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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] inmitten von Gefahren, erfüllt zu haben, nach Hause
kehren können."

Sarah war während dieser langsam und mit Sal-
bung vorgetragenen Rede ungeduldig hin und her ge-
schritten und hatte dabei bemerkt, daß das Thürchen
der Wendeltreppe, durch welche Tom und Rudhall auf-
gestiegen waren, halb offen stand. -- "Verzeihung,
Ehrwürden," sagte sie, als Herr Weston geendet hatte,
"allein ich bemerke am Offenstehen dieser Thür, daß
doch jemand hinauf gestiegen seyn muß. Auch ist in
der That dort etwas zu holen, denn es befinden sich
alte Dokumente in Menge oben, und wenn das Con-
sistorium wieder einmal etwas suchen lassen wollte --"
-- "Es ist gut," unterbrach sie Herr Weston, auf solche
Weise auf's Aeußerste getrieben, "die Untersuchung ge-
schehe! Der junge Mann hier, welchen der Herr mit
der Stärke des Arms versehen hat, schreite voran, der
Aeltere folge, Frau Schnecke als das schwache Weib
gehe in der Mitte, nach ihr ich und der Sakristan am
Ende."

Nach einigem Zögern der Wächter setzte sich der
Zug in Gemäßheit dieser Anordnung in Bewegung.



Toms Gesicht war nach und nach strahlend gewor-
den, er hatte die Kiste fast ganz durchsucht und den
Haufen von Rollen und Päcken zu seinen Füßen be-
trächtlich anwachsen lassen. Seine innere Bewegung
gab sich zuweilen durch einen halb artikulirten Laut der
Freude zu erkennen, wenn ihm etwas Wichtiges er-
schien, und Rudhall, welcher mit halb theilnehmender,
halb zweifelnder Miene neben ihm stand und leuchtete,
erhielt auf die mehrmaligen Fragen und Bemerkungen,
die ihm die Langeweile seiner Stellung eingab, keine
Sylbe zur Antwort. Jetzt mahnte er zum Aufbruch,
allein die zu näherer Betrachtung auf die Seite gelegten
Stücke waren noch zu untersuchen.

Während Tom dieß vornahm, öffnete sich die Thür
hinter ihm leise und unmerklich, und ein scharf gezeich-
neter, mit gelbem Flanell umwundener Frauenkopf blickte
durch den Spalt, um sich sogleich wieder zurück zu zie-
hen. Ein Geflüster von Stimmen wurde nun außen
hörbar, allein nicht Tom, sondern nur Rudhall ver-
nahm es. Erschrocken drehte er sich um und ließ mit
einem Schrei des Entsetzens die Laterne fallen, als er
die Thür offen, in derselben die beiden bewaffneten
Fackelträger und hinter diesen andere Gestalten sah. --
Chatterton fuhr auf diesen Schrei empor und herum,
Zorn und Ueberraschung malten sich auf seinem Gesicht,
in entschlossener Bewegung ergriff er den neben ihm
liegenden Eisenstab und stellte sich damit, wie zur
[Spaltenumbruch] äußersten Gegenwehr bereit, vor seine Schätze. Rudhall
war halb bewußtlos in die Knie gesunken.

"Sachte, junger Herr, sachte!" sprach nun, vor-
sichtig näher tretend, der ältere Wächter. "Zum Schla-
gen ist hier nicht der Platz. Fünf gegen Einen, das
lohnt sich nicht!" Als aber Tom in seiner drohenden
Stellung verharrte und Herr Weston, zwischen Thür
und Angel stehend, sein Gefolge zur Ergreifung der
jugendlichen Verbrecher, wie er sich ausdrückte, auffor-
derte, da sprang der Alte so plötzlich auf jenen ein,
daß der beabsichtigte Schlag unausgeführt blieb und
Tom sich im nächsten Augenblick widerstandlos und ent-
waffnet zwischen den sehnigen Armen des Wächters be-
fand. Leichenblaß strebte er mit jeder möglichen Be-
wegung seines Körpers sich loszumachen, allein es
war vergeblich, und nach einer Weile sank er, von den
geistigen und körperlichen Anstrengungen des Tages ge-
brochen, in sich zusammen.

"Gut so, gut!" sagte der Alte tröstend, " Nachge-
ben ist kein Unrecht, und den Kopf wird ja das Alles
nicht kosten."

"Das könnte doch seyn," bemerkte Sarah hämisch.
"Nächtlich einbrechen in die Kirche, um zu stehlen, das
erlebt den Strang." -- "Ohne Zweifel, das thut es,"
bekräftigte der Küster, "nach dem wenigstens, was ich
vom juristischen Wesen verstehe." -- "Allerdings thut
es das," setzte Herr Weston hinzu, " wenn es vor die
Gerichte kommt. Allein da die Redcliffkirche hier unter
sich ist, so wird man sehen, was zu thun. Zunächst
ist ein kleines Verhör mit den Delinquenten anzustellen."

Mit diesen Worten trat er zur Kiste und setzte sich
auf einer Ecke derselben nieder, dann ließ er die beiden
Jünglinge, jeden von einem der Wächter festgehalten,
vor sich treten. Chatterton sah starr vor sich hin und
gab keine Antwort, als ihn der Geistliche nun nach
seinem Namen fragte.

"Das Schweigen kann hier nichts helfen," sagte
der Küster nach einer Pause; "ich kenne das Bürschchen;
er heißt Thomas Chatterton und ist ein Sohn des ver-
storbenen Cantors in der Pfeilstraße und Neffe meines
Vorgängers, der sich im Grab herumdrehen würde, wenn
er ihn jetzt hier sehen müßte." -- "So! hm! Chatter-
ton! hm!" sagte Herr Weston und rückte auf der Kiste
hin und her. "Habe Jhren Vater gekannt, Herr, hm!
Und," setzte er nach kurzem Schweigen hinzu, "werden
Sie wohl so gefällig seyn, Herr Chatterton, und uns
sagen, was Sie zu dieser ganz besondern Stunde hier-
her geführt hat?" -- Tom antwortete nicht. -- "Bedenken
Sie," fuhr Weston fort, "daß Sie durch ein offenes
Geständniß Jhrer Absichten, wenn dieselben nicht allzu
schlimm waren, möglicherweise gut abkommen können,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] inmitten von Gefahren, erfüllt zu haben, nach Hause
kehren können.“

Sarah war während dieser langsam und mit Sal-
bung vorgetragenen Rede ungeduldig hin und her ge-
schritten und hatte dabei bemerkt, daß das Thürchen
der Wendeltreppe, durch welche Tom und Rudhall auf-
gestiegen waren, halb offen stand. — „Verzeihung,
Ehrwürden,“ sagte sie, als Herr Weston geendet hatte,
„allein ich bemerke am Offenstehen dieser Thür, daß
doch jemand hinauf gestiegen seyn muß. Auch ist in
der That dort etwas zu holen, denn es befinden sich
alte Dokumente in Menge oben, und wenn das Con-
sistorium wieder einmal etwas suchen lassen wollte —“
— „Es ist gut,“ unterbrach sie Herr Weston, auf solche
Weise auf's Aeußerste getrieben, „die Untersuchung ge-
schehe! Der junge Mann hier, welchen der Herr mit
der Stärke des Arms versehen hat, schreite voran, der
Aeltere folge, Frau Schnecke als das schwache Weib
gehe in der Mitte, nach ihr ich und der Sakristan am
Ende.“

Nach einigem Zögern der Wächter setzte sich der
Zug in Gemäßheit dieser Anordnung in Bewegung.



Toms Gesicht war nach und nach strahlend gewor-
den, er hatte die Kiste fast ganz durchsucht und den
Haufen von Rollen und Päcken zu seinen Füßen be-
trächtlich anwachsen lassen. Seine innere Bewegung
gab sich zuweilen durch einen halb artikulirten Laut der
Freude zu erkennen, wenn ihm etwas Wichtiges er-
schien, und Rudhall, welcher mit halb theilnehmender,
halb zweifelnder Miene neben ihm stand und leuchtete,
erhielt auf die mehrmaligen Fragen und Bemerkungen,
die ihm die Langeweile seiner Stellung eingab, keine
Sylbe zur Antwort. Jetzt mahnte er zum Aufbruch,
allein die zu näherer Betrachtung auf die Seite gelegten
Stücke waren noch zu untersuchen.

Während Tom dieß vornahm, öffnete sich die Thür
hinter ihm leise und unmerklich, und ein scharf gezeich-
neter, mit gelbem Flanell umwundener Frauenkopf blickte
durch den Spalt, um sich sogleich wieder zurück zu zie-
hen. Ein Geflüster von Stimmen wurde nun außen
hörbar, allein nicht Tom, sondern nur Rudhall ver-
nahm es. Erschrocken drehte er sich um und ließ mit
einem Schrei des Entsetzens die Laterne fallen, als er
die Thür offen, in derselben die beiden bewaffneten
Fackelträger und hinter diesen andere Gestalten sah. —
Chatterton fuhr auf diesen Schrei empor und herum,
Zorn und Ueberraschung malten sich auf seinem Gesicht,
in entschlossener Bewegung ergriff er den neben ihm
liegenden Eisenstab und stellte sich damit, wie zur
[Spaltenumbruch] äußersten Gegenwehr bereit, vor seine Schätze. Rudhall
war halb bewußtlos in die Knie gesunken.

„Sachte, junger Herr, sachte!“ sprach nun, vor-
sichtig näher tretend, der ältere Wächter. „Zum Schla-
gen ist hier nicht der Platz. Fünf gegen Einen, das
lohnt sich nicht!“ Als aber Tom in seiner drohenden
Stellung verharrte und Herr Weston, zwischen Thür
und Angel stehend, sein Gefolge zur Ergreifung der
jugendlichen Verbrecher, wie er sich ausdrückte, auffor-
derte, da sprang der Alte so plötzlich auf jenen ein,
daß der beabsichtigte Schlag unausgeführt blieb und
Tom sich im nächsten Augenblick widerstandlos und ent-
waffnet zwischen den sehnigen Armen des Wächters be-
fand. Leichenblaß strebte er mit jeder möglichen Be-
wegung seines Körpers sich loszumachen, allein es
war vergeblich, und nach einer Weile sank er, von den
geistigen und körperlichen Anstrengungen des Tages ge-
brochen, in sich zusammen.

„Gut so, gut!“ sagte der Alte tröstend, „ Nachge-
ben ist kein Unrecht, und den Kopf wird ja das Alles
nicht kosten.“

„Das könnte doch seyn,“ bemerkte Sarah hämisch.
„Nächtlich einbrechen in die Kirche, um zu stehlen, das
erlebt den Strang.“ — „Ohne Zweifel, das thut es,“
bekräftigte der Küster, „nach dem wenigstens, was ich
vom juristischen Wesen verstehe.“ — „Allerdings thut
es das,“ setzte Herr Weston hinzu, „ wenn es vor die
Gerichte kommt. Allein da die Redcliffkirche hier unter
sich ist, so wird man sehen, was zu thun. Zunächst
ist ein kleines Verhör mit den Delinquenten anzustellen.“

Mit diesen Worten trat er zur Kiste und setzte sich
auf einer Ecke derselben nieder, dann ließ er die beiden
Jünglinge, jeden von einem der Wächter festgehalten,
vor sich treten. Chatterton sah starr vor sich hin und
gab keine Antwort, als ihn der Geistliche nun nach
seinem Namen fragte.

„Das Schweigen kann hier nichts helfen,“ sagte
der Küster nach einer Pause; „ich kenne das Bürschchen;
er heißt Thomas Chatterton und ist ein Sohn des ver-
storbenen Cantors in der Pfeilstraße und Neffe meines
Vorgängers, der sich im Grab herumdrehen würde, wenn
er ihn jetzt hier sehen müßte.“ — „So! hm! Chatter-
ton! hm!“ sagte Herr Weston und rückte auf der Kiste
hin und her. „Habe Jhren Vater gekannt, Herr, hm!
Und,“ setzte er nach kurzem Schweigen hinzu, „werden
Sie wohl so gefällig seyn, Herr Chatterton, und uns
sagen, was Sie zu dieser ganz besondern Stunde hier-
her geführt hat?“ — Tom antwortete nicht. — „Bedenken
Sie,“ fuhr Weston fort, „daß Sie durch ein offenes
Geständniß Jhrer Absichten, wenn dieselben nicht allzu
schlimm waren, möglicherweise gut abkommen können,
[Ende Spaltensatz]

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856, S. 1036. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/4>, abgerufen am 21.11.2024.