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Reichspost. Nr. 7, Wien, 10.01.1905.

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Wien, Dienstag Reichspost 10. Jänner 1905 7

[Spaltenumbruch]

Geschichte vom Sturze Koerbers, führte Doktor
Groß aus, wird erst geschrieben werden.
Koerber ist nicht gegangen infolge der Ab-
stimmung im Budgetausschusse über die 69 Mil-
lionen oder weil die Tschechen seinen Sturz
verlangt haben. Koerber ist einfach fallen
gelassen worden,
wie so viele andere vor
ihm und wahrscheinlich auch nach ihm. Warum?
Die Antwort auf diese Frage ist um so schwerer
zu geben, als man dabei gezwungen ist, sich eine
hochgradige Reserve aufzuerlegen. Mag sein, daß
die Ungeduld mächtiger militärischer Faktoren,
welchen die Mitteln für die Neubewaffnung der
Artillerie usw. nicht schnell genug zur Verfügung
gestellt wurden, den Ausschlag gegeben hat. Mag
sein, daß die Entrüstung der frommen Kreise,
über seine Haltung gegen die Gotteslästerer ein
Opfer forderte. Herr v. Koerber und selbst
sein Nachfolger wissen es nicht.

Die Neuwahlen in Ungarn.

Minister-
präsident Graf Stephan Tisza hat mit zwei
sehr inhaltsreichen Enunziationen in den bisher
noch recht akademisch sich gebenden Wahlkampf
eingegriffen. Er erließ an die liberale Partet
seines bisherigen Wahlkreises Ugra ein offenes
Abschiedsschreiben, in dem er namentlich auf das
militärische Programm seines bisherigen Regimes
hinweist, auf dessen erfolgreiche Durchführung
er sich beruft. Dieses Programm habe
über die Möglichkeit beruhigt, die gemein-
same Armee auf der Basis des 1867 er
Ausgleiches dem Herzen der Nation näher-
zubringen. In den von ungarischen
Offizieren angeführten ungarischen Truppenteilen
werde die ungarische Armee zur Wahrheit werden,
Die zweijährige Dienstzeit und die Reorganisation
der Artillerie mit ihrer Zuteilung zur Honved
habe die Regierung in kurzer Zeit bewerkstelligt.
Graf Tisza berührt schließlich in seinem Schreiben
die von der Opposition begangenen Unzukömmlich-
keiten, denen gegenüber das Präsidium des Parla-
mentes hätte Waffengewalt anwenden können,
und nimmt von seinen bisherigen Mandanten
Abschied. Gestern sprach der Ministerpräsident zu
den Wählern des vierten Ofen-Pester Bezirkes in
zweistündiger Programmrede über seine staats-
wirtschaftlichen Absichten, vor allem über das
selbständige Zollgebiet und die Handelsverträge.
Doch habe der Gedanke des selbständigen Zoll-
gebietes in der letzten Zeit in der öffentlichen
Meinung viel Anhänger gewonnen. "Ich bin,"
sagte Graf Tisza, "davon überzeugt, daß man
die Institution des gemeinsamen Zoll-
gebietes
für die Zukunft nicht retten
kann, wenn sich dieselbe zu einer langen Kette
von ununterbrochenen Provisorien gestalten wird."
Andererseits konnten aus "schweren patriotischen
Skrupeln" die Argumente gegen die der Zoll-
[Spaltenumbruch] gemeinsamkeit feindliche Agitation schwer
ins Treffen geführt werden, denn sie
hätten den Abschluß des Zollbündnisses
ungünstig beeinflussen können. Was das anlange,
sei der Standpunkt jetzt weit leichter, weil zwischen
den beiden Regierungen in dieser Frage bereits
ein Uebereinkommen getroffen wurde

und auch die österreichische Regierung bereits heute
an einen Standpunkt gebunden sei und jedermann
in Oesterreich darüber im Reinen sein könne, daß
die Periode des Feilschens zu Ende sei und daß
der vom Kabinett Szell vereinbarte Aus-
gleich auf der einzig möglichen Basis be-
ruhe, auf der ein Ausgleich zwischen Oesterreich
und Ungarn überhaupt zustandekommen könne.
Weitere Konzessionen gebe es in dieser
Frage nicht mehr. Die Schaffung eines selb-
ständigen Zollgebietes würde im gegenwärtigen
Augenblicke eine wahre Revolution in volkswirt-
schaftlicher Beziehung hervorrufen, die ungarische
Landwirtschaft würde sie zugrunde richten, die Mög-
lichkeit eines Exportes ungarischer Rohprodukte
auf ein Minimum beschränken und den größten
Teil der besitzenden Klasse Ungarns direkt seinem
Ruin entgegenführen. Ueber die Regelung der
Handelsbeziehungen zum Auslande sagte Graf
Tisza, es seien Verhandlungen mit Deutschland
im Zuge, die voraussichtlich in allernächster Zu-
kunft zu einer befriedigenden Lösung führen dürften.
Dieser Handelsvertrag wird vermutlich zur Richt-
schnur für die Verträge mit anderen Staaten dienen.
Schließlich besprach Tisza die der Lösung harrenden
sozialen Fragen, deren Lösung weder mit Gendarmen,
noch im Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung
und in unsinnigen Angriffen gegen das Kapital,
sondern darin zu finden sei, daß jeder in der Ge-
sellschaft seinen Platz ausfülle, daß jeder sich eine
menschenwürdige Existenz schaffen könne mit der
rechtschaffenen Arbeit seiner Hände. Diejenigen,
welche in Ungarn von einem allgemeinen
Wahlrecht
sprechen, seien entweder Utopisten
oder Agitatoren, welche sich um die Interessen der
ungarischen Nation nicht kümmern, oder aber --
und deren Zahl ist die größte -- es seien Leute,
die mit dem Feuer spielen im Vertrauen auf die
Feuerwehr. -- Die Wahlbewegung geht im
übrigen ihren normalen Gang. Graf Albert
Apponyi wurde heute als Kandidat für das
Reichstagsmandat von Jaszbereny, der gewesene
Ackerbauminister Doktor v. Daranyi für das
in Tapolcza aufgestellt. Der Raaber Bischof Graf
Nikolaus Szechenyi hat an seinen Diözesan-
klerus ein Rundschreiben gerichtet, indem er be-
züglich der Wahlen anordnet: 1. Die Geistlichen
mögen die Wahlen nicht in ihre kirchlichen Reden
und Handlungen einbeziehen. 2. Auf dem Pfarr-
gebäude dürfen keine Wahlfahnen angebracht
werden. 3. Die Geistlichen dürfen weder auf den
[Spaltenumbruch] Hüten, noch an den Kleidungsstücken Wahl-
abzeichen tragen. 4. Die Geistlichen mögen die
Wahlagitationslokale nicht aufsuchen und keine
Tätigkeit im Dienste der Wahlen entfalten.
5. Die Geistlichen sollen die auf der Rundreise
befindlichen Abgeordneten-Kandidaten nicht be-
suchen. Doch schließe dies nicht aus, daß die Geist-
lichen all jenen, die sich an sie vertrauensvoll
wenden, mit Ratschlägen und Aufklärungen zur
Seite stehen. Maßgebend sei, daß sich die Gläu-
bigen nur an solche Männer anschließen, die die
Gewähr dafür bieten, daß sie die Interessen der
Kirche wahren werden.

Deutsches Reich.
Große Verluste in Deutsch-Westafrika

haben die deutschen Truppen in dem letzten
fünfzigstündigem Gefechte bei Groß-Nabas in
Deutsch-Südwestafrika erlitten. Fünf Offiziere
und fünfzig Mann sollen auf deutscher Seite
gefallen sein. Der Feind war tausend Mann stark:
Hottentotten und Hereros.

Frankreich.
Syvetons Nachfolger.

Gestern ist an
Stelle Syvetons im zweiten Pariser Arrondissement
Admiral Bienaime gewählt worden. Bienaime ist
Nationalist und war ein Freund Syvetons. Als
Hafenpräfekt von Toulon hatte er mit seinem Vor-
gesetzten wiederholt Konflikte. Vor sechs Monaten
hatte er sein Entlassungsgesuch eingereicht, das
Marineminister Pelletan sofort annahm. Sein
Gegenkandidat war Bellan, der Stadtsyndikus
von Paris. Bei der Verkündigung des Wahl-
resultates auf der Mairie des zweiten Arrondisse-
ments kam es zu einer argen Schlägerei. Admiral
Bienaime war bei seinem Erscheinen Gegenstand ver-
schiedener Kundgebungen. Die Manifestanten zer-
streuten sich, ohne daß die Polizei eingeschritten wäre.
Nach der Wahl Bienaimes veranstalteten gestern
etwa 200 Nationalisten Kundgebungen gegen die
Regierung und gegen die Freimaurer. Während
dieser kam es wiederholt zwischen Nationalisten
und Sozialisten zu Raufereien. Die Polizei nahm
15 Verhaftungen vor. Die offiziösen Blätter er-
klären, die Wahl Bienaimes sei eine schwere
Niederlage für die Regierung.
Syveton
habe durch seine Ohrfeige den Rücktritt Andres
herbeigeführt, Bienaime werde den Marine-
minister zur Demission zwingen.
Die
radikalen Blätter brüsten sich damit, daß die
Zahl der nationalistischen Wähler abgenommen
habe, fügen jedoch hinzu, diese Wahl sei eine
Mahnung für die Republikaner und für die
Regierung, im Hinblicke auf die allgemeinen
Wahlen für die Deputiertenkammer im Jahre
1906, ihre Anstrengungen zu verdoppeln.

Ein Bischof vor Gericht.

Msgr. Ricard,
Bischof von Augouleme, stand am 2. Jänner vor




[Spaltenumbruch]

Luther und erhielt dafür vom Papste den Titel
des "Verteidigers des Glaubes", den englische
Monarchen noch heute führen, sagte sich später
vom Papsttum los und sonnte sich nun in dem
Glanze eines "Oberhauptes der anglikanischen
Staatskirche". Er war sehr eitel. Den
venetianischen Gesandten fragte er einmal,
indem er sich befriedigt auf die Schenkel
klopfte, ob der König von Frankreich gleich
prächtige Hüften, Schenkel und Waden habe. Er
war auch sittenlos und grausam, ließ mehrere
seiner Frauen hinrichten und ging schließlich mit
einer Protestantin, Anna von Cleve, eine Ver-
nunftehe ein, um seine politischen Beziehungen zu
dem deutschen Kaiser zu verbessern. Wenn ihm
dieses nicht gelang, so fällt das Verschulden
indessen weniger auf ihn als vielmehr auf Hans
Holbein, der Anna, die ausnehmend häßlich war,
in dem für den königlichen Brautwerber be-
stimmten Gemälde sehr geschmeichelt hatte.
Diese Heirat, aus der sich die deutschen Prote-
stanten anfänglich viel für ihre Sache ver-
sprachen, blieb auf die Gestaltung der religiösen
Beziehungen der beiden Völker ohne Einfluß.

Königin Elisabeth gab den politischen und
kommerziellen Beziehungen zwischen England und
Deutschland eine Wendung, die zwar dem briti-
schen Reiche zu einer nie geahnten Höhe verhalf,
gleichzeitig jedoch dem Hansabunde den Todes-
stoß versetzte und ein gefährliches politisches In-
trigenspiel auf dem Festlande anbahnte.

In die Regierungszeit der Stuarts bezw.
die Jakobs I. fällt der 30jährige Krieg, an dem
das englische Volk mittelbar, der englische Hof
unmittelbar interessiert war, da es die Tochter
des Königs gewesen, die dem Pfalzgrafen Friedrich
sich vermält hatte. Einige Geschichtsschreiber be-
[h]aupten, daß [sie] es gewesen, die den "Winter-
[Spaltenumbruch] könig" zur Annahme der böhmischen Krone zu
überreden wußte und dadurch die unheilvollen
Religionswirren heraufbeschwor. Auf der andern
Hand war es Sohn Jakobs, der die Schwester
Ludwigs XIII. von Frankreich ehelichte und damit
eine ausgesprochen deutschfeindliche Politik seiner Nach-
kommen einleitete. Karl I. stand im Solde Frankreichs.
Cromwells republikanische Regierung war zu viel
mit der Herstellung geordneter Verhältnisse in
England und Schottland und mit der Nieder-
werfung des irischen Aufstandes beschäftigt, um
sich um die Gestaltung der Dinge auf dem Fest-
lande bekümmern zu können, Karl II. lebte seinen
Maitressen und da auch er, wie sein Vater,
französisches Schweiggeld empfing, rührte er nicht
einen Finger als Ludwig XIV. in Lothringen
einfiel, dieses als billige Beute nahm und sodann
seine Aufmerksamkeit auf die Unterjochung der
Niederlande richtete. Unter Jakob II. schien Eng-
land auf dem besten Wege, ein französischer
Vasallenstaat zu werden, als Wilhelm von
Oranien, ein edler Krieger deutscher Herkunft, zur
rechten Zeit auftauchte, um England zu retten
und seine alten freundschaftlichen Beziehungen zu
dem stammverwandten Deutschland wieder herzu-
stellen. Wilhelm III. gab dem englischen Staatsschiff
eine andere Wendung, daß diese jedoch nicht wirk-
sam genug war, um den räuberischen Einfällen
Ludwigs in Deutschland Schranken zu setzen, war
weniger das Verschulden des Oraniers als viel-
mehr des englischen Parlaments, dessen fortgesetzter
Widerstand den König sehr erbitterte. Erst Königin
Anna gewann freiere Hand, und ihr erstes Werk
war es, dem Bunde gegen Frankreich beizutreten.
Es spricht nicht viel für sie, daß sie später ge-
heime Verhandlungen mit Ludwig einleitete, einen
Waffenstillstand schloß -- und ihre Verbündeten
schmählich im Stiche ließ.


[Spaltenumbruch]

Der Whig-Partei und den englischen Prote-
stanten ist es zu danken, daß bereits zwei Wochen
nach dem Tode der Königin Georg von Hannover
zum englischen König ausgerufen wurde, und die
Liberalen sind es auch noch heute, die auf die
Besserung der in den letzten Jahren ziemlich ge-
spannten englisch-deutschen Beziehungen hinzuwirken
sich bemühen.




Noch ein paar Worte seien mir verstattet,
die weil sie die Einwanderungsfrage berühren,
von aktuellem Interesse sein dürften. Kein Gerin-
gerer als Lord Rosebery hat wiederholt Stellung
gegen die unsinnige Strömung im englischen Volk
gegen das Ausländertum genommen, nichtsdesto-
weniger hört die Agitation in der chauvinistischen
englischen Presse nicht auf. Mit Recht führte der
Lord einmal im Oberhause aus, daß England
den Einwanderern vieles, wenn nicht alles, ver-
danke, daß es deutsche Hanseaten waren, die den
Grundstein zu Englands Stellung als Handels-
und Seevolk legten, daß die Engländer des
Mittelalters ein Bauernvolk waren und daß der
einzige Ausfuhrartikel Rohwolle war. England
brauchte Kapitalisten, Bankiers und fremde Geld-
wechsler, die es in Kaufleuten aus der Lombardei,
nach denen die Londoner Lombard Street noch
heute ihren Namen führt, fand. Mit wenig Worten:
Ausländer waren es, die teils auf die Einladung
kluger englischer Monarchen, teils auf ihre eigene
Initiative hin, nach England kamen und nicht nur
den englischen Handel schufen, sondern ihn auch
finanzierten, die Bodenschätze des Landes hoben
und aus dem Ackerbaustaate ein Handelsreich
schufen, das weiter zu entwickeln der Königin
Elisabeth und ihren Nachfolgern verhältnismäßig
leicht war.


Wien, Dienstag Reichspoſt 10. Jänner 1905 7

[Spaltenumbruch]

Geſchichte vom Sturze Koerbers, führte Doktor
Groß aus, wird erſt geſchrieben werden.
Koerber iſt nicht gegangen infolge der Ab-
ſtimmung im Budgetausſchuſſe über die 69 Mil-
lionen oder weil die Tſchechen ſeinen Sturz
verlangt haben. Koerber iſt einfach fallen
gelaſſen worden,
wie ſo viele andere vor
ihm und wahrſcheinlich auch nach ihm. Warum?
Die Antwort auf dieſe Frage iſt um ſo ſchwerer
zu geben, als man dabei gezwungen iſt, ſich eine
hochgradige Reſerve aufzuerlegen. Mag ſein, daß
die Ungeduld mächtiger militäriſcher Faktoren,
welchen die Mitteln für die Neubewaffnung der
Artillerie uſw. nicht ſchnell genug zur Verfügung
geſtellt wurden, den Ausſchlag gegeben hat. Mag
ſein, daß die Entrüſtung der frommen Kreiſe,
über ſeine Haltung gegen die Gottesläſterer ein
Opfer forderte. Herr v. Koerber und ſelbſt
ſein Nachfolger wiſſen es nicht.

Die Neuwahlen in Ungarn.

Miniſter-
präſident Graf Stephan Tisza hat mit zwei
ſehr inhaltsreichen Enunziationen in den bisher
noch recht akademiſch ſich gebenden Wahlkampf
eingegriffen. Er erließ an die liberale Partet
ſeines bisherigen Wahlkreiſes Ugra ein offenes
Abſchiedsſchreiben, in dem er namentlich auf das
militäriſche Programm ſeines bisherigen Regimes
hinweiſt, auf deſſen erfolgreiche Durchführung
er ſich beruft. Dieſes Programm habe
über die Möglichkeit beruhigt, die gemein-
ſame Armee auf der Baſis des 1867 er
Ausgleiches dem Herzen der Nation näher-
zubringen. In den von ungariſchen
Offizieren angeführten ungariſchen Truppenteilen
werde die ungariſche Armee zur Wahrheit werden,
Die zweijährige Dienſtzeit und die Reorganiſation
der Artillerie mit ihrer Zuteilung zur Honvéd
habe die Regierung in kurzer Zeit bewerkſtelligt.
Graf Tisza berührt ſchließlich in ſeinem Schreiben
die von der Oppoſition begangenen Unzukömmlich-
keiten, denen gegenüber das Präſidium des Parla-
mentes hätte Waffengewalt anwenden können,
und nimmt von ſeinen bisherigen Mandanten
Abſchied. Geſtern ſprach der Miniſterpräſident zu
den Wählern des vierten Ofen-Peſter Bezirkes in
zweiſtündiger Programmrede über ſeine ſtaats-
wirtſchaftlichen Abſichten, vor allem über das
ſelbſtändige Zollgebiet und die Handelsverträge.
Doch habe der Gedanke des ſelbſtändigen Zoll-
gebietes in der letzten Zeit in der öffentlichen
Meinung viel Anhänger gewonnen. „Ich bin,“
ſagte Graf Tisza, „davon überzeugt, daß man
die Inſtitution des gemeinſamen Zoll-
gebietes
für die Zukunft nicht retten
kann, wenn ſich dieſelbe zu einer langen Kette
von ununterbrochenen Proviſorien geſtalten wird.“
Andererſeits konnten aus „ſchweren patriotiſchen
Skrupeln“ die Argumente gegen die der Zoll-
[Spaltenumbruch] gemeinſamkeit feindliche Agitation ſchwer
ins Treffen geführt werden, denn ſie
hätten den Abſchluß des Zollbündniſſes
ungünſtig beeinfluſſen können. Was das anlange,
ſei der Standpunkt jetzt weit leichter, weil zwiſchen
den beiden Regierungen in dieſer Frage bereits
ein Uebereinkommen getroffen wurde

und auch die öſterreichiſche Regierung bereits heute
an einen Standpunkt gebunden ſei und jedermann
in Oeſterreich darüber im Reinen ſein könne, daß
die Periode des Feilſchens zu Ende ſei und daß
der vom Kabinett Szell vereinbarte Aus-
gleich auf der einzig möglichen Baſis be-
ruhe, auf der ein Ausgleich zwiſchen Oeſterreich
und Ungarn überhaupt zuſtandekommen könne.
Weitere Konzeſſionen gebe es in dieſer
Frage nicht mehr. Die Schaffung eines ſelb-
ſtändigen Zollgebietes würde im gegenwärtigen
Augenblicke eine wahre Revolution in volkswirt-
ſchaftlicher Beziehung hervorrufen, die ungariſche
Landwirtſchaft würde ſie zugrunde richten, die Mög-
lichkeit eines Exportes ungariſcher Rohprodukte
auf ein Minimum beſchränken und den größten
Teil der beſitzenden Klaſſe Ungarns direkt ſeinem
Ruin entgegenführen. Ueber die Regelung der
Handelsbeziehungen zum Auslande ſagte Graf
Tisza, es ſeien Verhandlungen mit Deutſchland
im Zuge, die vorausſichtlich in allernächſter Zu-
kunft zu einer befriedigenden Löſung führen dürften.
Dieſer Handelsvertrag wird vermutlich zur Richt-
ſchnur für die Verträge mit anderen Staaten dienen.
Schließlich beſprach Tisza die der Löſung harrenden
ſozialen Fragen, deren Löſung weder mit Gendarmen,
noch im Umſturz der geſellſchaftlichen Ordnung
und in unſinnigen Angriffen gegen das Kapital,
ſondern darin zu finden ſei, daß jeder in der Ge-
ſellſchaft ſeinen Platz ausfülle, daß jeder ſich eine
menſchenwürdige Exiſtenz ſchaffen könne mit der
rechtſchaffenen Arbeit ſeiner Hände. Diejenigen,
welche in Ungarn von einem allgemeinen
Wahlrecht
ſprechen, ſeien entweder Utopiſten
oder Agitatoren, welche ſich um die Intereſſen der
ungariſchen Nation nicht kümmern, oder aber —
und deren Zahl iſt die größte — es ſeien Leute,
die mit dem Feuer ſpielen im Vertrauen auf die
Feuerwehr. — Die Wahlbewegung geht im
übrigen ihren normalen Gang. Graf Albert
Apponyi wurde heute als Kandidat für das
Reichstagsmandat von Jaszberény, der geweſene
Ackerbauminiſter Doktor v. Daranyi für das
in Tapolcza aufgeſtellt. Der Raaber Biſchof Graf
Nikolaus Szechenyi hat an ſeinen Diözeſan-
klerus ein Rundſchreiben gerichtet, indem er be-
züglich der Wahlen anordnet: 1. Die Geiſtlichen
mögen die Wahlen nicht in ihre kirchlichen Reden
und Handlungen einbeziehen. 2. Auf dem Pfarr-
gebäude dürfen keine Wahlfahnen angebracht
werden. 3. Die Geiſtlichen dürfen weder auf den
[Spaltenumbruch] Hüten, noch an den Kleidungsſtücken Wahl-
abzeichen tragen. 4. Die Geiſtlichen mögen die
Wahlagitationslokale nicht aufſuchen und keine
Tätigkeit im Dienſte der Wahlen entfalten.
5. Die Geiſtlichen ſollen die auf der Rundreiſe
befindlichen Abgeordneten-Kandidaten nicht be-
ſuchen. Doch ſchließe dies nicht aus, daß die Geiſt-
lichen all jenen, die ſich an ſie vertrauensvoll
wenden, mit Ratſchlägen und Aufklärungen zur
Seite ſtehen. Maßgebend ſei, daß ſich die Gläu-
bigen nur an ſolche Männer anſchließen, die die
Gewähr dafür bieten, daß ſie die Intereſſen der
Kirche wahren werden.

Deutſches Reich.
Große Verluſte in Deutſch-Weſtafrika

haben die deutſchen Truppen in dem letzten
fünfzigſtündigem Gefechte bei Groß-Nabas in
Deutſch-Südweſtafrika erlitten. Fünf Offiziere
und fünfzig Mann ſollen auf deutſcher Seite
gefallen ſein. Der Feind war tauſend Mann ſtark:
Hottentotten und Hereros.

Frankreich.
Syvetons Nachfolger.

Geſtern iſt an
Stelle Syvetons im zweiten Pariſer Arrondiſſement
Admiral Bienaimé gewählt worden. Bienaimé iſt
Nationaliſt und war ein Freund Syvetons. Als
Hafenpräfekt von Toulon hatte er mit ſeinem Vor-
geſetzten wiederholt Konflikte. Vor ſechs Monaten
hatte er ſein Entlaſſungsgeſuch eingereicht, das
Marineminiſter Pelletan ſofort annahm. Sein
Gegenkandidat war Bellan, der Stadtſyndikus
von Paris. Bei der Verkündigung des Wahl-
reſultates auf der Mairie des zweiten Arrondiſſe-
ments kam es zu einer argen Schlägerei. Admiral
Bienaimé war bei ſeinem Erſcheinen Gegenſtand ver-
ſchiedener Kundgebungen. Die Manifeſtanten zer-
ſtreuten ſich, ohne daß die Polizei eingeſchritten wäre.
Nach der Wahl Bienaimés veranſtalteten geſtern
etwa 200 Nationaliſten Kundgebungen gegen die
Regierung und gegen die Freimaurer. Während
dieſer kam es wiederholt zwiſchen Nationaliſten
und Sozialiſten zu Raufereien. Die Polizei nahm
15 Verhaftungen vor. Die offiziöſen Blätter er-
klären, die Wahl Bienaimés ſei eine ſchwere
Niederlage für die Regierung.
Syveton
habe durch ſeine Ohrfeige den Rücktritt Andrés
herbeigeführt, Bienaimé werde den Marine-
miniſter zur Demiſſion zwingen.
Die
radikalen Blätter brüſten ſich damit, daß die
Zahl der nationaliſtiſchen Wähler abgenommen
habe, fügen jedoch hinzu, dieſe Wahl ſei eine
Mahnung für die Republikaner und für die
Regierung, im Hinblicke auf die allgemeinen
Wahlen für die Deputiertenkammer im Jahre
1906, ihre Anſtrengungen zu verdoppeln.

Ein Biſchof vor Gericht.

Mſgr. Ricard,
Biſchof von Augoulême, ſtand am 2. Jänner vor




[Spaltenumbruch]

Luther und erhielt dafür vom Papſte den Titel
des „Verteidigers des Glaubes“, den engliſche
Monarchen noch heute führen, ſagte ſich ſpäter
vom Papſttum los und ſonnte ſich nun in dem
Glanze eines „Oberhauptes der anglikaniſchen
Staatskirche“. Er war ſehr eitel. Den
venetianiſchen Geſandten fragte er einmal,
indem er ſich befriedigt auf die Schenkel
klopfte, ob der König von Frankreich gleich
prächtige Hüften, Schenkel und Waden habe. Er
war auch ſittenlos und grauſam, ließ mehrere
ſeiner Frauen hinrichten und ging ſchließlich mit
einer Proteſtantin, Anna von Cleve, eine Ver-
nunftehe ein, um ſeine politiſchen Beziehungen zu
dem deutſchen Kaiſer zu verbeſſern. Wenn ihm
dieſes nicht gelang, ſo fällt das Verſchulden
indeſſen weniger auf ihn als vielmehr auf Hans
Holbein, der Anna, die ausnehmend häßlich war,
in dem für den königlichen Brautwerber be-
ſtimmten Gemälde ſehr geſchmeichelt hatte.
Dieſe Heirat, aus der ſich die deutſchen Prote-
ſtanten anfänglich viel für ihre Sache ver-
ſprachen, blieb auf die Geſtaltung der religiöſen
Beziehungen der beiden Völker ohne Einfluß.

Königin Eliſabeth gab den politiſchen und
kommerziellen Beziehungen zwiſchen England und
Deutſchland eine Wendung, die zwar dem briti-
ſchen Reiche zu einer nie geahnten Höhe verhalf,
gleichzeitig jedoch dem Hanſabunde den Todes-
ſtoß verſetzte und ein gefährliches politiſches In-
trigenſpiel auf dem Feſtlande anbahnte.

In die Regierungszeit der Stuarts bezw.
die Jakobs I. fällt der 30jährige Krieg, an dem
das engliſche Volk mittelbar, der engliſche Hof
unmittelbar intereſſiert war, da es die Tochter
des Königs geweſen, die dem Pfalzgrafen Friedrich
ſich vermält hatte. Einige Geſchichtsſchreiber be-
[h]aupten, daß [ſie] es geweſen, die den „Winter-
[Spaltenumbruch] könig“ zur Annahme der böhmiſchen Krone zu
überreden wußte und dadurch die unheilvollen
Religionswirren heraufbeſchwor. Auf der andern
Hand war es Sohn Jakobs, der die Schweſter
Ludwigs XIII. von Frankreich ehelichte und damit
eine ausgeſprochen deutſchfeindliche Politik ſeiner Nach-
kommen einleitete. Karl I. ſtand im Solde Frankreichs.
Cromwells republikaniſche Regierung war zu viel
mit der Herſtellung geordneter Verhältniſſe in
England und Schottland und mit der Nieder-
werfung des iriſchen Aufſtandes beſchäftigt, um
ſich um die Geſtaltung der Dinge auf dem Feſt-
lande bekümmern zu können, Karl II. lebte ſeinen
Maitreſſen und da auch er, wie ſein Vater,
franzöſiſches Schweiggeld empfing, rührte er nicht
einen Finger als Ludwig XIV. in Lothringen
einfiel, dieſes als billige Beute nahm und ſodann
ſeine Aufmerkſamkeit auf die Unterjochung der
Niederlande richtete. Unter Jakob II. ſchien Eng-
land auf dem beſten Wege, ein franzöſiſcher
Vaſallenſtaat zu werden, als Wilhelm von
Oranien, ein edler Krieger deutſcher Herkunft, zur
rechten Zeit auftauchte, um England zu retten
und ſeine alten freundſchaftlichen Beziehungen zu
dem ſtammverwandten Deutſchland wieder herzu-
ſtellen. Wilhelm III. gab dem engliſchen Staatsſchiff
eine andere Wendung, daß dieſe jedoch nicht wirk-
ſam genug war, um den räuberiſchen Einfällen
Ludwigs in Deutſchland Schranken zu ſetzen, war
weniger das Verſchulden des Oraniers als viel-
mehr des engliſchen Parlaments, deſſen fortgeſetzter
Widerſtand den König ſehr erbitterte. Erſt Königin
Anna gewann freiere Hand, und ihr erſtes Werk
war es, dem Bunde gegen Frankreich beizutreten.
Es ſpricht nicht viel für ſie, daß ſie ſpäter ge-
heime Verhandlungen mit Ludwig einleitete, einen
Waffenſtillſtand ſchloß — und ihre Verbündeten
ſchmählich im Stiche ließ.


[Spaltenumbruch]

Der Whig-Partei und den engliſchen Prote-
ſtanten iſt es zu danken, daß bereits zwei Wochen
nach dem Tode der Königin Georg von Hannover
zum engliſchen König ausgerufen wurde, und die
Liberalen ſind es auch noch heute, die auf die
Beſſerung der in den letzten Jahren ziemlich ge-
ſpannten engliſch-deutſchen Beziehungen hinzuwirken
ſich bemühen.




Noch ein paar Worte ſeien mir verſtattet,
die weil ſie die Einwanderungsfrage berühren,
von aktuellem Intereſſe ſein dürften. Kein Gerin-
gerer als Lord Roſebery hat wiederholt Stellung
gegen die unſinnige Strömung im engliſchen Volk
gegen das Ausländertum genommen, nichtsdeſto-
weniger hört die Agitation in der chauviniſtiſchen
engliſchen Preſſe nicht auf. Mit Recht führte der
Lord einmal im Oberhauſe aus, daß England
den Einwanderern vieles, wenn nicht alles, ver-
danke, daß es deutſche Hanſeaten waren, die den
Grundſtein zu Englands Stellung als Handels-
und Seevolk legten, daß die Engländer des
Mittelalters ein Bauernvolk waren und daß der
einzige Ausfuhrartikel Rohwolle war. England
brauchte Kapitaliſten, Bankiers und fremde Geld-
wechſler, die es in Kaufleuten aus der Lombardei,
nach denen die Londoner Lombard Street noch
heute ihren Namen führt, fand. Mit wenig Worten:
Ausländer waren es, die teils auf die Einladung
kluger engliſcher Monarchen, teils auf ihre eigene
Initiative hin, nach England kamen und nicht nur
den engliſchen Handel ſchufen, ſondern ihn auch
finanzierten, die Bodenſchätze des Landes hoben
und aus dem Ackerbauſtaate ein Handelsreich
ſchufen, das weiter zu entwickeln der Königin
Eliſabeth und ihren Nachfolgern verhältnismäßig
leicht war.


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[2/0002] Wien, Dienstag Reichspoſt 10. Jänner 1905 7 Geſchichte vom Sturze Koerbers, führte Doktor Groß aus, wird erſt geſchrieben werden. Koerber iſt nicht gegangen infolge der Ab- ſtimmung im Budgetausſchuſſe über die 69 Mil- lionen oder weil die Tſchechen ſeinen Sturz verlangt haben. Koerber iſt einfach fallen gelaſſen worden, wie ſo viele andere vor ihm und wahrſcheinlich auch nach ihm. Warum? Die Antwort auf dieſe Frage iſt um ſo ſchwerer zu geben, als man dabei gezwungen iſt, ſich eine hochgradige Reſerve aufzuerlegen. Mag ſein, daß die Ungeduld mächtiger militäriſcher Faktoren, welchen die Mitteln für die Neubewaffnung der Artillerie uſw. nicht ſchnell genug zur Verfügung geſtellt wurden, den Ausſchlag gegeben hat. Mag ſein, daß die Entrüſtung der frommen Kreiſe, über ſeine Haltung gegen die Gottesläſterer ein Opfer forderte. Herr v. Koerber und ſelbſt ſein Nachfolger wiſſen es nicht. Die Neuwahlen in Ungarn. Miniſter- präſident Graf Stephan Tisza hat mit zwei ſehr inhaltsreichen Enunziationen in den bisher noch recht akademiſch ſich gebenden Wahlkampf eingegriffen. Er erließ an die liberale Partet ſeines bisherigen Wahlkreiſes Ugra ein offenes Abſchiedsſchreiben, in dem er namentlich auf das militäriſche Programm ſeines bisherigen Regimes hinweiſt, auf deſſen erfolgreiche Durchführung er ſich beruft. Dieſes Programm habe über die Möglichkeit beruhigt, die gemein- ſame Armee auf der Baſis des 1867 er Ausgleiches dem Herzen der Nation näher- zubringen. In den von ungariſchen Offizieren angeführten ungariſchen Truppenteilen werde die ungariſche Armee zur Wahrheit werden, Die zweijährige Dienſtzeit und die Reorganiſation der Artillerie mit ihrer Zuteilung zur Honvéd habe die Regierung in kurzer Zeit bewerkſtelligt. Graf Tisza berührt ſchließlich in ſeinem Schreiben die von der Oppoſition begangenen Unzukömmlich- keiten, denen gegenüber das Präſidium des Parla- mentes hätte Waffengewalt anwenden können, und nimmt von ſeinen bisherigen Mandanten Abſchied. Geſtern ſprach der Miniſterpräſident zu den Wählern des vierten Ofen-Peſter Bezirkes in zweiſtündiger Programmrede über ſeine ſtaats- wirtſchaftlichen Abſichten, vor allem über das ſelbſtändige Zollgebiet und die Handelsverträge. Doch habe der Gedanke des ſelbſtändigen Zoll- gebietes in der letzten Zeit in der öffentlichen Meinung viel Anhänger gewonnen. „Ich bin,“ ſagte Graf Tisza, „davon überzeugt, daß man die Inſtitution des gemeinſamen Zoll- gebietes für die Zukunft nicht retten kann, wenn ſich dieſelbe zu einer langen Kette von ununterbrochenen Proviſorien geſtalten wird.“ Andererſeits konnten aus „ſchweren patriotiſchen Skrupeln“ die Argumente gegen die der Zoll- gemeinſamkeit feindliche Agitation ſchwer ins Treffen geführt werden, denn ſie hätten den Abſchluß des Zollbündniſſes ungünſtig beeinfluſſen können. Was das anlange, ſei der Standpunkt jetzt weit leichter, weil zwiſchen den beiden Regierungen in dieſer Frage bereits ein Uebereinkommen getroffen wurde und auch die öſterreichiſche Regierung bereits heute an einen Standpunkt gebunden ſei und jedermann in Oeſterreich darüber im Reinen ſein könne, daß die Periode des Feilſchens zu Ende ſei und daß der vom Kabinett Szell vereinbarte Aus- gleich auf der einzig möglichen Baſis be- ruhe, auf der ein Ausgleich zwiſchen Oeſterreich und Ungarn überhaupt zuſtandekommen könne. Weitere Konzeſſionen gebe es in dieſer Frage nicht mehr. Die Schaffung eines ſelb- ſtändigen Zollgebietes würde im gegenwärtigen Augenblicke eine wahre Revolution in volkswirt- ſchaftlicher Beziehung hervorrufen, die ungariſche Landwirtſchaft würde ſie zugrunde richten, die Mög- lichkeit eines Exportes ungariſcher Rohprodukte auf ein Minimum beſchränken und den größten Teil der beſitzenden Klaſſe Ungarns direkt ſeinem Ruin entgegenführen. Ueber die Regelung der Handelsbeziehungen zum Auslande ſagte Graf Tisza, es ſeien Verhandlungen mit Deutſchland im Zuge, die vorausſichtlich in allernächſter Zu- kunft zu einer befriedigenden Löſung führen dürften. Dieſer Handelsvertrag wird vermutlich zur Richt- ſchnur für die Verträge mit anderen Staaten dienen. Schließlich beſprach Tisza die der Löſung harrenden ſozialen Fragen, deren Löſung weder mit Gendarmen, noch im Umſturz der geſellſchaftlichen Ordnung und in unſinnigen Angriffen gegen das Kapital, ſondern darin zu finden ſei, daß jeder in der Ge- ſellſchaft ſeinen Platz ausfülle, daß jeder ſich eine menſchenwürdige Exiſtenz ſchaffen könne mit der rechtſchaffenen Arbeit ſeiner Hände. Diejenigen, welche in Ungarn von einem allgemeinen Wahlrecht ſprechen, ſeien entweder Utopiſten oder Agitatoren, welche ſich um die Intereſſen der ungariſchen Nation nicht kümmern, oder aber — und deren Zahl iſt die größte — es ſeien Leute, die mit dem Feuer ſpielen im Vertrauen auf die Feuerwehr. — Die Wahlbewegung geht im übrigen ihren normalen Gang. Graf Albert Apponyi wurde heute als Kandidat für das Reichstagsmandat von Jaszberény, der geweſene Ackerbauminiſter Doktor v. Daranyi für das in Tapolcza aufgeſtellt. Der Raaber Biſchof Graf Nikolaus Szechenyi hat an ſeinen Diözeſan- klerus ein Rundſchreiben gerichtet, indem er be- züglich der Wahlen anordnet: 1. Die Geiſtlichen mögen die Wahlen nicht in ihre kirchlichen Reden und Handlungen einbeziehen. 2. Auf dem Pfarr- gebäude dürfen keine Wahlfahnen angebracht werden. 3. Die Geiſtlichen dürfen weder auf den Hüten, noch an den Kleidungsſtücken Wahl- abzeichen tragen. 4. Die Geiſtlichen mögen die Wahlagitationslokale nicht aufſuchen und keine Tätigkeit im Dienſte der Wahlen entfalten. 5. Die Geiſtlichen ſollen die auf der Rundreiſe befindlichen Abgeordneten-Kandidaten nicht be- ſuchen. Doch ſchließe dies nicht aus, daß die Geiſt- lichen all jenen, die ſich an ſie vertrauensvoll wenden, mit Ratſchlägen und Aufklärungen zur Seite ſtehen. Maßgebend ſei, daß ſich die Gläu- bigen nur an ſolche Männer anſchließen, die die Gewähr dafür bieten, daß ſie die Intereſſen der Kirche wahren werden. Deutſches Reich. Große Verluſte in Deutſch-Weſtafrika haben die deutſchen Truppen in dem letzten fünfzigſtündigem Gefechte bei Groß-Nabas in Deutſch-Südweſtafrika erlitten. Fünf Offiziere und fünfzig Mann ſollen auf deutſcher Seite gefallen ſein. Der Feind war tauſend Mann ſtark: Hottentotten und Hereros. Frankreich. Syvetons Nachfolger. Geſtern iſt an Stelle Syvetons im zweiten Pariſer Arrondiſſement Admiral Bienaimé gewählt worden. Bienaimé iſt Nationaliſt und war ein Freund Syvetons. Als Hafenpräfekt von Toulon hatte er mit ſeinem Vor- geſetzten wiederholt Konflikte. Vor ſechs Monaten hatte er ſein Entlaſſungsgeſuch eingereicht, das Marineminiſter Pelletan ſofort annahm. Sein Gegenkandidat war Bellan, der Stadtſyndikus von Paris. Bei der Verkündigung des Wahl- reſultates auf der Mairie des zweiten Arrondiſſe- ments kam es zu einer argen Schlägerei. Admiral Bienaimé war bei ſeinem Erſcheinen Gegenſtand ver- ſchiedener Kundgebungen. Die Manifeſtanten zer- ſtreuten ſich, ohne daß die Polizei eingeſchritten wäre. Nach der Wahl Bienaimés veranſtalteten geſtern etwa 200 Nationaliſten Kundgebungen gegen die Regierung und gegen die Freimaurer. Während dieſer kam es wiederholt zwiſchen Nationaliſten und Sozialiſten zu Raufereien. Die Polizei nahm 15 Verhaftungen vor. Die offiziöſen Blätter er- klären, die Wahl Bienaimés ſei eine ſchwere Niederlage für die Regierung. Syveton habe durch ſeine Ohrfeige den Rücktritt Andrés herbeigeführt, Bienaimé werde den Marine- miniſter zur Demiſſion zwingen. Die radikalen Blätter brüſten ſich damit, daß die Zahl der nationaliſtiſchen Wähler abgenommen habe, fügen jedoch hinzu, dieſe Wahl ſei eine Mahnung für die Republikaner und für die Regierung, im Hinblicke auf die allgemeinen Wahlen für die Deputiertenkammer im Jahre 1906, ihre Anſtrengungen zu verdoppeln. Ein Biſchof vor Gericht. Mſgr. Ricard, Biſchof von Augoulême, ſtand am 2. Jänner vor Luther und erhielt dafür vom Papſte den Titel des „Verteidigers des Glaubes“, den engliſche Monarchen noch heute führen, ſagte ſich ſpäter vom Papſttum los und ſonnte ſich nun in dem Glanze eines „Oberhauptes der anglikaniſchen Staatskirche“. Er war ſehr eitel. Den venetianiſchen Geſandten fragte er einmal, indem er ſich befriedigt auf die Schenkel klopfte, ob der König von Frankreich gleich prächtige Hüften, Schenkel und Waden habe. Er war auch ſittenlos und grauſam, ließ mehrere ſeiner Frauen hinrichten und ging ſchließlich mit einer Proteſtantin, Anna von Cleve, eine Ver- nunftehe ein, um ſeine politiſchen Beziehungen zu dem deutſchen Kaiſer zu verbeſſern. Wenn ihm dieſes nicht gelang, ſo fällt das Verſchulden indeſſen weniger auf ihn als vielmehr auf Hans Holbein, der Anna, die ausnehmend häßlich war, in dem für den königlichen Brautwerber be- ſtimmten Gemälde ſehr geſchmeichelt hatte. Dieſe Heirat, aus der ſich die deutſchen Prote- ſtanten anfänglich viel für ihre Sache ver- ſprachen, blieb auf die Geſtaltung der religiöſen Beziehungen der beiden Völker ohne Einfluß. Königin Eliſabeth gab den politiſchen und kommerziellen Beziehungen zwiſchen England und Deutſchland eine Wendung, die zwar dem briti- ſchen Reiche zu einer nie geahnten Höhe verhalf, gleichzeitig jedoch dem Hanſabunde den Todes- ſtoß verſetzte und ein gefährliches politiſches In- trigenſpiel auf dem Feſtlande anbahnte. In die Regierungszeit der Stuarts bezw. die Jakobs I. fällt der 30jährige Krieg, an dem das engliſche Volk mittelbar, der engliſche Hof unmittelbar intereſſiert war, da es die Tochter des Königs geweſen, die dem Pfalzgrafen Friedrich ſich vermält hatte. Einige Geſchichtsſchreiber be- haupten, daß ſie es geweſen, die den „Winter- könig“ zur Annahme der böhmiſchen Krone zu überreden wußte und dadurch die unheilvollen Religionswirren heraufbeſchwor. Auf der andern Hand war es Sohn Jakobs, der die Schweſter Ludwigs XIII. von Frankreich ehelichte und damit eine ausgeſprochen deutſchfeindliche Politik ſeiner Nach- kommen einleitete. Karl I. ſtand im Solde Frankreichs. Cromwells republikaniſche Regierung war zu viel mit der Herſtellung geordneter Verhältniſſe in England und Schottland und mit der Nieder- werfung des iriſchen Aufſtandes beſchäftigt, um ſich um die Geſtaltung der Dinge auf dem Feſt- lande bekümmern zu können, Karl II. lebte ſeinen Maitreſſen und da auch er, wie ſein Vater, franzöſiſches Schweiggeld empfing, rührte er nicht einen Finger als Ludwig XIV. in Lothringen einfiel, dieſes als billige Beute nahm und ſodann ſeine Aufmerkſamkeit auf die Unterjochung der Niederlande richtete. Unter Jakob II. ſchien Eng- land auf dem beſten Wege, ein franzöſiſcher Vaſallenſtaat zu werden, als Wilhelm von Oranien, ein edler Krieger deutſcher Herkunft, zur rechten Zeit auftauchte, um England zu retten und ſeine alten freundſchaftlichen Beziehungen zu dem ſtammverwandten Deutſchland wieder herzu- ſtellen. Wilhelm III. gab dem engliſchen Staatsſchiff eine andere Wendung, daß dieſe jedoch nicht wirk- ſam genug war, um den räuberiſchen Einfällen Ludwigs in Deutſchland Schranken zu ſetzen, war weniger das Verſchulden des Oraniers als viel- mehr des engliſchen Parlaments, deſſen fortgeſetzter Widerſtand den König ſehr erbitterte. Erſt Königin Anna gewann freiere Hand, und ihr erſtes Werk war es, dem Bunde gegen Frankreich beizutreten. Es ſpricht nicht viel für ſie, daß ſie ſpäter ge- heime Verhandlungen mit Ludwig einleitete, einen Waffenſtillſtand ſchloß — und ihre Verbündeten ſchmählich im Stiche ließ. Der Whig-Partei und den engliſchen Prote- ſtanten iſt es zu danken, daß bereits zwei Wochen nach dem Tode der Königin Georg von Hannover zum engliſchen König ausgerufen wurde, und die Liberalen ſind es auch noch heute, die auf die Beſſerung der in den letzten Jahren ziemlich ge- ſpannten engliſch-deutſchen Beziehungen hinzuwirken ſich bemühen. Noch ein paar Worte ſeien mir verſtattet, die weil ſie die Einwanderungsfrage berühren, von aktuellem Intereſſe ſein dürften. Kein Gerin- gerer als Lord Roſebery hat wiederholt Stellung gegen die unſinnige Strömung im engliſchen Volk gegen das Ausländertum genommen, nichtsdeſto- weniger hört die Agitation in der chauviniſtiſchen engliſchen Preſſe nicht auf. Mit Recht führte der Lord einmal im Oberhauſe aus, daß England den Einwanderern vieles, wenn nicht alles, ver- danke, daß es deutſche Hanſeaten waren, die den Grundſtein zu Englands Stellung als Handels- und Seevolk legten, daß die Engländer des Mittelalters ein Bauernvolk waren und daß der einzige Ausfuhrartikel Rohwolle war. England brauchte Kapitaliſten, Bankiers und fremde Geld- wechſler, die es in Kaufleuten aus der Lombardei, nach denen die Londoner Lombard Street noch heute ihren Namen führt, fand. Mit wenig Worten: Ausländer waren es, die teils auf die Einladung kluger engliſcher Monarchen, teils auf ihre eigene Initiative hin, nach England kamen und nicht nur den engliſchen Handel ſchufen, ſondern ihn auch finanzierten, die Bodenſchätze des Landes hoben und aus dem Ackerbauſtaate ein Handelsreich ſchufen, das weiter zu entwickeln der Königin Eliſabeth und ihren Nachfolgern verhältnismäßig leicht war.

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Benjamin Fiechter, Susanne Haaf: Bereitstellung der digitalen Textausgabe (Konvertierung in das DTA-Basisformat). (2018-01-26T13:38:42Z)
grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 7, Wien, 10.01.1905, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost007_1905/2>, abgerufen am 21.11.2024.