Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
einträgliches; der Rektor hat aber ein besonderes Jnteresse, Fälle der Art sind keineswegs geeignet, Gesetz, Bibel [Ende Spaltensatz] [Beginn Spaltensatz]
einträgliches; der Rektor hat aber ein besonderes Jnteresse, Fälle der Art sind keineswegs geeignet, Gesetz, Bibel [Ende Spaltensatz] <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <p><pb facs="#f0022" n="1054"/><fw type="pageNum" place="top">1054</fw><cb type="start"/> einträgliches; der Rektor hat aber ein besonderes Jnteresse,<lb/> darüber zu wachen, daß seine Pfarrkinder am Sonntag<lb/> in die Kirche gehen, und nicht ihren täglichen Beschäfti-<lb/> gungen obliegen, da gerade der Kirchenbesuch den Geist-<lb/> lichen bedeutende Gebühren abwirft. Nun hatte sich ein<lb/> armer Bauer beifallen lassen, am Sonntag, zur Zeit,<lb/> da er in der Kirche seyn sollte, sein Kornfeld zu schneiden.<lb/> Sogleich wurde er am folgenden Tage vor den Magistrat<lb/> citirt und mit einer bedeutenden Geldbuße belegt. Ver-<lb/> gebens stellte der Mann auf's klarste dar, daß er ein<lb/> armer Bauer sey, daß er die sechs andern Tage der Woche<lb/> für andere arbeiten müsse, daß sein Kornfeld überreif ge-<lb/> wesen, und daß er das Wenige, die Handvoll Aehren,<lb/> die sein seyen, auf dem Boden hätte verfaulen lassen<lb/> müssen, hätte er sie nicht am einzigen Tage in der Woche,<lb/> der ihm frei gelassen, abgeschnitten. Alles vergebens.<lb/> Das Abschneiden eines einzigen Kornhalms galt in den<lb/> Augen des geistlichen Richters für eine Entweihung des<lb/> göttlichen Gebots und der Bauer mußte die Geldbuße<lb/> zahlen, kraft des englischen Gesetzes, welches das mosaische<lb/> Gesetz nicht allein bestehen lassen, sondern es noch auf<lb/> eigene Weise erweitert und commentirt hat. Hätte der<lb/> Bauer zur selben Zeit, statt seine wenigen Kornhalme in<lb/> Sicherheit zu bringen, gespielt, getrunken oder auf irgend<lb/> eine andere Weise den Tag des Herrn entweiht, weder<lb/> das englische Gesetz noch der geistliche Herrn hätten ihm das<lb/> Geringste anhaben können. Vom Spielen, Saufen und<lb/> dergleichen ist im englischen Gesetze keine Rede. Aber<lb/> arbeiten, ein Kornfeld abmähen, das war nicht allein ein<lb/> Verstoß gegen das biblische, sondern auch gegen das eng-<lb/> lische Gesetz, und der englische Magistrat hielt strenge<lb/> darauf, daß dem englischen Gesetze Kraft verbleibe. Nun<lb/> aber stand die Presse auf und mit der Presse das Publi-<lb/> kum und hob hervor, daß, wenn allen bestehenden eng-<lb/> lischen Gesetzen Kraft verbleiben sollte, kein Mensch einen<lb/> Augenblick vor dem Uebertreten des einen oder des andern<lb/> Gesetzes sicher sey. Wer kann sagen, wo das englische<lb/> Gesetz aufhört und wo es anfängt? Das englische Gesetz,<lb/> hieß es, ist ein Chaos von Gesetzen aller Nationen und<lb/> aller Zeiten, und als weiser Richter würde der Rektor<lb/> gut gethan haben, im vorliegenden Fall dasselbe zu igno-<lb/> riren. Wenn er aber mit aller Gewalt darauf ausging, das<lb/> Gesetz in Anwendung zu bringen, so hätte er das Bei-<lb/> spiel jenes Richters befolgen sollen, der in einem ähn-<lb/><cb n="2"/> lichen Falle im Augenblick, wo er die Geldbuße mit dem<lb/> Munde aussprach, mit der Hand in die Tasche griff, um<lb/> die Buße selbst zu zahlen und dem Wortlaute des Ge-<lb/> setzes zu genügen. </p><lb/> <p>Fälle der Art sind keineswegs geeignet, Gesetz, Bibel<lb/> und Richter mit der öffentlichen Meinung zu versöhnen,<lb/> und der Minister des Jnnern sah sich, um Bibel und<lb/> Gesetz wieder zu Ehren zu bringen, genöthigt, einzu-<lb/> schreiten. Er richtete ein offenes Schreiben an jenen geist-<lb/> lichen Richter, in dem er zu beweisen suchte, daß der-<lb/> selbe den Wortlaut des Gesetzes falsch gedeutet habe. Jm<lb/> Gesetze, sagt der Minister, heiße es, daß es bei Strafe<lb/> verboten sey, Sonntags seinen täglichen Beruf auszu-<lb/> üben oder seiner täglichen Arbeit nachzugehen. Die täg-<lb/> liche Arbeit, der tägliche Beruf des Bauern aber sey der<lb/> eines Taglöhners; als Taglöhner arbeite er für andere,<lb/> schneide das Korn für andere. Wenn er nun am Sonn-<lb/> tag sein eigenes Korn schneide, so übe er keineswegs<lb/> seinen täglichen Beruf aus, und somit habe der Richter<lb/> mit seinem Spruch das englische Gesetz falsch gedeutet.<lb/> Das Publikum war entzückt, den Bauer und das eng-<lb/> lische Gesetz auf solch scharfsinnige Weise gerechtfertigt<lb/> zu sehen. Der Pfarrer aber nannte diese Deutung eine<lb/> spitzfindige, talmudistische Deutung, die keineswegs im<lb/> Sinne des Gesetzgebers gelegen haben könne, sondern ih-<lb/> ren Ursprung im Kopf des Ministers haben müsse, der<lb/> einzig und allein darauf denke, die öffentliche Meinung<lb/> für sich zu gewinnen, auf Kosten des englischen und des<lb/> biblischen Gesetzes und mit allenfallsiger Aufopferung<lb/> des Richters. Wollte man die Deutung des Ministers<lb/> zulassen, so müsse es dem Metzger frei stehen, Sonntags<lb/> einen Ochsen zu schlachten, sobald dieser Ochs oder sein<lb/> Fleisch nicht für seine Kunden, sondern für seinen eigenen<lb/> Verbrauch bestimmt wäre. Aus ähnlichen Gründen könnte<lb/> man jedem Barbier untersagen, sich Sonntags selbst zu<lb/> rasiren <choice><abbr>ec.</abbr></choice> Wie dem nun aber auch seyn mag, so viel<lb/> steht fest, daß Bibel, Talmud und englisches Gesetz im-<lb/> mer noch weit entfernt sind, sich friedlich zu vertragen,<lb/> daß die Collision jeden Augenblick auf's neue auszubre-<lb/> chen droht, und daß zu Bibel und Talmud ein neues,<lb/> den Frieden störendes Element hinzugetreten ist, der Ko-<lb/> ran, mit dem das englische Gesetz am wenigsten fertig<lb/> werden kann. Doch hievon ein andermal.</p> </div><lb/> <space dim="vertical"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb type="end"/> </div> </body> </text> </TEI> [1054/0022]
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einträgliches; der Rektor hat aber ein besonderes Jnteresse,
darüber zu wachen, daß seine Pfarrkinder am Sonntag
in die Kirche gehen, und nicht ihren täglichen Beschäfti-
gungen obliegen, da gerade der Kirchenbesuch den Geist-
lichen bedeutende Gebühren abwirft. Nun hatte sich ein
armer Bauer beifallen lassen, am Sonntag, zur Zeit,
da er in der Kirche seyn sollte, sein Kornfeld zu schneiden.
Sogleich wurde er am folgenden Tage vor den Magistrat
citirt und mit einer bedeutenden Geldbuße belegt. Ver-
gebens stellte der Mann auf's klarste dar, daß er ein
armer Bauer sey, daß er die sechs andern Tage der Woche
für andere arbeiten müsse, daß sein Kornfeld überreif ge-
wesen, und daß er das Wenige, die Handvoll Aehren,
die sein seyen, auf dem Boden hätte verfaulen lassen
müssen, hätte er sie nicht am einzigen Tage in der Woche,
der ihm frei gelassen, abgeschnitten. Alles vergebens.
Das Abschneiden eines einzigen Kornhalms galt in den
Augen des geistlichen Richters für eine Entweihung des
göttlichen Gebots und der Bauer mußte die Geldbuße
zahlen, kraft des englischen Gesetzes, welches das mosaische
Gesetz nicht allein bestehen lassen, sondern es noch auf
eigene Weise erweitert und commentirt hat. Hätte der
Bauer zur selben Zeit, statt seine wenigen Kornhalme in
Sicherheit zu bringen, gespielt, getrunken oder auf irgend
eine andere Weise den Tag des Herrn entweiht, weder
das englische Gesetz noch der geistliche Herrn hätten ihm das
Geringste anhaben können. Vom Spielen, Saufen und
dergleichen ist im englischen Gesetze keine Rede. Aber
arbeiten, ein Kornfeld abmähen, das war nicht allein ein
Verstoß gegen das biblische, sondern auch gegen das eng-
lische Gesetz, und der englische Magistrat hielt strenge
darauf, daß dem englischen Gesetze Kraft verbleibe. Nun
aber stand die Presse auf und mit der Presse das Publi-
kum und hob hervor, daß, wenn allen bestehenden eng-
lischen Gesetzen Kraft verbleiben sollte, kein Mensch einen
Augenblick vor dem Uebertreten des einen oder des andern
Gesetzes sicher sey. Wer kann sagen, wo das englische
Gesetz aufhört und wo es anfängt? Das englische Gesetz,
hieß es, ist ein Chaos von Gesetzen aller Nationen und
aller Zeiten, und als weiser Richter würde der Rektor
gut gethan haben, im vorliegenden Fall dasselbe zu igno-
riren. Wenn er aber mit aller Gewalt darauf ausging, das
Gesetz in Anwendung zu bringen, so hätte er das Bei-
spiel jenes Richters befolgen sollen, der in einem ähn-
lichen Falle im Augenblick, wo er die Geldbuße mit dem
Munde aussprach, mit der Hand in die Tasche griff, um
die Buße selbst zu zahlen und dem Wortlaute des Ge-
setzes zu genügen.
Fälle der Art sind keineswegs geeignet, Gesetz, Bibel
und Richter mit der öffentlichen Meinung zu versöhnen,
und der Minister des Jnnern sah sich, um Bibel und
Gesetz wieder zu Ehren zu bringen, genöthigt, einzu-
schreiten. Er richtete ein offenes Schreiben an jenen geist-
lichen Richter, in dem er zu beweisen suchte, daß der-
selbe den Wortlaut des Gesetzes falsch gedeutet habe. Jm
Gesetze, sagt der Minister, heiße es, daß es bei Strafe
verboten sey, Sonntags seinen täglichen Beruf auszu-
üben oder seiner täglichen Arbeit nachzugehen. Die täg-
liche Arbeit, der tägliche Beruf des Bauern aber sey der
eines Taglöhners; als Taglöhner arbeite er für andere,
schneide das Korn für andere. Wenn er nun am Sonn-
tag sein eigenes Korn schneide, so übe er keineswegs
seinen täglichen Beruf aus, und somit habe der Richter
mit seinem Spruch das englische Gesetz falsch gedeutet.
Das Publikum war entzückt, den Bauer und das eng-
lische Gesetz auf solch scharfsinnige Weise gerechtfertigt
zu sehen. Der Pfarrer aber nannte diese Deutung eine
spitzfindige, talmudistische Deutung, die keineswegs im
Sinne des Gesetzgebers gelegen haben könne, sondern ih-
ren Ursprung im Kopf des Ministers haben müsse, der
einzig und allein darauf denke, die öffentliche Meinung
für sich zu gewinnen, auf Kosten des englischen und des
biblischen Gesetzes und mit allenfallsiger Aufopferung
des Richters. Wollte man die Deutung des Ministers
zulassen, so müsse es dem Metzger frei stehen, Sonntags
einen Ochsen zu schlachten, sobald dieser Ochs oder sein
Fleisch nicht für seine Kunden, sondern für seinen eigenen
Verbrauch bestimmt wäre. Aus ähnlichen Gründen könnte
man jedem Barbier untersagen, sich Sonntags selbst zu
rasiren Wie dem nun aber auch seyn mag, so viel
steht fest, daß Bibel, Talmud und englisches Gesetz im-
mer noch weit entfernt sind, sich friedlich zu vertragen,
daß die Collision jeden Augenblick auf's neue auszubre-
chen droht, und daß zu Bibel und Talmud ein neues,
den Frieden störendes Element hinzugetreten ist, der Ko-
ran, mit dem das englische Gesetz am wenigsten fertig
werden kann. Doch hievon ein andermal.
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