Gaſe in Stahlflaſchen verſchickt. Da dieſe Flaſchen meiſt auf 200 bis 400 Athmoſphären geprüft werden, ſo hätte die Aufſpeicherung des nur auf 40—50 Athmoſphären geſpannten flüſſigen Acetylens in ihnen gar keine Schwierigkeiten, — wenn nicht ein Umſtand wäre, auf den ich gleich zurückkommen werde, und der, wie es ſcheint, der ganzen Acetyleninduſtrie einen argen Stoß verſetzt hat. Man hat aber von dem Acetylen noch ganz andere Dinge erhofft, als nur eine Hebung der Beleuchtung. Die Thatſache, daß das flüſſige Gas oder auch nur das Calciumcarbid es ge- ſtattet, die an großen Waſſerkräften oder Kohlen- diſtricten gewonnene Energie weithin zu trans- portiren, ohne wie beim Leuchtgas oder bei der Elektricität, eine Leitung nöthig zu haben, ließ weitere große Hoffnungen zu. Da augenblicklich die Technik der Gaskraftmaſchine zu außer- ordentlicher Höhe geſteigert iſt, dachte man darauf, die Gasmotoren durch Acetylen anſtatt Leucht- gas zu treiben und dergeſtalt die in Form von Carbid verſteinerte Kraft der Ströme an anderen Orten durch Gasmotore wieder lebendig zu machen. Theoretiker von hervorragender Bedeutung, wie A. v. Ihering, haben nachgewieſen, daß bei einer billigen Maſſenherſtellung des Calcium- carbids in Zukunft die Acetylenmaſchine mit der Dampfmaſchine concurriren könne, und wieder andere ſahen hereits die Kriegsſchiffe und Schnelldampfer der Zukunft mit Gasmotoren ausgerüſtet und ohne die ſchwere Keſſelbatterie, nur von Carbid anſtatt Kohle beſchwert, in den Ocean hinausſteuern. Noch viel mehr! Auch der Chemie ſollten aus der Acetylen-Aera neue, un- erhörte Fortſchritte erwachſen. Das merkwürdige Gas iſt einer der leichtreagirendſten Körper, die wir beſitzen. Eine Menge von chemiſchen Pro- ducten, die wir bisher nur auf mühſamen Um- wegen, größtentheils aus dem Steinkohlentheer, herſtellen können, laſſen ſich aus dem Acetylen ganz leicht und einfach zuſammenſetzen. Andere, wie Alcohol, Eſſigſäure und mehrere weitere, laſſen ſich zwar nicht aus Acetylen machen, wohl

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Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 300, Olmütz, 30.12.1896, S. [2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches300_1896/2>, abgerufen am 21.11.2024.