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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856.

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[Beginn Spaltensatz] und Verschiedenheiten, kein fesselnderes Nachdenken als über
die innere und äußere Nothwendigkeit derselben. Man
nehme nur die Sprache. Kaum ein Dorf, das nicht dem
aufmerksamen Ohr eine Schattirung böte, wie vielmehr
hat jede Stadt ihr eigenthümliches Jdiom. So auch die
drei größeren unserer sächsischen Ebene. Auf das gedehnte
weiche G der Hallenser wollen wir nicht zurückkommen;
in Magdeburg ist sächsischer Tonfall mit märkischem ge-
mischt, die Laute bleiben weich und nur das G vor dem
N verliert den absonders widerlich Halleschen Klang; Gott
ist hier "jütig," aber gnädig; dagegen treten hier die
preußischen, dem Sachsen fremden Conflicte des dritten
und vierten Falles ein, nur daß der Berliner mehr mir't
und der Magdeburger mehr mich't. Jetzt aber hören alle
preußischen Spuren auf, die Zweifel über Accusativ und
Dativ verlieren sich, nur die unregelmäßige Beugung des
Hülfszeitworts sein macht uns Noth; der Besitzfall ist
uns gleichsam garantirt, aber die Existenz in ein Di-
lemma gebracht; denn "alleweile sein wir auf dem Wege
nach Leipzig," oder noch volksthümlicher: "wir machen auf
Leipzig," und hier an der Grenze wird das G hart, selbst
in der Vorsylbe ge, hier wird "kekessen" und "kekeben,"
wenn auch eben nicht mit allzu anstrengender Härte; eben!
auch das ist ja mein liebes Sachsen!

Aber alle diese gröblichsten Eigenthümlichkeiten sind
ja hinlänglich bekannt; der specifische Unterschied liegt im
Ton, und ein Ton ist unbeschreiblich. Dieser Ton, wie
ist er auch in anderer Beziehung auf einmal sächsisch ge-
worden! Diese Höflichkeit, Bereitwilligkeit, Ausführlich-
keit des Auskunftgebens! Man begreift nicht, wie in einer
Geschäftsstadt die Leute die Zeit dazu haben; sie lesen uns
unser Verlangen ja fast an den Augen ab, ehe wir es
aussprechen. Und dann dieser Ausdruck allseitiger Wohl-
häbigkeit; da ist kein schmutziger Winkel, keine verfallende
Hütte neben den täglich sich erweiternden, zum Theil recht
geschmackvollen Neubauten, besonders der Vorstädte, kein
Bettler, kein spekulirender Krüppel in den schönen, sauber
gehaltenen Promenaden rings um die Stadt. Denn sie
ist reich auch als solche, die gute Stadt Leipzig, und hat
fast mehr Mittel zum allgemeinen Besten zu verwenden,
als sie braucht. Während in andern Orten die öffent-
lichen Behörden nicht müde werden durften, zur Unter-
stützung der Armen zu mahnen, erfolgte in den letzten
Jahren vom hiesigen Magistrate die Aufforderung an die
Bürger, ihm die Nothleidenden nur anzuzeigen, die der
Hülfe bedürfen. Alle Anstalten der Versorgung, der Pflege
und Unterstützung sind reich dotirt, und immer bilden sich
neue. Jch hörte in diesen Tagen von einer neu entstande-
nen Besserungsanstalt für verwahrloste Mädchen, und von
einem wichtigen Creditinstitut für bedürftige Handwerker.
Ein barmherziger Bürger soll vor kurzem dem Magistrat
ein großes Capital zur Gründung eines neuen Waisen-
hauses übergeben haben, mit der einzigen Bedingung, daß
sein Name nicht genannt werde. Jm Allgemeinen aber
ist solche stille Tugend nicht an der Tagesordnung; der
[Spaltenumbruch] patricische Sinn der Bürger, der diese Stiftungen hervor-
ruft, gefällt sich darin, die Namen der Geber gedruckt
und unter Glas und Rahmen gefaßt, oder in Büchern
mit goldenem Schnitt verzeichnet in den öffentlichen Sälen
der Anstalten anregend und preisend verzeichnet zu sehen.
Das kräftigste Gegenmittel der Armuth ist aber die fort-
währende Gelegenheit zum Erwerb, und zwar nicht in
Sitten und Gesundheit verderblichen Manufakturen; denn
Leipzig ist keine Fabrik=, nur eine Handelsstadt, und darin
liegt sein prägnantester Gegensatz zu dem an Capital gewiß
mit ihm concurrirenden Magdeburg, wo Reich und Arm
einen Unterschied bildet, der auch auf den Straßen zum
Ausdruck kommt. Hier ist alles zierlich, nett, einladend,
aber freilich, mit Ausnahme der Meßzeiten, wenig belebt.
Gegend, das heißt schöne Gegend, bietet die Leipziger
Ebene noch weniger als Halle und Magdeburg, denn ihr
fehlt der erhöhte Thaleinschnitt des ersteren und der be-
lebende Strom des letzteren. Sind wir auf dem Wege
nach Gohlis nach einem Viertelstündchen am Ende des
Rosenthales, mit seinen grünen Wiesenflächen und schat-
tigen Laubpartien mehr eine Stätte der Pflege als der
Natur, so find wir auch am Ende mit dieser, selbst mit
den Bäumen; von nun an, so weit das Auge reicht, nur
wohlbestellte, üppige Fruchtfelder, heuer einen seit Jahren
nicht erlebten Segen verkündend.

Man wirft Leipzig oft vor, daß das Geld hier allein
herrsche, besonders im Gegensatz zu der ärmeren Nach-
barstadt Halle; und allerdings mag es einem armen Teufel
in dieser leichter fallen als dort, sich Geltung zu ver-
schaffen, wenn er im übrigen nur halbwegs das Zeug
dazu hat. Ein exclusiv patricisch aristokratischer Ton herrscht
dort vor, ein genteeles Aeußere, Comfort, Luxus selbst
sind Bedingungen des Ansehens; die Putzliebe der Leip-
zigerinnen ist bekannt. Die reichen Kaufleute sind vielfach
auch Rittergutsbesitzer und halten auf ihre Patrimonial-
gerichte, die sie glücklicher als in Preußen aus dem Sturme
von 1848 gerettet, und auf die Prärogative der Ritter-
schaft. Die Kirchen, die frommen Prediger werden viel-
leicht nicht immer nur aus religiösem Bedürfniß be = und
gesucht; die lichtfreundlichen, gar die freigemeindlichen
Bestrebungen haben hier niemals einen festen Boden ge-
funden. Der Einfluß der Universität, des Buchhan-
dels, der mit diesem zusammenhängenden Literatenlegion
sey als bekannt hier nur angedeutet. Eben so bekannt
sind seit Bachs Zeiten Leipzigs Leistungen in der Musik,
besonders durch die Classicität seiner Gewandhausconcerte,
und sein entscheidender Einfluß auf den musikalischen Ruf.
Aber auch in andern, bisher vernachlässigten künstleri-
schen Richtungen fängt ein reges Streben an sich Bahn
zu brechen. Es wird der Grund zu dem Museum gelegt,
welches zunächst durch das reiche Schlettersche Legat in's
Leben gerufen worden. Die Sammlungen des kunstlieben-
den Bürgers, die er seiner Vaterstadt vermacht hat, so
wie einzelne ihnen angereihte Geschenke anderer Kunst-
freunde sind einstweilen in den oberen Räumen der
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] und Verschiedenheiten, kein fesselnderes Nachdenken als über
die innere und äußere Nothwendigkeit derselben. Man
nehme nur die Sprache. Kaum ein Dorf, das nicht dem
aufmerksamen Ohr eine Schattirung böte, wie vielmehr
hat jede Stadt ihr eigenthümliches Jdiom. So auch die
drei größeren unserer sächsischen Ebene. Auf das gedehnte
weiche G der Hallenser wollen wir nicht zurückkommen;
in Magdeburg ist sächsischer Tonfall mit märkischem ge-
mischt, die Laute bleiben weich und nur das G vor dem
N verliert den absonders widerlich Halleschen Klang; Gott
ist hier „jütig,“ aber gnädig; dagegen treten hier die
preußischen, dem Sachsen fremden Conflicte des dritten
und vierten Falles ein, nur daß der Berliner mehr mir't
und der Magdeburger mehr mich't. Jetzt aber hören alle
preußischen Spuren auf, die Zweifel über Accusativ und
Dativ verlieren sich, nur die unregelmäßige Beugung des
Hülfszeitworts sein macht uns Noth; der Besitzfall ist
uns gleichsam garantirt, aber die Existenz in ein Di-
lemma gebracht; denn „alleweile sein wir auf dem Wege
nach Leipzig,“ oder noch volksthümlicher: „wir machen auf
Leipzig,“ und hier an der Grenze wird das G hart, selbst
in der Vorsylbe ge, hier wird „kekessen“ und „kekeben,“
wenn auch eben nicht mit allzu anstrengender Härte; eben!
auch das ist ja mein liebes Sachsen!

Aber alle diese gröblichsten Eigenthümlichkeiten sind
ja hinlänglich bekannt; der specifische Unterschied liegt im
Ton, und ein Ton ist unbeschreiblich. Dieser Ton, wie
ist er auch in anderer Beziehung auf einmal sächsisch ge-
worden! Diese Höflichkeit, Bereitwilligkeit, Ausführlich-
keit des Auskunftgebens! Man begreift nicht, wie in einer
Geschäftsstadt die Leute die Zeit dazu haben; sie lesen uns
unser Verlangen ja fast an den Augen ab, ehe wir es
aussprechen. Und dann dieser Ausdruck allseitiger Wohl-
häbigkeit; da ist kein schmutziger Winkel, keine verfallende
Hütte neben den täglich sich erweiternden, zum Theil recht
geschmackvollen Neubauten, besonders der Vorstädte, kein
Bettler, kein spekulirender Krüppel in den schönen, sauber
gehaltenen Promenaden rings um die Stadt. Denn sie
ist reich auch als solche, die gute Stadt Leipzig, und hat
fast mehr Mittel zum allgemeinen Besten zu verwenden,
als sie braucht. Während in andern Orten die öffent-
lichen Behörden nicht müde werden durften, zur Unter-
stützung der Armen zu mahnen, erfolgte in den letzten
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Bürger, ihm die Nothleidenden nur anzuzeigen, die der
Hülfe bedürfen. Alle Anstalten der Versorgung, der Pflege
und Unterstützung sind reich dotirt, und immer bilden sich
neue. Jch hörte in diesen Tagen von einer neu entstande-
nen Besserungsanstalt für verwahrloste Mädchen, und von
einem wichtigen Creditinstitut für bedürftige Handwerker.
Ein barmherziger Bürger soll vor kurzem dem Magistrat
ein großes Capital zur Gründung eines neuen Waisen-
hauses übergeben haben, mit der einzigen Bedingung, daß
sein Name nicht genannt werde. Jm Allgemeinen aber
ist solche stille Tugend nicht an der Tagesordnung; der
[Spaltenumbruch] patricische Sinn der Bürger, der diese Stiftungen hervor-
ruft, gefällt sich darin, die Namen der Geber gedruckt
und unter Glas und Rahmen gefaßt, oder in Büchern
mit goldenem Schnitt verzeichnet in den öffentlichen Sälen
der Anstalten anregend und preisend verzeichnet zu sehen.
Das kräftigste Gegenmittel der Armuth ist aber die fort-
währende Gelegenheit zum Erwerb, und zwar nicht in
Sitten und Gesundheit verderblichen Manufakturen; denn
Leipzig ist keine Fabrik=, nur eine Handelsstadt, und darin
liegt sein prägnantester Gegensatz zu dem an Capital gewiß
mit ihm concurrirenden Magdeburg, wo Reich und Arm
einen Unterschied bildet, der auch auf den Straßen zum
Ausdruck kommt. Hier ist alles zierlich, nett, einladend,
aber freilich, mit Ausnahme der Meßzeiten, wenig belebt.
Gegend, das heißt schöne Gegend, bietet die Leipziger
Ebene noch weniger als Halle und Magdeburg, denn ihr
fehlt der erhöhte Thaleinschnitt des ersteren und der be-
lebende Strom des letzteren. Sind wir auf dem Wege
nach Gohlis nach einem Viertelstündchen am Ende des
Rosenthales, mit seinen grünen Wiesenflächen und schat-
tigen Laubpartien mehr eine Stätte der Pflege als der
Natur, so find wir auch am Ende mit dieser, selbst mit
den Bäumen; von nun an, so weit das Auge reicht, nur
wohlbestellte, üppige Fruchtfelder, heuer einen seit Jahren
nicht erlebten Segen verkündend.

Man wirft Leipzig oft vor, daß das Geld hier allein
herrsche, besonders im Gegensatz zu der ärmeren Nach-
barstadt Halle; und allerdings mag es einem armen Teufel
in dieser leichter fallen als dort, sich Geltung zu ver-
schaffen, wenn er im übrigen nur halbwegs das Zeug
dazu hat. Ein exclusiv patricisch aristokratischer Ton herrscht
dort vor, ein genteeles Aeußere, Comfort, Luxus selbst
sind Bedingungen des Ansehens; die Putzliebe der Leip-
zigerinnen ist bekannt. Die reichen Kaufleute sind vielfach
auch Rittergutsbesitzer und halten auf ihre Patrimonial-
gerichte, die sie glücklicher als in Preußen aus dem Sturme
von 1848 gerettet, und auf die Prärogative der Ritter-
schaft. Die Kirchen, die frommen Prediger werden viel-
leicht nicht immer nur aus religiösem Bedürfniß be = und
gesucht; die lichtfreundlichen, gar die freigemeindlichen
Bestrebungen haben hier niemals einen festen Boden ge-
funden. Der Einfluß der Universität, des Buchhan-
dels, der mit diesem zusammenhängenden Literatenlegion
sey als bekannt hier nur angedeutet. Eben so bekannt
sind seit Bachs Zeiten Leipzigs Leistungen in der Musik,
besonders durch die Classicität seiner Gewandhausconcerte,
und sein entscheidender Einfluß auf den musikalischen Ruf.
Aber auch in andern, bisher vernachlässigten künstleri-
schen Richtungen fängt ein reges Streben an sich Bahn
zu brechen. Es wird der Grund zu dem Museum gelegt,
welches zunächst durch das reiche Schlettersche Legat in's
Leben gerufen worden. Die Sammlungen des kunstlieben-
den Bürgers, die er seiner Vaterstadt vermacht hat, so
wie einzelne ihnen angereihte Geschenke anderer Kunst-
freunde sind einstweilen in den oberen Räumen der
[Ende Spaltensatz]

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Sind wir auf dem Wege nach Gohlis nach einem Viertelstündchen am Ende des Rosenthales, mit seinen grünen Wiesenflächen und schat- tigen Laubpartien mehr eine Stätte der Pflege als der Natur, so find wir auch am Ende mit dieser, selbst mit den Bäumen; von nun an, so weit das Auge reicht, nur wohlbestellte, üppige Fruchtfelder, heuer einen seit Jahren nicht erlebten Segen verkündend. Man wirft Leipzig oft vor, daß das Geld hier allein herrsche, besonders im Gegensatz zu der ärmeren Nach- barstadt Halle; und allerdings mag es einem armen Teufel in dieser leichter fallen als dort, sich Geltung zu ver- schaffen, wenn er im übrigen nur halbwegs das Zeug dazu hat. Ein exclusiv patricisch aristokratischer Ton herrscht dort vor, ein genteeles Aeußere, Comfort, Luxus selbst sind Bedingungen des Ansehens; die Putzliebe der Leip- zigerinnen ist bekannt. Die reichen Kaufleute sind vielfach auch Rittergutsbesitzer und halten auf ihre Patrimonial- gerichte, die sie glücklicher als in Preußen aus dem Sturme von 1848 gerettet, und auf die Prärogative der Ritter- schaft. Die Kirchen, die frommen Prediger werden viel- leicht nicht immer nur aus religiösem Bedürfniß be = und gesucht; die lichtfreundlichen, gar die freigemeindlichen Bestrebungen haben hier niemals einen festen Boden ge- funden. Der Einfluß der Universität, des Buchhan- dels, der mit diesem zusammenhängenden Literatenlegion sey als bekannt hier nur angedeutet. Eben so bekannt sind seit Bachs Zeiten Leipzigs Leistungen in der Musik, besonders durch die Classicität seiner Gewandhausconcerte, und sein entscheidender Einfluß auf den musikalischen Ruf. Aber auch in andern, bisher vernachlässigten künstleri- schen Richtungen fängt ein reges Streben an sich Bahn zu brechen. Es wird der Grund zu dem Museum gelegt, welches zunächst durch das reiche Schlettersche Legat in's Leben gerufen worden. Die Sammlungen des kunstlieben- den Bürgers, die er seiner Vaterstadt vermacht hat, so wie einzelne ihnen angereihte Geschenke anderer Kunst- freunde sind einstweilen in den oberen Räumen der

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856, S. 858. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt36_1856/18>, abgerufen am 24.11.2024.