Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Das Pfennig=Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Neue Folge, Erster Jahrgang, Nr. 21. Leipzig (Sachsen), 27. Mai 1843.

Bild:
<< vorherige Seite
[Beginn Spaltensatz]

Die Kinder gehören nicht alle mir, nur Jan und
Hanka sind meine Kinder, antwortete Martha, indem
sie dieselben mit der Hand berührte. Die drei andern
sind mir aber nicht minder lieb, fügte sie schnell hinzu,
als sie dieselben traurig zur Erde blicken sah.

Was habt ihr für Rechte auf sie? Wo sind ihre
Ältern.

Sie sind Waisen und mir von meinem Manne,
der das Unglück hatte, ihnen die Mutter zu tödten, wie
eigene Kinder ans Herz gelegt worden.

Hierauf erfuhr der Offizier Alles, was sich in der
Schnelligkeit mittheilen ließ, und schien eine große Zu-
neigung zu der Frau zu fassen, denn er klopfte sie
freundlich auf die Achseln, gab ihr seine Börse und er-
mahnte sie, in ihrer mütterlichen Liebe für die armen
Waisen nicht nachzulassen. Dann vertheilte er die vor-
handenen Vorräthe, als sein erobertes Eigenthum, unter
die Anwesenden, doch so, daß Diejenigen besonders berück-
sichtigt wurden, welche aus irgend einem Grunde eine
besondere Berücksichtigung zu verdienen schienen.

Als er Alles zufrieden gestellt sah, ließ er sich von
Marthen ein Stück Brot und von einer ihr zugefalle-
nen Speckseite ein Stück Speck geben und nahm Ab-
schied, sich und seine Landsleute, welche nur den Zweck
hätten, der Welt den Frieden wieder zu geben, dem
Gebete der gerührten Menge empfehlend.

Bald nach seinem Weggange hörte man den Don-
ner der Kanonen jenseits des Gebirges. Die ganze
Ebene östlich von Bautzen schien lebendig geworden zu
sein und dem von Großgörschen heranstürmenden Napo-
leon brüllend entgegenzurufen: "Kehre um, das Glück
hat sich von dir gewandt." Aber Napoleon war nicht
gewöhnt, sich durch irgend etwas warnen zu lassen. Er
wollte die in Rußland empfangene Scharte wieder aus-
wetzen und drang unaufhaltsam vor.

Die Bauern erzitterten bei jedem Kanonendonner,
aber so groß ihre Furcht war, ihre Neugierde war doch
noch größer. Es war den 20. Mai, Nachmittags um
4 Uhr, als die Feuerschlünde dergestalt wütheten, daß
das ganze Gebirge, an welchem das Dorf Dehlen lag,
vor Schreck aufzuhüpfen schien. Es war ein Erdbeben,
das die Völker der Erde verschlingen zu wollen schien.
Aber die Größe des Schauspiels machte, daß die klein-
lichen Leidenschaften der Furcht und Besorgniß verstumm-
ten. Es ist mit dem Herzen, wie mit dem Auge, in
welchem das kleinste Sandkörnchen, das seine Fläche be-
rührt, den durchdringendsten Schmerz erzeugt, während
es von der Hand des Operateurs gefaßt sich ruhig und
schmerzlos den Staar stechen läßt. Wie der Donner
der Kanonen seine Riesenstimme immer gewaltiger er-
hob, wurde das Herz der Bauern immer ruhiger, bis
sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Alles, was Ge-
fühl heißt, ihrer bemächtigt hatte. Ohne zu fragen,
welchen Gefahren sie sich und die Jhrigen preisgäben,
folgten sie dem Triebe der Neugierde, die ihre Schritte
dem Schlachtfelde zutrieb.

Plötzlich war der Hof, wo sich Martha befand, sei-
ner kräftigsten Jnsassen beraubt und man sah nur Greise,
Weiber und Kinder. Auch Handri fehlte. Er war den
Männern nachgeeilt, die auf das Gebirge gingen, von
dem man die ganze Ebene von Bautzen übersehen kann.
Als er hinauf kam, stand Mann an Mann, marmor-
still da. Kein Wort, keine Bewegung verrieth das Le-
ben der dichten Massen von Menschen. Alles war nur
Auge geworden und schaute starr auf die Ebene, wo
gegen 30 Dörfer in Brand standen und mit ihren
Flammen die Wolken küßten. Zwischen ihnen waren
Völker aller Nationen in unabsehbare Reihen ausge-
[Spaltenumbruch] dehnt, an denen die Adjutanten mit unbegreiflicher
Schnelligkeit auf= und abflogen.

Es war ein Anblick, der an Großartigkeit Alles
übertraf, was im gewöhnlichen Leben großartig heißt,
ein Anblick, der den Philosophen erklärt hätte, wie der
Eroberer, der einmal die dämonische Seligkeit des An-
blicks einer Völkerschlacht geschmeckt hat, das Eroberte,
das er mit Strömen von Blut errungen, um einer
Kleinigkeit willen wieder in die Schanze schlagen kann.
Das Erobern ist es, das ihm Freude macht, nicht das
Eroberte. Wenn die grünen Saaten unter dem Hufe
zahlloser Reitergeschwader verschwinden; wenn sich die
niedertretenen Gefilde mit Menschenblut färben; wenn
der Boden von dem Brüllen unzähliger Feuerschlünde
zittert, und die Flammen brennender Städte und Dör-
fer um das blaue Firmament ihren majestätischen Pur-
purmantel schlagen: da ist ihm wohl, da schlürft er
übermenschliche Seligkeit in vollen Zügen und schwebt,
wie die olympischen Götter, ruhig über dem Stöhnen
der Sterbenden, über den Klagen der Verstümmelten,
über den Verwünschungen der Unglücklichen. Er fühlt
nicht, er sieht nur, er ist ein reiner Geist, ein reiner
Geist mitten auf dem Boden des Gefühls, aber hoch
hinaufragend über denselben, wie ein Montblanc, da-
her unzugänglich allen den Einflüssen, die von unten
stammen.

Jn einer ähnlichen Stimmung waren die Bauern
auf dem Berge vor Dehlen, als sie das Schlachtfeld
von Bautzen übersahen. Sie waren durch den Anblick
über ihre Gefühlswelt erhoben worden und blickten, wie
verjüngte Chimborassos, weit über ihr Fußgestell hinweg.
Daher regte sich keine Klage in ihnen, als sie ihr Hab
und Gut in den ungeheuern Rauchwolken, die der Ost-
wind von den brennenden Dörfern über das Schlacht-
feld trieb, dahinziehen sahen. Sie waren im Anschauen
verloren, sie waren reine Geister und als solche der
Form der Zeit enthoben. Vier Stunden waren ihnen
so vergangen, wie vier Minuten. Die Sonne wollte
untergehen, gleichsam müde des schrecklichschönen Schau-
spiels, das nicht enden wollte, vielleicht weil sie nicht
blos vernahm, sondern auch fühlte, was unter ihr vor-
ging. Sie sah wenigstens nicht selig aus, ihr strahlen-
des Antlitz war mit dem Anschein tiefer Betrübniß um-
zogen, das Leiden der Tausende von Sterbenden, der
Schmerz der unzähligen Verwundeten schien sich in ihr
Herz gesenkt zu haben.

Der düstere Schein der untergehenden Sonne erin-
nerte die Bauern, daß es auch noch andere betrübte
Gesichter geben dürfte, und sie dachten zum ersten Mal
wieder an Weib und Kind, die sie schutzlos im Dorfe
zurückgelassen hatten. Kaum war dieser Gedanke mit
seinen Schrecken durch ihre Seele geflogen, als der
Donner der Kanonen in ihrem Rücken noch dringender
an die Rückkehr zu den Jhrigen mahnte. Wer für die-
sen Donner keine Ohren hatte, wurde durch den bluti-
gen Schein, der plötzlich unweit Dehlen zum Himmel
emporstieg, zum Aufbruch gemahnt. Bald überzeugte
man sich, daß sich die Schlacht an das westliche Ende
des Berges, auf dem man stand, in das Thal hinein
gezogen hatte, in welchem Dehlen lag. Nun wurden
die Bauern wieder ganz Menschen, ihre bisherige gei-
sterhafte Beschaffenheit machte der schlichtmenschlichen
wieder Platz, aus den künstlichen Chimborassos wurden
natürliche Maulwurfshügel voll Bedürfnisse, Sorgen
und Leiden.

Man führte die Rückkehr mit solcher Hastigkeit aus,
daß unser Handri, der doch sonst gut zu Fuße war,
weit zurückblieb. Als er endlich das Dorf erreichte, fand
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

Die Kinder gehören nicht alle mir, nur Jan und
Hanka sind meine Kinder, antwortete Martha, indem
sie dieselben mit der Hand berührte. Die drei andern
sind mir aber nicht minder lieb, fügte sie schnell hinzu,
als sie dieselben traurig zur Erde blicken sah.

Was habt ihr für Rechte auf sie? Wo sind ihre
Ältern.

Sie sind Waisen und mir von meinem Manne,
der das Unglück hatte, ihnen die Mutter zu tödten, wie
eigene Kinder ans Herz gelegt worden.

Hierauf erfuhr der Offizier Alles, was sich in der
Schnelligkeit mittheilen ließ, und schien eine große Zu-
neigung zu der Frau zu fassen, denn er klopfte sie
freundlich auf die Achseln, gab ihr seine Börse und er-
mahnte sie, in ihrer mütterlichen Liebe für die armen
Waisen nicht nachzulassen. Dann vertheilte er die vor-
handenen Vorräthe, als sein erobertes Eigenthum, unter
die Anwesenden, doch so, daß Diejenigen besonders berück-
sichtigt wurden, welche aus irgend einem Grunde eine
besondere Berücksichtigung zu verdienen schienen.

Als er Alles zufrieden gestellt sah, ließ er sich von
Marthen ein Stück Brot und von einer ihr zugefalle-
nen Speckseite ein Stück Speck geben und nahm Ab-
schied, sich und seine Landsleute, welche nur den Zweck
hätten, der Welt den Frieden wieder zu geben, dem
Gebete der gerührten Menge empfehlend.

Bald nach seinem Weggange hörte man den Don-
ner der Kanonen jenseits des Gebirges. Die ganze
Ebene östlich von Bautzen schien lebendig geworden zu
sein und dem von Großgörschen heranstürmenden Napo-
leon brüllend entgegenzurufen: „Kehre um, das Glück
hat sich von dir gewandt.“ Aber Napoleon war nicht
gewöhnt, sich durch irgend etwas warnen zu lassen. Er
wollte die in Rußland empfangene Scharte wieder aus-
wetzen und drang unaufhaltsam vor.

Die Bauern erzitterten bei jedem Kanonendonner,
aber so groß ihre Furcht war, ihre Neugierde war doch
noch größer. Es war den 20. Mai, Nachmittags um
4 Uhr, als die Feuerschlünde dergestalt wütheten, daß
das ganze Gebirge, an welchem das Dorf Dehlen lag,
vor Schreck aufzuhüpfen schien. Es war ein Erdbeben,
das die Völker der Erde verschlingen zu wollen schien.
Aber die Größe des Schauspiels machte, daß die klein-
lichen Leidenschaften der Furcht und Besorgniß verstumm-
ten. Es ist mit dem Herzen, wie mit dem Auge, in
welchem das kleinste Sandkörnchen, das seine Fläche be-
rührt, den durchdringendsten Schmerz erzeugt, während
es von der Hand des Operateurs gefaßt sich ruhig und
schmerzlos den Staar stechen läßt. Wie der Donner
der Kanonen seine Riesenstimme immer gewaltiger er-
hob, wurde das Herz der Bauern immer ruhiger, bis
sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Alles, was Ge-
fühl heißt, ihrer bemächtigt hatte. Ohne zu fragen,
welchen Gefahren sie sich und die Jhrigen preisgäben,
folgten sie dem Triebe der Neugierde, die ihre Schritte
dem Schlachtfelde zutrieb.

Plötzlich war der Hof, wo sich Martha befand, sei-
ner kräftigsten Jnsassen beraubt und man sah nur Greise,
Weiber und Kinder. Auch Handri fehlte. Er war den
Männern nachgeeilt, die auf das Gebirge gingen, von
dem man die ganze Ebene von Bautzen übersehen kann.
Als er hinauf kam, stand Mann an Mann, marmor-
still da. Kein Wort, keine Bewegung verrieth das Le-
ben der dichten Massen von Menschen. Alles war nur
Auge geworden und schaute starr auf die Ebene, wo
gegen 30 Dörfer in Brand standen und mit ihren
Flammen die Wolken küßten. Zwischen ihnen waren
Völker aller Nationen in unabsehbare Reihen ausge-
[Spaltenumbruch] dehnt, an denen die Adjutanten mit unbegreiflicher
Schnelligkeit auf= und abflogen.

Es war ein Anblick, der an Großartigkeit Alles
übertraf, was im gewöhnlichen Leben großartig heißt,
ein Anblick, der den Philosophen erklärt hätte, wie der
Eroberer, der einmal die dämonische Seligkeit des An-
blicks einer Völkerschlacht geschmeckt hat, das Eroberte,
das er mit Strömen von Blut errungen, um einer
Kleinigkeit willen wieder in die Schanze schlagen kann.
Das Erobern ist es, das ihm Freude macht, nicht das
Eroberte. Wenn die grünen Saaten unter dem Hufe
zahlloser Reitergeschwader verschwinden; wenn sich die
niedertretenen Gefilde mit Menschenblut färben; wenn
der Boden von dem Brüllen unzähliger Feuerschlünde
zittert, und die Flammen brennender Städte und Dör-
fer um das blaue Firmament ihren majestätischen Pur-
purmantel schlagen: da ist ihm wohl, da schlürft er
übermenschliche Seligkeit in vollen Zügen und schwebt,
wie die olympischen Götter, ruhig über dem Stöhnen
der Sterbenden, über den Klagen der Verstümmelten,
über den Verwünschungen der Unglücklichen. Er fühlt
nicht, er sieht nur, er ist ein reiner Geist, ein reiner
Geist mitten auf dem Boden des Gefühls, aber hoch
hinaufragend über denselben, wie ein Montblanc, da-
her unzugänglich allen den Einflüssen, die von unten
stammen.

Jn einer ähnlichen Stimmung waren die Bauern
auf dem Berge vor Dehlen, als sie das Schlachtfeld
von Bautzen übersahen. Sie waren durch den Anblick
über ihre Gefühlswelt erhoben worden und blickten, wie
verjüngte Chimborassos, weit über ihr Fußgestell hinweg.
Daher regte sich keine Klage in ihnen, als sie ihr Hab
und Gut in den ungeheuern Rauchwolken, die der Ost-
wind von den brennenden Dörfern über das Schlacht-
feld trieb, dahinziehen sahen. Sie waren im Anschauen
verloren, sie waren reine Geister und als solche der
Form der Zeit enthoben. Vier Stunden waren ihnen
so vergangen, wie vier Minuten. Die Sonne wollte
untergehen, gleichsam müde des schrecklichschönen Schau-
spiels, das nicht enden wollte, vielleicht weil sie nicht
blos vernahm, sondern auch fühlte, was unter ihr vor-
ging. Sie sah wenigstens nicht selig aus, ihr strahlen-
des Antlitz war mit dem Anschein tiefer Betrübniß um-
zogen, das Leiden der Tausende von Sterbenden, der
Schmerz der unzähligen Verwundeten schien sich in ihr
Herz gesenkt zu haben.

Der düstere Schein der untergehenden Sonne erin-
nerte die Bauern, daß es auch noch andere betrübte
Gesichter geben dürfte, und sie dachten zum ersten Mal
wieder an Weib und Kind, die sie schutzlos im Dorfe
zurückgelassen hatten. Kaum war dieser Gedanke mit
seinen Schrecken durch ihre Seele geflogen, als der
Donner der Kanonen in ihrem Rücken noch dringender
an die Rückkehr zu den Jhrigen mahnte. Wer für die-
sen Donner keine Ohren hatte, wurde durch den bluti-
gen Schein, der plötzlich unweit Dehlen zum Himmel
emporstieg, zum Aufbruch gemahnt. Bald überzeugte
man sich, daß sich die Schlacht an das westliche Ende
des Berges, auf dem man stand, in das Thal hinein
gezogen hatte, in welchem Dehlen lag. Nun wurden
die Bauern wieder ganz Menschen, ihre bisherige gei-
sterhafte Beschaffenheit machte der schlichtmenschlichen
wieder Platz, aus den künstlichen Chimborassos wurden
natürliche Maulwurfshügel voll Bedürfnisse, Sorgen
und Leiden.

Man führte die Rückkehr mit solcher Hastigkeit aus,
daß unser Handri, der doch sonst gut zu Fuße war,
weit zurückblieb. Als er endlich das Dorf erreichte, fand
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div xml:id="Saebel2" type="jArticle" n="1">
        <pb facs="#f0006" n="166"/>
        <fw type="pageNum" place="top">166</fw>
        <cb type="start"/>
        <p>Die Kinder gehören nicht alle mir, nur Jan und<lb/>
Hanka sind meine Kinder, antwortete Martha, indem<lb/>
sie dieselben mit der Hand berührte. Die drei andern<lb/>
sind mir aber nicht minder lieb, fügte sie schnell hinzu,<lb/>
als sie dieselben traurig zur Erde blicken sah.</p><lb/>
        <p>Was habt ihr für Rechte auf sie? Wo sind ihre<lb/>
Ältern.</p><lb/>
        <p>Sie sind Waisen und mir von meinem Manne,<lb/>
der das Unglück hatte, ihnen die Mutter zu tödten, wie<lb/>
eigene Kinder ans Herz gelegt worden.</p><lb/>
        <p>Hierauf erfuhr der Offizier Alles, was sich in der<lb/>
Schnelligkeit mittheilen ließ, und schien eine große Zu-<lb/>
neigung zu der Frau zu fassen, denn er klopfte sie<lb/>
freundlich auf die Achseln, gab ihr seine Börse und er-<lb/>
mahnte sie, in ihrer mütterlichen Liebe für die armen<lb/>
Waisen nicht nachzulassen. Dann vertheilte er die vor-<lb/>
handenen Vorräthe, als sein erobertes Eigenthum, unter<lb/>
die Anwesenden, doch so, daß Diejenigen besonders berück-<lb/>
sichtigt wurden, welche aus irgend einem Grunde eine<lb/>
besondere Berücksichtigung zu verdienen schienen.</p><lb/>
        <p>Als er Alles zufrieden gestellt sah, ließ er sich von<lb/>
Marthen ein Stück Brot und von einer ihr zugefalle-<lb/>
nen Speckseite ein Stück Speck geben und nahm Ab-<lb/>
schied, sich und seine Landsleute, welche nur den Zweck<lb/>
hätten, der Welt den Frieden wieder zu geben, dem<lb/>
Gebete der gerührten Menge empfehlend.</p><lb/>
        <p>Bald nach seinem Weggange hörte man den Don-<lb/>
ner der Kanonen jenseits des Gebirges. Die ganze<lb/>
Ebene östlich von Bautzen schien lebendig geworden zu<lb/>
sein und dem von Großgörschen heranstürmenden Napo-<lb/>
leon brüllend entgegenzurufen: &#x201E;Kehre um, das Glück<lb/>
hat sich von dir gewandt.&#x201C; Aber Napoleon war nicht<lb/>
gewöhnt, sich durch irgend etwas warnen zu lassen. Er<lb/>
wollte die in Rußland empfangene Scharte wieder aus-<lb/>
wetzen und drang unaufhaltsam vor.</p><lb/>
        <p>Die Bauern erzitterten bei jedem Kanonendonner,<lb/>
aber so groß ihre Furcht war, ihre Neugierde war doch<lb/>
noch größer. Es war den 20. Mai, Nachmittags um<lb/>
4 Uhr, als die Feuerschlünde dergestalt wütheten, daß<lb/>
das ganze Gebirge, an welchem das Dorf Dehlen lag,<lb/>
vor Schreck aufzuhüpfen schien. Es war ein Erdbeben,<lb/>
das die Völker der Erde verschlingen zu wollen schien.<lb/>
Aber die Größe des Schauspiels machte, daß die klein-<lb/>
lichen Leidenschaften der Furcht und Besorgniß verstumm-<lb/>
ten. Es ist mit dem Herzen, wie mit dem Auge, in<lb/>
welchem das kleinste Sandkörnchen, das seine Fläche be-<lb/>
rührt, den durchdringendsten Schmerz erzeugt, während<lb/>
es von der Hand des Operateurs gefaßt sich ruhig und<lb/>
schmerzlos den Staar stechen läßt. Wie der Donner<lb/>
der Kanonen seine Riesenstimme immer gewaltiger er-<lb/>
hob, wurde das Herz der Bauern immer ruhiger, bis<lb/>
sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Alles, was Ge-<lb/>
fühl heißt, ihrer bemächtigt hatte. Ohne zu fragen,<lb/>
welchen Gefahren sie sich und die Jhrigen preisgäben,<lb/>
folgten sie dem Triebe der Neugierde, die ihre Schritte<lb/>
dem Schlachtfelde zutrieb.</p><lb/>
        <p>Plötzlich war der Hof, wo sich Martha befand, sei-<lb/>
ner kräftigsten Jnsassen beraubt und man sah nur Greise,<lb/>
Weiber und Kinder. Auch Handri fehlte. Er war den<lb/>
Männern nachgeeilt, die auf das Gebirge gingen, von<lb/>
dem man die ganze Ebene von Bautzen übersehen kann.<lb/>
Als er hinauf kam, stand Mann an Mann, marmor-<lb/>
still da. Kein Wort, keine Bewegung verrieth das Le-<lb/>
ben der dichten Massen von Menschen. Alles war nur<lb/>
Auge geworden und schaute starr auf die Ebene, wo<lb/>
gegen 30 Dörfer in Brand standen und mit ihren<lb/>
Flammen die Wolken küßten. Zwischen ihnen waren<lb/>
Völker aller Nationen in unabsehbare Reihen ausge-<lb/><cb n="2"/>
dehnt, an denen die Adjutanten mit unbegreiflicher<lb/>
Schnelligkeit auf= und abflogen.</p><lb/>
        <p>Es war ein Anblick, der an Großartigkeit Alles<lb/>
übertraf, was im gewöhnlichen Leben großartig heißt,<lb/>
ein Anblick, der den Philosophen erklärt hätte, wie der<lb/>
Eroberer, der einmal die dämonische Seligkeit des An-<lb/>
blicks einer Völkerschlacht geschmeckt hat, das Eroberte,<lb/>
das er mit Strömen von Blut errungen, um einer<lb/>
Kleinigkeit willen wieder in die Schanze schlagen kann.<lb/>
Das Erobern ist es, das ihm Freude macht, nicht das<lb/>
Eroberte. Wenn die grünen Saaten unter dem Hufe<lb/>
zahlloser Reitergeschwader verschwinden; wenn sich die<lb/>
niedertretenen Gefilde mit Menschenblut färben; wenn<lb/>
der Boden von dem Brüllen unzähliger Feuerschlünde<lb/>
zittert, und die Flammen brennender Städte und Dör-<lb/>
fer um das blaue Firmament ihren majestätischen Pur-<lb/>
purmantel schlagen: da ist ihm wohl, da schlürft er<lb/>
übermenschliche Seligkeit in vollen Zügen und schwebt,<lb/>
wie die olympischen Götter, ruhig über dem Stöhnen<lb/>
der Sterbenden, über den Klagen der Verstümmelten,<lb/>
über den Verwünschungen der Unglücklichen. Er fühlt<lb/>
nicht, er sieht nur, er ist ein reiner Geist, ein reiner<lb/>
Geist mitten auf dem Boden des Gefühls, aber hoch<lb/>
hinaufragend über denselben, wie ein Montblanc, da-<lb/>
her unzugänglich allen den Einflüssen, die von unten<lb/>
stammen.</p><lb/>
        <p>Jn einer ähnlichen Stimmung waren die Bauern<lb/>
auf dem Berge vor Dehlen, als sie das Schlachtfeld<lb/>
von Bautzen übersahen. Sie waren durch den Anblick<lb/>
über ihre Gefühlswelt erhoben worden und blickten, wie<lb/>
verjüngte Chimborassos, weit über ihr Fußgestell hinweg.<lb/>
Daher regte sich keine Klage in ihnen, als sie ihr Hab<lb/>
und Gut in den ungeheuern Rauchwolken, die der Ost-<lb/>
wind von den brennenden Dörfern über das Schlacht-<lb/>
feld trieb, dahinziehen sahen. Sie waren im Anschauen<lb/>
verloren, sie waren reine Geister und als solche der<lb/>
Form der Zeit enthoben. Vier Stunden waren ihnen<lb/>
so vergangen, wie vier Minuten. Die Sonne wollte<lb/>
untergehen, gleichsam müde des schrecklichschönen Schau-<lb/>
spiels, das nicht enden wollte, vielleicht weil sie nicht<lb/>
blos vernahm, sondern auch fühlte, was unter ihr vor-<lb/>
ging. Sie sah wenigstens nicht selig aus, ihr strahlen-<lb/>
des Antlitz war mit dem Anschein tiefer Betrübniß um-<lb/>
zogen, das Leiden der Tausende von Sterbenden, der<lb/>
Schmerz der unzähligen Verwundeten schien sich in ihr<lb/>
Herz gesenkt zu haben.</p><lb/>
        <p>Der düstere Schein der untergehenden Sonne erin-<lb/>
nerte die Bauern, daß es auch noch andere betrübte<lb/>
Gesichter geben dürfte, und sie dachten zum ersten Mal<lb/>
wieder an Weib und Kind, die sie schutzlos im Dorfe<lb/>
zurückgelassen hatten. Kaum war dieser Gedanke mit<lb/>
seinen Schrecken durch ihre Seele geflogen, als der<lb/>
Donner der Kanonen in ihrem Rücken noch dringender<lb/>
an die Rückkehr zu den Jhrigen mahnte. Wer für die-<lb/>
sen Donner keine Ohren hatte, wurde durch den bluti-<lb/>
gen Schein, der plötzlich unweit Dehlen zum Himmel<lb/>
emporstieg, zum Aufbruch gemahnt. Bald überzeugte<lb/>
man sich, daß sich die Schlacht an das westliche Ende<lb/>
des Berges, auf dem man stand, in das Thal hinein<lb/>
gezogen hatte, in welchem Dehlen lag. Nun wurden<lb/>
die Bauern wieder ganz Menschen, ihre bisherige gei-<lb/>
sterhafte Beschaffenheit machte der schlichtmenschlichen<lb/>
wieder Platz, aus den künstlichen Chimborassos wurden<lb/>
natürliche Maulwurfshügel voll Bedürfnisse, Sorgen<lb/>
und Leiden.</p><lb/>
        <p>Man führte die Rückkehr mit solcher Hastigkeit aus,<lb/>
daß unser Handri, der doch sonst gut zu Fuße war,<lb/>
weit zurückblieb. Als er endlich das Dorf erreichte, fand<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0006] 166 Die Kinder gehören nicht alle mir, nur Jan und Hanka sind meine Kinder, antwortete Martha, indem sie dieselben mit der Hand berührte. Die drei andern sind mir aber nicht minder lieb, fügte sie schnell hinzu, als sie dieselben traurig zur Erde blicken sah. Was habt ihr für Rechte auf sie? Wo sind ihre Ältern. Sie sind Waisen und mir von meinem Manne, der das Unglück hatte, ihnen die Mutter zu tödten, wie eigene Kinder ans Herz gelegt worden. Hierauf erfuhr der Offizier Alles, was sich in der Schnelligkeit mittheilen ließ, und schien eine große Zu- neigung zu der Frau zu fassen, denn er klopfte sie freundlich auf die Achseln, gab ihr seine Börse und er- mahnte sie, in ihrer mütterlichen Liebe für die armen Waisen nicht nachzulassen. Dann vertheilte er die vor- handenen Vorräthe, als sein erobertes Eigenthum, unter die Anwesenden, doch so, daß Diejenigen besonders berück- sichtigt wurden, welche aus irgend einem Grunde eine besondere Berücksichtigung zu verdienen schienen. Als er Alles zufrieden gestellt sah, ließ er sich von Marthen ein Stück Brot und von einer ihr zugefalle- nen Speckseite ein Stück Speck geben und nahm Ab- schied, sich und seine Landsleute, welche nur den Zweck hätten, der Welt den Frieden wieder zu geben, dem Gebete der gerührten Menge empfehlend. Bald nach seinem Weggange hörte man den Don- ner der Kanonen jenseits des Gebirges. Die ganze Ebene östlich von Bautzen schien lebendig geworden zu sein und dem von Großgörschen heranstürmenden Napo- leon brüllend entgegenzurufen: „Kehre um, das Glück hat sich von dir gewandt.“ Aber Napoleon war nicht gewöhnt, sich durch irgend etwas warnen zu lassen. Er wollte die in Rußland empfangene Scharte wieder aus- wetzen und drang unaufhaltsam vor. Die Bauern erzitterten bei jedem Kanonendonner, aber so groß ihre Furcht war, ihre Neugierde war doch noch größer. Es war den 20. Mai, Nachmittags um 4 Uhr, als die Feuerschlünde dergestalt wütheten, daß das ganze Gebirge, an welchem das Dorf Dehlen lag, vor Schreck aufzuhüpfen schien. Es war ein Erdbeben, das die Völker der Erde verschlingen zu wollen schien. Aber die Größe des Schauspiels machte, daß die klein- lichen Leidenschaften der Furcht und Besorgniß verstumm- ten. Es ist mit dem Herzen, wie mit dem Auge, in welchem das kleinste Sandkörnchen, das seine Fläche be- rührt, den durchdringendsten Schmerz erzeugt, während es von der Hand des Operateurs gefaßt sich ruhig und schmerzlos den Staar stechen läßt. Wie der Donner der Kanonen seine Riesenstimme immer gewaltiger er- hob, wurde das Herz der Bauern immer ruhiger, bis sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Alles, was Ge- fühl heißt, ihrer bemächtigt hatte. Ohne zu fragen, welchen Gefahren sie sich und die Jhrigen preisgäben, folgten sie dem Triebe der Neugierde, die ihre Schritte dem Schlachtfelde zutrieb. Plötzlich war der Hof, wo sich Martha befand, sei- ner kräftigsten Jnsassen beraubt und man sah nur Greise, Weiber und Kinder. Auch Handri fehlte. Er war den Männern nachgeeilt, die auf das Gebirge gingen, von dem man die ganze Ebene von Bautzen übersehen kann. Als er hinauf kam, stand Mann an Mann, marmor- still da. Kein Wort, keine Bewegung verrieth das Le- ben der dichten Massen von Menschen. Alles war nur Auge geworden und schaute starr auf die Ebene, wo gegen 30 Dörfer in Brand standen und mit ihren Flammen die Wolken küßten. Zwischen ihnen waren Völker aller Nationen in unabsehbare Reihen ausge- dehnt, an denen die Adjutanten mit unbegreiflicher Schnelligkeit auf= und abflogen. Es war ein Anblick, der an Großartigkeit Alles übertraf, was im gewöhnlichen Leben großartig heißt, ein Anblick, der den Philosophen erklärt hätte, wie der Eroberer, der einmal die dämonische Seligkeit des An- blicks einer Völkerschlacht geschmeckt hat, das Eroberte, das er mit Strömen von Blut errungen, um einer Kleinigkeit willen wieder in die Schanze schlagen kann. Das Erobern ist es, das ihm Freude macht, nicht das Eroberte. Wenn die grünen Saaten unter dem Hufe zahlloser Reitergeschwader verschwinden; wenn sich die niedertretenen Gefilde mit Menschenblut färben; wenn der Boden von dem Brüllen unzähliger Feuerschlünde zittert, und die Flammen brennender Städte und Dör- fer um das blaue Firmament ihren majestätischen Pur- purmantel schlagen: da ist ihm wohl, da schlürft er übermenschliche Seligkeit in vollen Zügen und schwebt, wie die olympischen Götter, ruhig über dem Stöhnen der Sterbenden, über den Klagen der Verstümmelten, über den Verwünschungen der Unglücklichen. Er fühlt nicht, er sieht nur, er ist ein reiner Geist, ein reiner Geist mitten auf dem Boden des Gefühls, aber hoch hinaufragend über denselben, wie ein Montblanc, da- her unzugänglich allen den Einflüssen, die von unten stammen. Jn einer ähnlichen Stimmung waren die Bauern auf dem Berge vor Dehlen, als sie das Schlachtfeld von Bautzen übersahen. Sie waren durch den Anblick über ihre Gefühlswelt erhoben worden und blickten, wie verjüngte Chimborassos, weit über ihr Fußgestell hinweg. Daher regte sich keine Klage in ihnen, als sie ihr Hab und Gut in den ungeheuern Rauchwolken, die der Ost- wind von den brennenden Dörfern über das Schlacht- feld trieb, dahinziehen sahen. Sie waren im Anschauen verloren, sie waren reine Geister und als solche der Form der Zeit enthoben. Vier Stunden waren ihnen so vergangen, wie vier Minuten. Die Sonne wollte untergehen, gleichsam müde des schrecklichschönen Schau- spiels, das nicht enden wollte, vielleicht weil sie nicht blos vernahm, sondern auch fühlte, was unter ihr vor- ging. Sie sah wenigstens nicht selig aus, ihr strahlen- des Antlitz war mit dem Anschein tiefer Betrübniß um- zogen, das Leiden der Tausende von Sterbenden, der Schmerz der unzähligen Verwundeten schien sich in ihr Herz gesenkt zu haben. Der düstere Schein der untergehenden Sonne erin- nerte die Bauern, daß es auch noch andere betrübte Gesichter geben dürfte, und sie dachten zum ersten Mal wieder an Weib und Kind, die sie schutzlos im Dorfe zurückgelassen hatten. Kaum war dieser Gedanke mit seinen Schrecken durch ihre Seele geflogen, als der Donner der Kanonen in ihrem Rücken noch dringender an die Rückkehr zu den Jhrigen mahnte. Wer für die- sen Donner keine Ohren hatte, wurde durch den bluti- gen Schein, der plötzlich unweit Dehlen zum Himmel emporstieg, zum Aufbruch gemahnt. Bald überzeugte man sich, daß sich die Schlacht an das westliche Ende des Berges, auf dem man stand, in das Thal hinein gezogen hatte, in welchem Dehlen lag. Nun wurden die Bauern wieder ganz Menschen, ihre bisherige gei- sterhafte Beschaffenheit machte der schlichtmenschlichen wieder Platz, aus den künstlichen Chimborassos wurden natürliche Maulwurfshügel voll Bedürfnisse, Sorgen und Leiden. Man führte die Rückkehr mit solcher Hastigkeit aus, daß unser Handri, der doch sonst gut zu Fuße war, weit zurückblieb. Als er endlich das Dorf erreichte, fand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und TEI Transkription
Peter Fankhauser: Transformation von TUSTEP nach TEI P5. Transformation von TEI P5 in das DTA TEI P5 Format.

Weitere Informationen:

Siehe Dokumentation




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig021_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig021_1843/6
Zitationshilfe: Das Pfennig=Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Neue Folge, Erster Jahrgang, Nr. 21. Leipzig (Sachsen), 27. Mai 1843, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig021_1843/6>, abgerufen am 03.12.2024.