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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Jottes sind," ist Halle bei weitem der interessanteste Ort
der Provinz, in welchem sich gut genug leben läßt, und
wo auch mein alter Pensionär in zahlreicher Gesellschaft
von seines Gleichen nun, da er einmal die Verderbtheit
der ersten Lebensbedürfnisse überwunden hat, sich so be-
baglich fühlt, daß er ihn mit keinem andern Orte vertau-
schen möchte. Die Hallenser hängen auch an ihrer Stadt,
schwören auf ihre Stadt, wie Aelpler auf ihre Thäler.
Das macht, es weht in der geistigen Atmosphäre ein freie-
rer, kräftigerer Hauch als in der körperlichen. Unbeschadet
seiner zahllosen Zuckerbäcker, Gemüsegärtner und Stärke-
fabrikanten könnte man es die Stadt des Spiritualismus
nennen; die Universität, die zahlreichen Erziehungs = und
Bildungsanstalten beleben es, die absorbirende Wucht des
Geldes erdrückt noch nicht alle edleren Jnteressen, wenn
gleich der Jndustrialismus nach und nach -- und zum Glück
-- auch hier seine Wurzeln schlägt. Die Persönlichkeit kann
sich geltend machen auch in weniger günstigen äußeren
Verhältnissen; man schafft aus sich heraus, was nicht be-
quem von außen zugeführt werden kann: es gibt so zu
sagen zwei Strömungen des Geistes, die sich von verschie-
denen Seiten anregend entgegen arbeiten. Die Gegensätze
von Tholuk und Schwarz, von Leo und Dunker seyen hier
nur berührt. Haben die erstgenannten Glieder der beiden
Paare mehr äußeres Terrain, d. h. mehr Zuhörer und
weniger staatliche Hindernisse, so sprechen die rasch er-
schienenen zweiten Auflagen der Geschichte der neueren
Theologie und der Geschichte des Alterthums für die Wirk-
samkeit der letzteren in andern Kreisen. Die medicinische
Fakultät hat nach Krukenbergs Abgang in Professor Vogel
aus Gießen einen Coryphäen der jungen physiologischen
Schule als Vorsteher ihrer Klinik erhalten. Außer zwei,
die politischen und religiösen Gegensätze repräsentirenden
Lokalblättern erscheint in Halle "die Natur," von Müller
und Ule herausgegeben, und Prutz redigirt von hier aus
sein Museum. Die Musik wird nach Kräften gepflegt;
man hat kürzlich eine Aufforderung erlassen, Händel in
seiner Geburtsstadt zu seinem hundertjährigen Geburtstage
ein Denkmal zu errichten, nicht nur in einem Standbilde,
sondern in einer Pflegestätte seiner Compositionen. Kurz
es regt sich, wohin man blickt, und so hat denn auch die
lange zweifelhafte königliche Bestätigung eines jungen, als
freisinnig anerkannten Regierungsraths von Voß aus Merse-
burg als Oberbürgermeister nach einstimmiger Wahl der
städtischen Behörden eine lebhafte Bewegung hervorgerufen.
Dazu ist die Natur, wenn gleich ihr wenig zu Hülfe ge-
kommen wird, nicht ohne Reize; das alte Giebichenstein
hat romantische Umgebungen. Man weiß, daß Landgraf
Ludwig von Thüringen sich gefangen durch einen kühnen
Sprung aus einem Fenster der hohen Burg in die Saale
vor seinen Verfolgern gerettet, und dadurch seinen Na-
men, der Springer, erhalten hat; aber wie er es ange-
fangen, durch diesen kühnen Sprung in den Fluß zu ge-
langen, wo der rettende Kahn seiner wartete, das weiß
man nicht, er müßte denn die verloren gegangene Kunst
[Spaltenumbruch] besessen haben, im Springen einen gewaltigen Bogen zu
schlagen, oder die Saale müßte um mehrere hundert Schritte
dem Burgfelsen näher geflossen seyn. Das alte Landgra-
fenschloß ist jetzt eine reiche königliche Domaine und das
vor einigen Jahren in seiner Nähe errichtete kräftige Sool-
bad Wittekind lockt manchen Sommergast aus der Ferne
in seine im Schweizer Styl hergestellten Wohn = und Bade-
häuser. Wir begreifen, wie lieb der alte Reichardt sein
kleines Sommerhaus in Giebichenstein haben konnte.
Eberhards Häuschen liegt in der Nähe, und Lafontaines
Romane zogen von hier aus die Thränenschleußen deut-
scher Rührung auf. Kurz wir weilen auf Schritt und
Tritt bei einer Erinnerung aus älterer und neuerer Zeit,
am längsten und mit immer neuem frommen Staunen
bei den Francke'schen Stiftungen, diesem gottgesegneten
Wunder des Glaubens und der Liebe. August Hermann
Francke war anfänglich Pastor der Vorstadtsgemeinde von
Glaucha, dem ärmsten und noch jetzt der meisten Fürsorge
bedürftigen Stadttheile Halles. Seine Anstalten liegen
in diesem Sprengel, regelmäßig einen länglichen Platz
umschließend, den des frommen Gründers Standbild ziert.
Er starb als Prediger an St. Ulrich in Halle 1727, und
wenige Menschen haben sich ein Denkmal gesetzt, über
welchem eine höhere Hand mit gleichem Schutze und zu
gleichem Segen noch heute waltet.

Die älteste historische Eigenthümlichkeit Halles ist der
kleine Wendenstamm der Halloren, der in seiner treube-
wahrten Tracht und Weise noch immer vornehmlich die
Salzbereitung in den Koten des eigentlichen sogenannten
Halle, oder des Salzthales im Mittelpunkte der Stadt
versieht. Allmählig fängt freilich auch er an sich zu mi-
schen und dadurch einzuschrumpfen: noch aber backen sie
ihren hundertjährigen, festen Halloren = Kuchen, wählen
ihren Salzgrafen und sind Meister in allen Künsten des
Kletterns und Schwimmens. Der bekannte Liedercompo-
nist, Musikdirektor Franz, ist ein Kind dieses Stammes.

Möchte der Tag ferne seyn, wo die Hochschulen der
großen Hauptstädte die kleineren der Provinz absorbiren,
wie bei den raschen Verkehrs= und den concentrirten Bil-
dungsmitteln immer mehr in Aussicht steht! Ein gutes Stück
deutschen Lebens würde dadurch verloren gehen, und Halle
besonders mit seiner Universität den Geist ersterben sehen,
der über seine alten Mauern hinaus die ganze Provinz
durchweht und befruchtet.

Aber es läutet auf dem Magdeburg = Leipziger Bahn-
hofe, wie fast den ganzen Tag auf dieser rentabelsten aller
deutschen Bahnen. Kaum ein Stündchen, Skeuditz im
Fluge berührt, und wir sind in Leipzig. Wie die Phy-
siognomien der einzelnen Menschen, die in Einem Hause,
ja in Einer Familie neben einander aufwachsen, so ver-
schiedenartig sind auch die der Sammelplätze von größeren
oder kleineren Menschengruppen, so nahe sich diese Plätze
berühren, und unter welch ähnlichen Lebensbedingungen
sie sich entwickeln mögen; und es gibt keine interessantere
Beobachtung für den Reisenden als die ihrer Aehnlichkeiten
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Jottes sind,“ ist Halle bei weitem der interessanteste Ort
der Provinz, in welchem sich gut genug leben läßt, und
wo auch mein alter Pensionär in zahlreicher Gesellschaft
von seines Gleichen nun, da er einmal die Verderbtheit
der ersten Lebensbedürfnisse überwunden hat, sich so be-
baglich fühlt, daß er ihn mit keinem andern Orte vertau-
schen möchte. Die Hallenser hängen auch an ihrer Stadt,
schwören auf ihre Stadt, wie Aelpler auf ihre Thäler.
Das macht, es weht in der geistigen Atmosphäre ein freie-
rer, kräftigerer Hauch als in der körperlichen. Unbeschadet
seiner zahllosen Zuckerbäcker, Gemüsegärtner und Stärke-
fabrikanten könnte man es die Stadt des Spiritualismus
nennen; die Universität, die zahlreichen Erziehungs = und
Bildungsanstalten beleben es, die absorbirende Wucht des
Geldes erdrückt noch nicht alle edleren Jnteressen, wenn
gleich der Jndustrialismus nach und nach — und zum Glück
— auch hier seine Wurzeln schlägt. Die Persönlichkeit kann
sich geltend machen auch in weniger günstigen äußeren
Verhältnissen; man schafft aus sich heraus, was nicht be-
quem von außen zugeführt werden kann: es gibt so zu
sagen zwei Strömungen des Geistes, die sich von verschie-
denen Seiten anregend entgegen arbeiten. Die Gegensätze
von Tholuk und Schwarz, von Leo und Dunker seyen hier
nur berührt. Haben die erstgenannten Glieder der beiden
Paare mehr äußeres Terrain, d. h. mehr Zuhörer und
weniger staatliche Hindernisse, so sprechen die rasch er-
schienenen zweiten Auflagen der Geschichte der neueren
Theologie und der Geschichte des Alterthums für die Wirk-
samkeit der letzteren in andern Kreisen. Die medicinische
Fakultät hat nach Krukenbergs Abgang in Professor Vogel
aus Gießen einen Coryphäen der jungen physiologischen
Schule als Vorsteher ihrer Klinik erhalten. Außer zwei,
die politischen und religiösen Gegensätze repräsentirenden
Lokalblättern erscheint in Halle „die Natur,“ von Müller
und Ule herausgegeben, und Prutz redigirt von hier aus
sein Museum. Die Musik wird nach Kräften gepflegt;
man hat kürzlich eine Aufforderung erlassen, Händel in
seiner Geburtsstadt zu seinem hundertjährigen Geburtstage
ein Denkmal zu errichten, nicht nur in einem Standbilde,
sondern in einer Pflegestätte seiner Compositionen. Kurz
es regt sich, wohin man blickt, und so hat denn auch die
lange zweifelhafte königliche Bestätigung eines jungen, als
freisinnig anerkannten Regierungsraths von Voß aus Merse-
burg als Oberbürgermeister nach einstimmiger Wahl der
städtischen Behörden eine lebhafte Bewegung hervorgerufen.
Dazu ist die Natur, wenn gleich ihr wenig zu Hülfe ge-
kommen wird, nicht ohne Reize; das alte Giebichenstein
hat romantische Umgebungen. Man weiß, daß Landgraf
Ludwig von Thüringen sich gefangen durch einen kühnen
Sprung aus einem Fenster der hohen Burg in die Saale
vor seinen Verfolgern gerettet, und dadurch seinen Na-
men, der Springer, erhalten hat; aber wie er es ange-
fangen, durch diesen kühnen Sprung in den Fluß zu ge-
langen, wo der rettende Kahn seiner wartete, das weiß
man nicht, er müßte denn die verloren gegangene Kunst
[Spaltenumbruch] besessen haben, im Springen einen gewaltigen Bogen zu
schlagen, oder die Saale müßte um mehrere hundert Schritte
dem Burgfelsen näher geflossen seyn. Das alte Landgra-
fenschloß ist jetzt eine reiche königliche Domaine und das
vor einigen Jahren in seiner Nähe errichtete kräftige Sool-
bad Wittekind lockt manchen Sommergast aus der Ferne
in seine im Schweizer Styl hergestellten Wohn = und Bade-
häuser. Wir begreifen, wie lieb der alte Reichardt sein
kleines Sommerhaus in Giebichenstein haben konnte.
Eberhards Häuschen liegt in der Nähe, und Lafontaines
Romane zogen von hier aus die Thränenschleußen deut-
scher Rührung auf. Kurz wir weilen auf Schritt und
Tritt bei einer Erinnerung aus älterer und neuerer Zeit,
am längsten und mit immer neuem frommen Staunen
bei den Francke'schen Stiftungen, diesem gottgesegneten
Wunder des Glaubens und der Liebe. August Hermann
Francke war anfänglich Pastor der Vorstadtsgemeinde von
Glaucha, dem ärmsten und noch jetzt der meisten Fürsorge
bedürftigen Stadttheile Halles. Seine Anstalten liegen
in diesem Sprengel, regelmäßig einen länglichen Platz
umschließend, den des frommen Gründers Standbild ziert.
Er starb als Prediger an St. Ulrich in Halle 1727, und
wenige Menschen haben sich ein Denkmal gesetzt, über
welchem eine höhere Hand mit gleichem Schutze und zu
gleichem Segen noch heute waltet.

Die älteste historische Eigenthümlichkeit Halles ist der
kleine Wendenstamm der Halloren, der in seiner treube-
wahrten Tracht und Weise noch immer vornehmlich die
Salzbereitung in den Koten des eigentlichen sogenannten
Halle, oder des Salzthales im Mittelpunkte der Stadt
versieht. Allmählig fängt freilich auch er an sich zu mi-
schen und dadurch einzuschrumpfen: noch aber backen sie
ihren hundertjährigen, festen Halloren = Kuchen, wählen
ihren Salzgrafen und sind Meister in allen Künsten des
Kletterns und Schwimmens. Der bekannte Liedercompo-
nist, Musikdirektor Franz, ist ein Kind dieses Stammes.

Möchte der Tag ferne seyn, wo die Hochschulen der
großen Hauptstädte die kleineren der Provinz absorbiren,
wie bei den raschen Verkehrs= und den concentrirten Bil-
dungsmitteln immer mehr in Aussicht steht! Ein gutes Stück
deutschen Lebens würde dadurch verloren gehen, und Halle
besonders mit seiner Universität den Geist ersterben sehen,
der über seine alten Mauern hinaus die ganze Provinz
durchweht und befruchtet.

Aber es läutet auf dem Magdeburg = Leipziger Bahn-
hofe, wie fast den ganzen Tag auf dieser rentabelsten aller
deutschen Bahnen. Kaum ein Stündchen, Skeuditz im
Fluge berührt, und wir sind in Leipzig. Wie die Phy-
siognomien der einzelnen Menschen, die in Einem Hause,
ja in Einer Familie neben einander aufwachsen, so ver-
schiedenartig sind auch die der Sammelplätze von größeren
oder kleineren Menschengruppen, so nahe sich diese Plätze
berühren, und unter welch ähnlichen Lebensbedingungen
sie sich entwickeln mögen; und es gibt keine interessantere
Beobachtung für den Reisenden als die ihrer Aehnlichkeiten
[Ende Spaltensatz]

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Die Persönlichkeit kann sich geltend machen auch in weniger günstigen äußeren Verhältnissen; man schafft aus sich heraus, was nicht be- quem von außen zugeführt werden kann: es gibt so zu sagen zwei Strömungen des Geistes, die sich von verschie- denen Seiten anregend entgegen arbeiten. Die Gegensätze von Tholuk und Schwarz, von Leo und Dunker seyen hier nur berührt. Haben die erstgenannten Glieder der beiden Paare mehr äußeres Terrain, d. h. mehr Zuhörer und weniger staatliche Hindernisse, so sprechen die rasch er- schienenen zweiten Auflagen der Geschichte der neueren Theologie und der Geschichte des Alterthums für die Wirk- samkeit der letzteren in andern Kreisen. Die medicinische Fakultät hat nach Krukenbergs Abgang in Professor Vogel aus Gießen einen Coryphäen der jungen physiologischen Schule als Vorsteher ihrer Klinik erhalten. Außer zwei, die politischen und religiösen Gegensätze repräsentirenden Lokalblättern erscheint in Halle „die Natur,“ von Müller und Ule herausgegeben, und Prutz redigirt von hier aus sein Museum. Die Musik wird nach Kräften gepflegt; man hat kürzlich eine Aufforderung erlassen, Händel in seiner Geburtsstadt zu seinem hundertjährigen Geburtstage ein Denkmal zu errichten, nicht nur in einem Standbilde, sondern in einer Pflegestätte seiner Compositionen. Kurz es regt sich, wohin man blickt, und so hat denn auch die lange zweifelhafte königliche Bestätigung eines jungen, als freisinnig anerkannten Regierungsraths von Voß aus Merse- burg als Oberbürgermeister nach einstimmiger Wahl der städtischen Behörden eine lebhafte Bewegung hervorgerufen. Dazu ist die Natur, wenn gleich ihr wenig zu Hülfe ge- kommen wird, nicht ohne Reize; das alte Giebichenstein hat romantische Umgebungen. Man weiß, daß Landgraf Ludwig von Thüringen sich gefangen durch einen kühnen Sprung aus einem Fenster der hohen Burg in die Saale vor seinen Verfolgern gerettet, und dadurch seinen Na- men, der Springer, erhalten hat; aber wie er es ange- fangen, durch diesen kühnen Sprung in den Fluß zu ge- langen, wo der rettende Kahn seiner wartete, das weiß man nicht, er müßte denn die verloren gegangene Kunst besessen haben, im Springen einen gewaltigen Bogen zu schlagen, oder die Saale müßte um mehrere hundert Schritte dem Burgfelsen näher geflossen seyn. Das alte Landgra- fenschloß ist jetzt eine reiche königliche Domaine und das vor einigen Jahren in seiner Nähe errichtete kräftige Sool- bad Wittekind lockt manchen Sommergast aus der Ferne in seine im Schweizer Styl hergestellten Wohn = und Bade- häuser. Wir begreifen, wie lieb der alte Reichardt sein kleines Sommerhaus in Giebichenstein haben konnte. 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Die älteste historische Eigenthümlichkeit Halles ist der kleine Wendenstamm der Halloren, der in seiner treube- wahrten Tracht und Weise noch immer vornehmlich die Salzbereitung in den Koten des eigentlichen sogenannten Halle, oder des Salzthales im Mittelpunkte der Stadt versieht. Allmählig fängt freilich auch er an sich zu mi- schen und dadurch einzuschrumpfen: noch aber backen sie ihren hundertjährigen, festen Halloren = Kuchen, wählen ihren Salzgrafen und sind Meister in allen Künsten des Kletterns und Schwimmens. Der bekannte Liedercompo- nist, Musikdirektor Franz, ist ein Kind dieses Stammes. Möchte der Tag ferne seyn, wo die Hochschulen der großen Hauptstädte die kleineren der Provinz absorbiren, wie bei den raschen Verkehrs= und den concentrirten Bil- dungsmitteln immer mehr in Aussicht steht! Ein gutes Stück deutschen Lebens würde dadurch verloren gehen, und Halle besonders mit seiner Universität den Geist ersterben sehen, der über seine alten Mauern hinaus die ganze Provinz durchweht und befruchtet. Aber es läutet auf dem Magdeburg = Leipziger Bahn- hofe, wie fast den ganzen Tag auf dieser rentabelsten aller deutschen Bahnen. Kaum ein Stündchen, Skeuditz im Fluge berührt, und wir sind in Leipzig. Wie die Phy- siognomien der einzelnen Menschen, die in Einem Hause, ja in Einer Familie neben einander aufwachsen, so ver- schiedenartig sind auch die der Sammelplätze von größeren oder kleineren Menschengruppen, so nahe sich diese Plätze berühren, und unter welch ähnlichen Lebensbedingungen sie sich entwickeln mögen; und es gibt keine interessantere Beobachtung für den Reisenden als die ihrer Aehnlichkeiten

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856, S. 857. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt36_1856/17>, abgerufen am 21.11.2024.