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Reichspost. Nr. 273, Wien, 11.11.1907.

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Wien, Montag Reichspost. 11. November 1907 273

[Spaltenumbruch]

nahme, eine solche Verpflichtung gegenüber dem Volks- und
dem Staatsinteresse, und gegen diese höheren ethischen
Rücksichten mußten die Erwägungen der Parteitaktik zurück-
treten, mochten sie an sich noch so begründet erscheinen.

Sehr interessant sind die Ausführungen des deutsch-
radikalen "Wiener D. Tagbl.":

Es ist eine bewußte Fälschung der liberalen Presse,
wenn sie behauptet, daß die Deutschnationalen sich unter
das klerikale Diktat gebeugt, daß sie den Christlichsozialen
in den Sattel geholfen haben. In den Sattel ge-
hoben wurden die Christlichsozialen
von den deutschen Wählern,
die mehr als
90 Abgeordnete der konservativen Richtung in den Reichs-
rat entsendeten. Der Eintritt der Christlichsozialen
ist das Kabinett Beck war nur eine Frage der Zeit.
Auch der schärfste Widerstand der freiheitlichen deutschen
Parteien hätte diesen Eintritt nicht hindern
können. Wohl aber wäre ein solcher Widerstand für die
Deutschnationalen und für das ganze dentsche Volk höchst
schädlich gewesen. Der dentsche Einfluß wäre geschwächt, die
Bildung eines neuen eisernen Ringes in die Wege geleitet
worden. In einer solchen Politik des Wahnwitzes mögen
sich die Herren Baron Hock und Kuranda gefallen,
eine deutsche Partei, die sich ihrer Verantwortung bewußt
ist, kann sie nicht mitmachen. Der Modus vivendi zwischen
freiheitlichen und konservativen Deutschen, der durch die
Schaffung des Zwölferausschusses angebahnt, durch die
Rekonstruktion des Ministeriums fortgesetzt wurde, bedeutet
einen nationalen Fortschritt für die Deutschen.

Das "Deutsche Volksblatt" meint:

Wer Recht behalten wird, die Freunde oder die Gegner
des Ausgleichs und der dualistischen Verfassung, wird die
Zukunft zeigen; wenn uns aber etwas mit der Entwicklung
der Dinge versöhnen kann, so ist es die bei dieser Gelegen-
heit erzielte nationale Einigung der deutschen Parteien, die
zu erhalten jeder Deutsche die Pflicht hat, weil in ihr die
Zukunft unseres Volkes eingeschlossen ist.

Die "Zeit" preist die erfolgte Demokratisierung des
Kabinetts und polemisiert gegen die Zweifler:

Der demokratische Zug in der österreichischen Politik
ist noch eine zu neue Sache, so daß man im Volke selbst
noch kein rechtes Vertrauen dazu hat und sich lieber an die
guten alten österreichischen Gewohnheiten der österreichischen
Zweifelsucht und Spottlust hält. Aber bei der ängstlichen
oder heiteren Erwartung all der Blamagen, die den neuen
Männern bevorstehen sollen, vergißt man eines: daß
schließlich das neue System und die neuen Männer doch
nur darum notwendig geworden sind, weil eben das alte
System und die alten Männer sich so schlecht bewährt
haben.

Das konservative "Vaterland" sagt, das
Kabinett Baron Beck habe sich drei große
Aufgaben gesetzt (Wahlreform, Ausgleich und
die Lösung des nationalen Problems, von denen die zwei
ersteren Aufgaben bereits gelöst, bezw. der Erfüllung ent-
gegengehen.

Man weiß auch, mit wessen Hilfe er dieses Ziel erreicht
-- mit den Christlisozialen, deren zeitgemäßes
und energisches Eingreifen dem langandauernden Intriguen-
spiel ein rasches Ende bereitet und den Ausgleich gerettet
hat. Daß es Baron Beck gelang, den genialen Führer der
Christlichsozialen, Dr. Lueget, zum Eingreifen zu be-
wegen, zeigt, wie gut er die Bedeutung dieses Parteiführers
und Staatsmannes gekannt und geschätzt hat. Es ist nicht
ganz gleichgültig für die Entwicklung unserer innervolitischen
Verhältnisse, daß die christlichsoziale Partei
sowohl bei der Wahlreform als auch jetzt beim Aus-
gleich die Entscheidung herbeigeführt;

damals war Dr. Geßmann und jetzt ist Dr. Lueger
der "Nothelfer" der Regierung. Und wir werden uns kaum
täuschen, wenn wir hoffen und annehmen, daß die christlich-
soziale Partei auch bei der Lösung der
dritten Auf gabe eine ausschlag gebende
Rollespielen wird
und das umsomehr, als ohne
ihre Mitwirkung das nationale Problem in Oesterreich
nicht gelöst werden kann. Denn nur eine katholische
Grundlage kann das Fundament des nationalen Ausgleiches
bilden.

Die "Arbeiter-Zeitung" möchte gern aus
der Gestaltung der Dinge agitatorischen Nutzen ziehen,
es will ihr aber nicht recht gelingen. Sie tobt:

"Herr Dr. Geßmann hat auf das berühmte "Mein
lieber Dr. Geßmann!" so zielbewußt hingearbeitet, daß es
geradezu ein ästhetisches Vergnügen bereitet, diese voll-
kommene Streberkunst zu verfolgen. Um auf den Minister-
stuhl zu gelangen, mußte die Partei ihren loyalen Cha-
rakter abstreifen, sich über die Luegersche Bezirksgerberei
erheben und Einfluß im Reiche zu gewinnen suchen. Das
war nur möglich, wenn die Schranken der Kurie fallen:
also wurde Geßmann ein Träger der Wahlreform, die der
wienerischen Politik die Ausbreitungsfähigkeit im Staate
erst möglich machte."

Wie originell! Die christlichsoziale Partei wäre also
eigens nur deshalb groß geworden, weil Dr. Geßmann
Minister werden wollte. Man weiß jetzt wenigstens, wer
die Wahlreform gemacht hat: Dr. Geßmann! Das sozial-
demokratische Organ erklärt es selbst. Auch in der Folge
bleibt das Organ der allwissenden Genossen höchst originell.
Es behauptet, die Christlichsozialen hätten zwanzig Jahre
lang los von Ungarn! "gebrüllt". Wahr ist bekanntlich,
daß die Christlichsozialen immer dieses Ziel der
kossuthistischen und alldeutschen Politik bekämpft haben, wie
aus hunderten von Reden Dr. Luegers über diese Frage
leicht nachzuweisen ist. Auch das Eggenburger Partei-
programm verwirft die Formel "los von Ungarn" aus-
drücklich. Gar so unwissend sollte das Hauptorgan einer
87 Mannpartei nicht sein. Freilich haben die Sozial-
[Spaltenumbruch] demokraten viel zu verbergen. Eine Partei, die sich hin-
sichtlich Ungarns vom kossuthistischen Ellenbogen-Programm
zum Dr. Renner-Programm bekehrt hat und den Aus-
gleich Beck-Wekerle nur deshalb ablehnt, weil die sozial-
demokratische Partei beim Abschlusse nicht als dritter mit-
beschließender Faktor beigezogen wurde, sollte gerade in
dieser Frage hübsch den Mund halten.



Die Beeidigung der neuen
Minister.
Empfang in Schönbrunn.

Heute um 10 Uhr wurden die neuernannten
Minister vom Kaiser
in Schönbrunn
empfangen und in Eid genommen.

Bei diesem feierlichen Akte intervenierten der
Oberstkämmerer Leopold Graf Gudenus und der
Ministerpräsident Freiherr v. Beck. Die Eidesformel
murde vom Ministerialrate Freiherrn v. Willani
verlesen.




Die Vorgänge im Polenlager.

Aus Lemberg wird uns telegraphiert: Die
hiesigen Blätter beschäftigten sich gestern mit den
Vorgängen im Polenklub und berichten aus Wien:
Gestern sind nahezu sämtliche polnische Reichsrats-
abgeordneten in Wien eingetroffen, auch der Statthalter
Graf Potocki, der den ganzen Tag über mit
den leitenden Persönlichkeiten der verschiedenen polnischen
Gruppen konferierte. Abends fand eine Beratung der
demokratischen Union des Polenklubs statt, um zu der
heutigen Obmannwahl Stellung zu nehmen.
Während ursprünglich die Aussichten des Allpolen
Abg. Professor Glombinski bessere als die
seines Gegenkandidaten Dr. von Dulemba waren,
ist die Situation für Glombinski durch einen
Brief, den der Führer der polnischen Volkspartei,
Abg. Stapinski, an den Polenklub richtete,
ungünstiger geworden. In diesem Briefe wird ausdrücklich
darauf hingewiesen, daß die Polnische Volks-
partei ihre Absicht, in den Polen-
klub einzutreten, auf geben müßte,
wenn an der Spitze des Klubs
Dr. Glombinskistünde.
(Wir haben schon
in der Sonntagsnummer diese Sachlage dargelegt.
D. R.). Zur Vorgeschichte der Krise im
Polenlub melden die polnischen Blätter noch folgende
Details: Die "Demokratische Union" hatte für Frei-
tag abends eine Versammlung einberufen und der-
selben eine Deklaration zur Unterschrift vorgelegt,
welche vor allem als eine Polemik gegen die konser-
vativen und radikalen polnischen Blätter aufzufassen
war und die eigentlichen "Ziele der Union" dargelegt.
Da viele Mitglieder der "Union" von Wien abwesend
waren, wurden deren Unterschriften telegraphisch m[it]
dem Bemerken eingeholt, daß es sich um eine "Mit-
teilung" für die Blätter handle. Zu ihrer größten
Ueberraschung aber erfuhren diese polnischen
Abgeordneten nach ihrer Rückkehr nach Wien, daß die
Mitteilung noch einem anderen, vielwich
tigeren Zwecke zu dienen
hatte. Nach der
Sitzung der "Demokratischen Union" hatten sich die
Abgeordneten Glombinski und Petelenz zu
dem Obmanne Ritter v. Abrahamowicz be-
geben und ihm die Erklärung der "Union" überreicht,
wobei sie ihm zu verstehen gaben, daß es nun an ihm
sei, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ritter
v. Abrahamowicz zögerte keinen Augenblick,
dies zu tun. Durch die Art des Vorgehens der "Union"
ist auch unter einzelnen demokratischen Mitgliedern des
Polenktubs eine Mißstimmung ausgebrochen.




Das jungtschechische Organ gegen die
jungtschechische Politik.

"Narodni Listy"
greifen in ihrem gestrigen Artikel die tschechische Dele-
gation, da sie ohne positive Abmachungen in die Regie-
rungsmajorität eingetreten sei, scharf an:

"Unsere parlamentarischen Delegierten dienen der Regie-
rungsmajorität, ohne die geringste Aenderung des deutschen
zentralistischen Systems erlangt zu haben. Das ist nach
unserer Ueberzeugung ein schwerer Fehler, den sich
zum Schaden des tschechischen Volkes die tschechischen
Agrarier, die Katholischnationalen und die Jungtschechen
zuschulden kommen ließen. Ein solcher folgen-
schwerer Fehler wurde seinerzeit auch von den
Alttschechen im Jahre 1879 begangen, als diese ohne
Garantien in die Regierungsmajorität des Grafen Taaffe
eintraten. Wir halten es für unsere nationale Pflicht,
rechtzeitig unsere Nation auf die auf Abwege führende
Richtung der Politik der tschechischen Delegierten aufmerksam
zu machen, mit welcher wir auf keinen Fall
übereinstimmen und die wir nicht
unterstützen werden.
Wir sind und bleiben ein
unabhängiges Blatt, das nur der tschechischen Sache dient
und darum können wir auch nicht unsere persönlichen
Freunde auf dem Wege begleiten, den wir als un-
richtig, irrig und gefährlich erachten.


[Spaltenumbruch]

Auch die Tschechischradikalen benützen
die günstige Gelegenheit, um das Süpplein ihrer Par-
tei zu kochen. Wie uns aus Prag, 11. d., telegra-
phiert wird, legten gestern in einer Versammlung in
den Weinbergen die Abgeordneten Dr. Hejn, Choc
und insbesondere Klofac in der heftigsten Weise
gegen das Zurückstellen der Postulatenpolitik durch die
ministerialisierten tschechischen Gruppen los und nannten
diese Gruppen "Verräter am tschechischen Volke." --
Das stand zu erwarten. Die tschechische Nation wird
zu beweisen haben, ob sie politisch reif ist oder noch
immer radikalen Schreiern und Spekulanten nachläuft.




Politische Rundschau.
Oesterreich-Ungarn.


Der ungarische Ministerpräsident bei[m]
Kaiser.

Sonntag empfing der Kaiser um 11 Uhr
vormittags in Schönbrunn den ungarischen Minister-
präsidenten Dr. Wekerle in einstündiger besonderer
Audienz. Dr. Wekerle, der zum letztenmale Mitte
September in Audienz empfangen worden war, er-
stattete bei dieser Gelegenheit über den ganzem Kom-
plex der politischen Lage in Ungarn Bericht und unter-
breitete diesbezügliche Vorschläge. Um 5 Uhr nach-
mittags kehrte der Ministerpräsident nach Ofen-Pest
zurück. Nach Meldungen Agramer Blätter überreichte
der ungarische Ministerpräsident Dr. Wekerle
u. a. dem Monarchen die mit dem Banus
v. Rakodzay vereinbarte Liste der neuzu-
ernennenden Sektionschefs und Obergespäne zur Ge-
nehmigung. Es sollen ernannt werden: zum Sektions-
chef des Innern Universitätsprofessor Dr. Franz
Spevec, zum Sektionschef für Justiz Dr. Gideon
Avakamovic, zum Sektionschef für Kultus und Unter-
richt Dr. Krisvovic; zu Obergespänen sollen ernannt
werden für das Komitat Agram Dr. Sljepcevic, für
Ogulin der ehemalige Abg. Dedovic, für Posega der
derzeitige Obergespan von Ogulin v. Kraljevic, für
Gospic der Gerichtsrat Cekir, für Wlka-Krbva Bela
v. Adamovich und für Warasdin der Vizegespan
v. Belesevich. Die zu ernennenden Persönlichkeiten ge-
hören zu den nationalen und unionistischen Parteien.

Die Deutschradikalen gegen den Ausgleich.

Gestern Sonntag, vormittags 11 Uhr, fand im
Deutschen Haus in Wien ein deutschradikaler Partei-
[t]ag statt, dem außer Parteigenossen aus den Kron-
ländern die Reichsratsabgeordneten Wolf, Kroy, Lößl,
Pacher, Dr. Sommer und von Stransky, Landes-
ausschuß Dr. Freißler beiwohuten. Nach siebenstündiger
eingehender Erörterung, in welcher der Ausgleich
nach jeder Richtung beleuchtet wurde, fand folgende
Entschließung einhellige Annahme: "Die deutsch-
radikale Partei hält an ihrem Programmpunkte der
Lostrennung von Ungarn unver-
rückbar fest und verwirft den Aus-
gleich
nicht nur in der vorliegenden, sondern in
jeder Form." Viele zum Parteitag eingelangte Kund-
gebungen sprachen sich ebenfalls gegen den Ausgleich
aus.

Eine Rede des Prinzen Liechtenstein über
Dr. Lueger.

In der gestern in den Engelsälen statt-
gehabten Festversammlung des Freundschaftsverbandes
"Lueger", die zugleich eine Luegerfeier war, hielt
Abg. Prinz Liechtenstein die Festrede. Prinz Liechten-
stein schilderte, wie er Dr. Lueger vor nun mehr als
30 Jahren kennen gelernt, als in Wien noch scheinbar
unbezwingbar der Geschäftsliberalismus herrschte und
dann sagte der Festredner:

"Im alten Rom, wo die Sklaven die ungeheure Mehr-
zahl bildeten, hatten die Herren, ein kleines Häuflein,
ihnen verboten, eine eigene Tracht, ein Abzeichen ihres
Standes zu tragen, wie es im Gesetze hieß: "Ne se
numerent
-- damit sie sich nicht zählen",

und an ihrer Menge ihre Kraft erkennen. So war
es im damaligen judenbeherrschten Wien verpönt, sich
als Christ und Arier zu fühlen und zu bekennen.
Erst Lueger und seine Antisemiten haben den
Bann gebrochen, der uns niederhielt, erst seine mutige
offene Agitation von einem Versammlungslokale ins andere
hat dem Wiener Volke die un[ü]berwindliche Kraft vor
Augen gestellt, welche in den Massen liegt, wenn sie eines
Sinnes und Willens sind. (Großer Beifall.) Vom ersten
Augenblicke an wurde Lueger instinktiv als der
geborene Führer durch das Wiener
Volk
erkannt und ohne auch nur einen Augenblick zu
schwanken, hat es ihm die Treue bisher bewahrt. Die
Macht der Rede, die Kraft der Ueberzeugung, die Reinheit
des Charakters vereinigen sich in ihm mit einer Staats-
klugheit und einer Voraussicht, welche von weitem jede uns
drohende Gefahr auftauchen sieht und ihr
bei Zeiten stets vorbeugt. (Stürmischer Beifall.)
Mit den Erfolgen wachsen seine Ziele. Jeder
Sieg wurde die Staffel zu neuen Errungenschaften. Nach-
dem Wien befreit war, ging es an die Eroberung des
Stammlandes der Monarchie; nach dem Gemeinderate ge-
wann er uns den Landtag. Seine Popularität und der Ruf
von Rührigkeit und Energie, den die Partei ihrem Führer

Wien, Montag Reichspoſt. 11. November 1907 273

[Spaltenumbruch]

nahme, eine ſolche Verpflichtung gegenüber dem Volks- und
dem Staatsintereſſe, und gegen dieſe höheren ethiſchen
Rückſichten mußten die Erwägungen der Parteitaktik zurück-
treten, mochten ſie an ſich noch ſo begründet erſcheinen.

Sehr intereſſant ſind die Ausführungen des deutſch-
radikalen „Wiener D. Tagbl.“:

Es iſt eine bewußte Fälſchung der liberalen Preſſe,
wenn ſie behauptet, daß die Deutſchnationalen ſich unter
das klerikale Diktat gebeugt, daß ſie den Chriſtlichſozialen
in den Sattel geholfen haben. In den Sattel ge-
hoben wurden die Chriſtlichſozialen
von den deutſchen Wählern,
die mehr als
90 Abgeordnete der konſervativen Richtung in den Reichs-
rat entſendeten. Der Eintritt der Chriſtlichſozialen
iſt das Kabinett Beck war nur eine Frage der Zeit.
Auch der ſchärfſte Widerſtand der freiheitlichen deutſchen
Parteien hätte dieſen Eintritt nicht hindern
können. Wohl aber wäre ein ſolcher Widerſtand für die
Deutſchnationalen und für das ganze dentſche Volk höchſt
ſchädlich geweſen. Der dentſche Einfluß wäre geſchwächt, die
Bildung eines neuen eiſernen Ringes in die Wege geleitet
worden. In einer ſolchen Politik des Wahnwitzes mögen
ſich die Herren Baron Hock und Kuranda gefallen,
eine deutſche Partei, die ſich ihrer Verantwortung bewußt
iſt, kann ſie nicht mitmachen. Der Modus vivendi zwiſchen
freiheitlichen und konſervativen Deutſchen, der durch die
Schaffung des Zwölferausſchuſſes angebahnt, durch die
Rekonſtruktion des Miniſteriums fortgeſetzt wurde, bedeutet
einen nationalen Fortſchritt für die Deutſchen.

Das „Deutſche Volksblatt“ meint:

Wer Recht behalten wird, die Freunde oder die Gegner
des Ausgleichs und der dualiſtiſchen Verfaſſung, wird die
Zukunft zeigen; wenn uns aber etwas mit der Entwicklung
der Dinge verſöhnen kann, ſo iſt es die bei dieſer Gelegen-
heit erzielte nationale Einigung der deutſchen Parteien, die
zu erhalten jeder Deutſche die Pflicht hat, weil in ihr die
Zukunft unſeres Volkes eingeſchloſſen iſt.

Die „Zeit“ preiſt die erfolgte Demokratiſierung des
Kabinetts und polemiſiert gegen die Zweifler:

Der demokratiſche Zug in der öſterreichiſchen Politik
iſt noch eine zu neue Sache, ſo daß man im Volke ſelbſt
noch kein rechtes Vertrauen dazu hat und ſich lieber an die
guten alten öſterreichiſchen Gewohnheiten der öſterreichiſchen
Zweifelſucht und Spottluſt hält. Aber bei der ängſtlichen
oder heiteren Erwartung all der Blamagen, die den neuen
Männern bevorſtehen ſollen, vergißt man eines: daß
ſchließlich das neue Syſtem und die neuen Männer doch
nur darum notwendig geworden ſind, weil eben das alte
Syſtem und die alten Männer ſich ſo ſchlecht bewährt
haben.

Das konſervative „Vaterland“ ſagt, das
Kabinett Baron Beck habe ſich drei große
Aufgaben geſetzt (Wahlreform, Ausgleich und
die Löſung des nationalen Problems, von denen die zwei
erſteren Aufgaben bereits gelöſt, bezw. der Erfüllung ent-
gegengehen.

Man weiß auch, mit weſſen Hilfe er dieſes Ziel erreicht
— mit den Chriſtliſozialen, deren zeitgemäßes
und energiſches Eingreifen dem langandauernden Intriguen-
ſpiel ein raſches Ende bereitet und den Ausgleich gerettet
hat. Daß es Baron Beck gelang, den genialen Führer der
Chriſtlichſozialen, Dr. Lueget, zum Eingreifen zu be-
wegen, zeigt, wie gut er die Bedeutung dieſes Parteiführers
und Staatsmannes gekannt und geſchätzt hat. Es iſt nicht
ganz gleichgültig für die Entwicklung unſerer innervolitiſchen
Verhältniſſe, daß die chriſtlichſoziale Partei
ſowohl bei der Wahlreform als auch jetzt beim Aus-
gleich die Entſcheidung herbeigeführt;

damals war Dr. Geßmann und jetzt iſt Dr. Lueger
der „Nothelfer“ der Regierung. Und wir werden uns kaum
täuſchen, wenn wir hoffen und annehmen, daß die chriſtlich-
ſoziale Partei auch bei der Löſung der
dritten Auf gabe eine ausſchlag gebende
Rolleſpielen wird
und das umſomehr, als ohne
ihre Mitwirkung das nationale Problem in Oeſterreich
nicht gelöſt werden kann. Denn nur eine katholiſche
Grundlage kann das Fundament des nationalen Ausgleiches
bilden.

Die „Arbeiter-Zeitung“ möchte gern aus
der Geſtaltung der Dinge agitatoriſchen Nutzen ziehen,
es will ihr aber nicht recht gelingen. Sie tobt:

„Herr Dr. Geßmann hat auf das berühmte „Mein
lieber Dr. Geßmann!“ ſo zielbewußt hingearbeitet, daß es
geradezu ein äſthetiſches Vergnügen bereitet, dieſe voll-
kommene Streberkunſt zu verfolgen. Um auf den Miniſter-
ſtuhl zu gelangen, mußte die Partei ihren loyalen Cha-
rakter abſtreifen, ſich über die Luegerſche Bezirksgerberei
erheben und Einfluß im Reiche zu gewinnen ſuchen. Das
war nur möglich, wenn die Schranken der Kurie fallen:
alſo wurde Geßmann ein Träger der Wahlreform, die der
wieneriſchen Politik die Ausbreitungsfähigkeit im Staate
erſt möglich machte.“

Wie originell! Die chriſtlichſoziale Partei wäre alſo
eigens nur deshalb groß geworden, weil Dr. Geßmann
Miniſter werden wollte. Man weiß jetzt wenigſtens, wer
die Wahlreform gemacht hat: Dr. Geßmann! Das ſozial-
demokratiſche Organ erklärt es ſelbſt. Auch in der Folge
bleibt das Organ der allwiſſenden Genoſſen höchſt originell.
Es behauptet, die Chriſtlichſozialen hätten zwanzig Jahre
lang los von Ungarn! „gebrüllt“. Wahr iſt bekanntlich,
daß die Chriſtlichſozialen immer dieſes Ziel der
koſſuthiſtiſchen und alldeutſchen Politik bekämpft haben, wie
aus hunderten von Reden Dr. Luegers über dieſe Frage
leicht nachzuweiſen iſt. Auch das Eggenburger Partei-
programm verwirft die Formel „los von Ungarn“ aus-
drücklich. Gar ſo unwiſſend ſollte das Hauptorgan einer
87 Mannpartei nicht ſein. Freilich haben die Sozial-
[Spaltenumbruch] demokraten viel zu verbergen. Eine Partei, die ſich hin-
ſichtlich Ungarns vom koſſuthiſtiſchen Ellenbogen-Programm
zum Dr. Renner-Programm bekehrt hat und den Aus-
gleich Beck-Wekerle nur deshalb ablehnt, weil die ſozial-
demokratiſche Partei beim Abſchluſſe nicht als dritter mit-
beſchließender Faktor beigezogen wurde, ſollte gerade in
dieſer Frage hübſch den Mund halten.



Die Beeidigung der neuen
Miniſter.
Empfang in Schönbrunn.

Heute um 10 Uhr wurden die neuernannten
Miniſter vom Kaiſer
in Schönbrunn
empfangen und in Eid genommen.

Bei dieſem feierlichen Akte intervenierten der
Oberſtkämmerer Leopold Graf Gudenus und der
Miniſterpräſident Freiherr v. Beck. Die Eidesformel
murde vom Miniſterialrate Freiherrn v. Willani
verleſen.




Die Vorgänge im Polenlager.

Aus Lemberg wird uns telegraphiert: Die
hieſigen Blätter beſchäftigten ſich geſtern mit den
Vorgängen im Polenklub und berichten aus Wien:
Geſtern ſind nahezu ſämtliche polniſche Reichsrats-
abgeordneten in Wien eingetroffen, auch der Statthalter
Graf Potocki, der den ganzen Tag über mit
den leitenden Perſönlichkeiten der verſchiedenen polniſchen
Gruppen konferierte. Abends fand eine Beratung der
demokratiſchen Union des Polenklubs ſtatt, um zu der
heutigen Obmannwahl Stellung zu nehmen.
Während urſprünglich die Ausſichten des Allpolen
Abg. Profeſſor Glombinski beſſere als die
ſeines Gegenkandidaten Dr. von Dulemba waren,
iſt die Situation für Glombinski durch einen
Brief, den der Führer der polniſchen Volkspartei,
Abg. Stapinski, an den Polenklub richtete,
ungünſtiger geworden. In dieſem Briefe wird ausdrücklich
darauf hingewieſen, daß die Polniſche Volks-
partei ihre Abſicht, in den Polen-
klub einzutreten, auf geben müßte,
wenn an der Spitze des Klubs
Dr. Glombinskiſtünde.
(Wir haben ſchon
in der Sonntagsnummer dieſe Sachlage dargelegt.
D. R.). Zur Vorgeſchichte der Kriſe im
Polenlub melden die polniſchen Blätter noch folgende
Details: Die „Demokratiſche Union“ hatte für Frei-
tag abends eine Verſammlung einberufen und der-
ſelben eine Deklaration zur Unterſchrift vorgelegt,
welche vor allem als eine Polemik gegen die konſer-
vativen und radikalen polniſchen Blätter aufzufaſſen
war und die eigentlichen „Ziele der Union“ dargelegt.
Da viele Mitglieder der „Union“ von Wien abweſend
waren, wurden deren Unterſchriften telegraphiſch m[it]
dem Bemerken eingeholt, daß es ſich um eine „Mit-
teilung“ für die Blätter handle. Zu ihrer größten
Ueberraſchung aber erfuhren dieſe polniſchen
Abgeordneten nach ihrer Rückkehr nach Wien, daß die
Mitteilung noch einem anderen, vielwich
tigeren Zwecke zu dienen
hatte. Nach der
Sitzung der „Demokratiſchen Union“ hatten ſich die
Abgeordneten Glombinski und Petelenz zu
dem Obmanne Ritter v. Abrahamowicz be-
geben und ihm die Erklärung der „Union“ überreicht,
wobei ſie ihm zu verſtehen gaben, daß es nun an ihm
ſei, die Konſequenzen daraus zu ziehen. Ritter
v. Abrahamowicz zögerte keinen Augenblick,
dies zu tun. Durch die Art des Vorgehens der „Union“
iſt auch unter einzelnen demokratiſchen Mitgliedern des
Polenktubs eine Mißſtimmung ausgebrochen.




Das jungtſchechiſche Organ gegen die
jungtſchechiſche Politik.

„Narodni Liſty“
greifen in ihrem geſtrigen Artikel die tſchechiſche Dele-
gation, da ſie ohne poſitive Abmachungen in die Regie-
rungsmajorität eingetreten ſei, ſcharf an:

„Unſere parlamentariſchen Delegierten dienen der Regie-
rungsmajorität, ohne die geringſte Aenderung des deutſchen
zentraliſtiſchen Syſtems erlangt zu haben. Das iſt nach
unſerer Ueberzeugung ein ſchwerer Fehler, den ſich
zum Schaden des tſchechiſchen Volkes die tſchechiſchen
Agrarier, die Katholiſchnationalen und die Jungtſchechen
zuſchulden kommen ließen. Ein ſolcher folgen-
ſchwerer Fehler wurde ſeinerzeit auch von den
Alttſchechen im Jahre 1879 begangen, als dieſe ohne
Garantien in die Regierungsmajorität des Grafen Taaffe
eintraten. Wir halten es für unſere nationale Pflicht,
rechtzeitig unſere Nation auf die auf Abwege führende
Richtung der Politik der tſchechiſchen Delegierten aufmerkſam
zu machen, mit welcher wir auf keinen Fall
übereinſtimmen und die wir nicht
unterſtützen werden.
Wir ſind und bleiben ein
unabhängiges Blatt, das nur der tſchechiſchen Sache dient
und darum können wir auch nicht unſere perſönlichen
Freunde auf dem Wege begleiten, den wir als un-
richtig, irrig und gefährlich erachten.


[Spaltenumbruch]

Auch die Tſchechiſchradikalen benützen
die günſtige Gelegenheit, um das Süpplein ihrer Par-
tei zu kochen. Wie uns aus Prag, 11. d., telegra-
phiert wird, legten geſtern in einer Verſammlung in
den Weinbergen die Abgeordneten Dr. Hejn, Choc
und insbeſondere Klofac in der heftigſten Weiſe
gegen das Zurückſtellen der Poſtulatenpolitik durch die
miniſterialiſierten tſchechiſchen Gruppen los und nannten
dieſe Gruppen „Verräter am tſchechiſchen Volke.“ —
Das ſtand zu erwarten. Die tſchechiſche Nation wird
zu beweiſen haben, ob ſie politiſch reif iſt oder noch
immer radikalen Schreiern und Spekulanten nachläuft.




Politiſche Rundſchau.
Oeſterreich-Ungarn.


Der ungariſche Miniſterpräſident bei[m]
Kaiſer.

Sonntag empfing der Kaiſer um 11 Uhr
vormittags in Schönbrunn den ungariſchen Miniſter-
präſidenten Dr. Wekerle in einſtündiger beſonderer
Audienz. Dr. Wekerle, der zum letztenmale Mitte
September in Audienz empfangen worden war, er-
ſtattete bei dieſer Gelegenheit über den ganzem Kom-
plex der politiſchen Lage in Ungarn Bericht und unter-
breitete diesbezügliche Vorſchläge. Um 5 Uhr nach-
mittags kehrte der Miniſterpräſident nach Ofen-Peſt
zurück. Nach Meldungen Agramer Blätter überreichte
der ungariſche Miniſterpräſident Dr. Wekerle
u. a. dem Monarchen die mit dem Banus
v. Rakodzay vereinbarte Liſte der neuzu-
ernennenden Sektionschefs und Obergeſpäne zur Ge-
nehmigung. Es ſollen ernannt werden: zum Sektions-
chef des Innern Univerſitätsprofeſſor Dr. Franz
Spevec, zum Sektionschef für Juſtiz Dr. Gideon
Avakamovic, zum Sektionschef für Kultus und Unter-
richt Dr. Krisvovic; zu Obergeſpänen ſollen ernannt
werden für das Komitat Agram Dr. Sljepcevic, für
Ogulin der ehemalige Abg. Dedovic, für Poſega der
derzeitige Obergeſpan von Ogulin v. Kraljevic, für
Goſpic der Gerichtsrat Cekir, für Wlka-Krbva Bela
v. Adamovich und für Warasdin der Vizegeſpan
v. Beleſevich. Die zu ernennenden Perſönlichkeiten ge-
hören zu den nationalen und unioniſtiſchen Parteien.

Die Deutſchradikalen gegen den Ausgleich.

Geſtern Sonntag, vormittags 11 Uhr, fand im
Deutſchen Haus in Wien ein deutſchradikaler Partei-
[t]ag ſtatt, dem außer Parteigenoſſen aus den Kron-
ländern die Reichsratsabgeordneten Wolf, Kroy, Lößl,
Pacher, Dr. Sommer und von Stransky, Landes-
ausſchuß Dr. Freißler beiwohuten. Nach ſiebenſtündiger
eingehender Erörterung, in welcher der Ausgleich
nach jeder Richtung beleuchtet wurde, fand folgende
Entſchließung einhellige Annahme: „Die deutſch-
radikale Partei hält an ihrem Programmpunkte der
Lostrennung von Ungarn unver-
rückbar feſt und verwirft den Aus-
gleich
nicht nur in der vorliegenden, ſondern in
jeder Form.“ Viele zum Parteitag eingelangte Kund-
gebungen ſprachen ſich ebenfalls gegen den Ausgleich
aus.

Eine Rede des Prinzen Liechtenſtein über
Dr. Lueger.

In der geſtern in den Engelſälen ſtatt-
gehabten Feſtverſammlung des Freundſchaftsverbandes
„Lueger“, die zugleich eine Luegerfeier war, hielt
Abg. Prinz Liechtenſtein die Feſtrede. Prinz Liechten-
ſtein ſchilderte, wie er Dr. Lueger vor nun mehr als
30 Jahren kennen gelernt, als in Wien noch ſcheinbar
unbezwingbar der Geſchäftsliberalismus herrſchte und
dann ſagte der Feſtredner:

„Im alten Rom, wo die Sklaven die ungeheure Mehr-
zahl bildeten, hatten die Herren, ein kleines Häuflein,
ihnen verboten, eine eigene Tracht, ein Abzeichen ihres
Standes zu tragen, wie es im Geſetze hieß: Ne se
numerent
— damit ſie ſich nicht zählen“,

und an ihrer Menge ihre Kraft erkennen. So war
es im damaligen judenbeherrſchten Wien verpönt, ſich
als Chriſt und Arier zu fühlen und zu bekennen.
Erſt Lueger und ſeine Antiſemiten haben den
Bann gebrochen, der uns niederhielt, erſt ſeine mutige
offene Agitation von einem Verſammlungslokale ins andere
hat dem Wiener Volke die un[ü]berwindliche Kraft vor
Augen geſtellt, welche in den Maſſen liegt, wenn ſie eines
Sinnes und Willens ſind. (Großer Beifall.) Vom erſten
Augenblicke an wurde Lueger inſtinktiv als der
geborene Führer durch das Wiener
Volk
erkannt und ohne auch nur einen Augenblick zu
ſchwanken, hat es ihm die Treue bisher bewahrt. Die
Macht der Rede, die Kraft der Ueberzeugung, die Reinheit
des Charakters vereinigen ſich in ihm mit einer Staats-
klugheit und einer Vorausſicht, welche von weitem jede uns
drohende Gefahr auftauchen ſieht und ihr
bei Zeiten ſtets vorbeugt. (Stürmiſcher Beifall.)
Mit den Erfolgen wachſen ſeine Ziele. Jeder
Sieg wurde die Staffel zu neuen Errungenſchaften. Nach-
dem Wien befreit war, ging es an die Eroberung des
Stammlandes der Monarchie; nach dem Gemeinderate ge-
wann er uns den Landtag. Seine Popularität und der Ruf
von Rührigkeit und Energie, den die Partei ihrem Führer

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[2/0002] Wien, Montag Reichspoſt. 11. November 1907 273 nahme, eine ſolche Verpflichtung gegenüber dem Volks- und dem Staatsintereſſe, und gegen dieſe höheren ethiſchen Rückſichten mußten die Erwägungen der Parteitaktik zurück- treten, mochten ſie an ſich noch ſo begründet erſcheinen. Sehr intereſſant ſind die Ausführungen des deutſch- radikalen „Wiener D. Tagbl.“: Es iſt eine bewußte Fälſchung der liberalen Preſſe, wenn ſie behauptet, daß die Deutſchnationalen ſich unter das klerikale Diktat gebeugt, daß ſie den Chriſtlichſozialen in den Sattel geholfen haben. In den Sattel ge- hoben wurden die Chriſtlichſozialen von den deutſchen Wählern, die mehr als 90 Abgeordnete der konſervativen Richtung in den Reichs- rat entſendeten. Der Eintritt der Chriſtlichſozialen iſt das Kabinett Beck war nur eine Frage der Zeit. Auch der ſchärfſte Widerſtand der freiheitlichen deutſchen Parteien hätte dieſen Eintritt nicht hindern können. Wohl aber wäre ein ſolcher Widerſtand für die Deutſchnationalen und für das ganze dentſche Volk höchſt ſchädlich geweſen. Der dentſche Einfluß wäre geſchwächt, die Bildung eines neuen eiſernen Ringes in die Wege geleitet worden. In einer ſolchen Politik des Wahnwitzes mögen ſich die Herren Baron Hock und Kuranda gefallen, eine deutſche Partei, die ſich ihrer Verantwortung bewußt iſt, kann ſie nicht mitmachen. Der Modus vivendi zwiſchen freiheitlichen und konſervativen Deutſchen, der durch die Schaffung des Zwölferausſchuſſes angebahnt, durch die Rekonſtruktion des Miniſteriums fortgeſetzt wurde, bedeutet einen nationalen Fortſchritt für die Deutſchen. Das „Deutſche Volksblatt“ meint: Wer Recht behalten wird, die Freunde oder die Gegner des Ausgleichs und der dualiſtiſchen Verfaſſung, wird die Zukunft zeigen; wenn uns aber etwas mit der Entwicklung der Dinge verſöhnen kann, ſo iſt es die bei dieſer Gelegen- heit erzielte nationale Einigung der deutſchen Parteien, die zu erhalten jeder Deutſche die Pflicht hat, weil in ihr die Zukunft unſeres Volkes eingeſchloſſen iſt. Die „Zeit“ preiſt die erfolgte Demokratiſierung des Kabinetts und polemiſiert gegen die Zweifler: Der demokratiſche Zug in der öſterreichiſchen Politik iſt noch eine zu neue Sache, ſo daß man im Volke ſelbſt noch kein rechtes Vertrauen dazu hat und ſich lieber an die guten alten öſterreichiſchen Gewohnheiten der öſterreichiſchen Zweifelſucht und Spottluſt hält. Aber bei der ängſtlichen oder heiteren Erwartung all der Blamagen, die den neuen Männern bevorſtehen ſollen, vergißt man eines: daß ſchließlich das neue Syſtem und die neuen Männer doch nur darum notwendig geworden ſind, weil eben das alte Syſtem und die alten Männer ſich ſo ſchlecht bewährt haben. Das konſervative „Vaterland“ ſagt, das Kabinett Baron Beck habe ſich drei große Aufgaben geſetzt (Wahlreform, Ausgleich und die Löſung des nationalen Problems, von denen die zwei erſteren Aufgaben bereits gelöſt, bezw. der Erfüllung ent- gegengehen. Man weiß auch, mit weſſen Hilfe er dieſes Ziel erreicht — mit den Chriſtliſozialen, deren zeitgemäßes und energiſches Eingreifen dem langandauernden Intriguen- ſpiel ein raſches Ende bereitet und den Ausgleich gerettet hat. Daß es Baron Beck gelang, den genialen Führer der Chriſtlichſozialen, Dr. Lueget, zum Eingreifen zu be- wegen, zeigt, wie gut er die Bedeutung dieſes Parteiführers und Staatsmannes gekannt und geſchätzt hat. Es iſt nicht ganz gleichgültig für die Entwicklung unſerer innervolitiſchen Verhältniſſe, daß die chriſtlichſoziale Partei ſowohl bei der Wahlreform als auch jetzt beim Aus- gleich die Entſcheidung herbeigeführt; damals war Dr. Geßmann und jetzt iſt Dr. Lueger der „Nothelfer“ der Regierung. Und wir werden uns kaum täuſchen, wenn wir hoffen und annehmen, daß die chriſtlich- ſoziale Partei auch bei der Löſung der dritten Auf gabe eine ausſchlag gebende Rolleſpielen wird und das umſomehr, als ohne ihre Mitwirkung das nationale Problem in Oeſterreich nicht gelöſt werden kann. Denn nur eine katholiſche Grundlage kann das Fundament des nationalen Ausgleiches bilden. Die „Arbeiter-Zeitung“ möchte gern aus der Geſtaltung der Dinge agitatoriſchen Nutzen ziehen, es will ihr aber nicht recht gelingen. Sie tobt: „Herr Dr. Geßmann hat auf das berühmte „Mein lieber Dr. Geßmann!“ ſo zielbewußt hingearbeitet, daß es geradezu ein äſthetiſches Vergnügen bereitet, dieſe voll- kommene Streberkunſt zu verfolgen. Um auf den Miniſter- ſtuhl zu gelangen, mußte die Partei ihren loyalen Cha- rakter abſtreifen, ſich über die Luegerſche Bezirksgerberei erheben und Einfluß im Reiche zu gewinnen ſuchen. Das war nur möglich, wenn die Schranken der Kurie fallen: alſo wurde Geßmann ein Träger der Wahlreform, die der wieneriſchen Politik die Ausbreitungsfähigkeit im Staate erſt möglich machte.“ Wie originell! Die chriſtlichſoziale Partei wäre alſo eigens nur deshalb groß geworden, weil Dr. Geßmann Miniſter werden wollte. Man weiß jetzt wenigſtens, wer die Wahlreform gemacht hat: Dr. Geßmann! Das ſozial- demokratiſche Organ erklärt es ſelbſt. Auch in der Folge bleibt das Organ der allwiſſenden Genoſſen höchſt originell. Es behauptet, die Chriſtlichſozialen hätten zwanzig Jahre lang los von Ungarn! „gebrüllt“. Wahr iſt bekanntlich, daß die Chriſtlichſozialen immer dieſes Ziel der koſſuthiſtiſchen und alldeutſchen Politik bekämpft haben, wie aus hunderten von Reden Dr. Luegers über dieſe Frage leicht nachzuweiſen iſt. Auch das Eggenburger Partei- programm verwirft die Formel „los von Ungarn“ aus- drücklich. Gar ſo unwiſſend ſollte das Hauptorgan einer 87 Mannpartei nicht ſein. Freilich haben die Sozial- demokraten viel zu verbergen. Eine Partei, die ſich hin- ſichtlich Ungarns vom koſſuthiſtiſchen Ellenbogen-Programm zum Dr. Renner-Programm bekehrt hat und den Aus- gleich Beck-Wekerle nur deshalb ablehnt, weil die ſozial- demokratiſche Partei beim Abſchluſſe nicht als dritter mit- beſchließender Faktor beigezogen wurde, ſollte gerade in dieſer Frage hübſch den Mund halten. Die Beeidigung der neuen Miniſter. Empfang in Schönbrunn. Heute um 10 Uhr wurden die neuernannten Miniſter vom Kaiſer in Schönbrunn empfangen und in Eid genommen. Bei dieſem feierlichen Akte intervenierten der Oberſtkämmerer Leopold Graf Gudenus und der Miniſterpräſident Freiherr v. Beck. Die Eidesformel murde vom Miniſterialrate Freiherrn v. Willani verleſen. Die Vorgänge im Polenlager. Aus Lemberg wird uns telegraphiert: Die hieſigen Blätter beſchäftigten ſich geſtern mit den Vorgängen im Polenklub und berichten aus Wien: Geſtern ſind nahezu ſämtliche polniſche Reichsrats- abgeordneten in Wien eingetroffen, auch der Statthalter Graf Potocki, der den ganzen Tag über mit den leitenden Perſönlichkeiten der verſchiedenen polniſchen Gruppen konferierte. Abends fand eine Beratung der demokratiſchen Union des Polenklubs ſtatt, um zu der heutigen Obmannwahl Stellung zu nehmen. Während urſprünglich die Ausſichten des Allpolen Abg. Profeſſor Glombinski beſſere als die ſeines Gegenkandidaten Dr. von Dulemba waren, iſt die Situation für Glombinski durch einen Brief, den der Führer der polniſchen Volkspartei, Abg. Stapinski, an den Polenklub richtete, ungünſtiger geworden. In dieſem Briefe wird ausdrücklich darauf hingewieſen, daß die Polniſche Volks- partei ihre Abſicht, in den Polen- klub einzutreten, auf geben müßte, wenn an der Spitze des Klubs Dr. Glombinskiſtünde. (Wir haben ſchon in der Sonntagsnummer dieſe Sachlage dargelegt. D. R.). Zur Vorgeſchichte der Kriſe im Polenlub melden die polniſchen Blätter noch folgende Details: Die „Demokratiſche Union“ hatte für Frei- tag abends eine Verſammlung einberufen und der- ſelben eine Deklaration zur Unterſchrift vorgelegt, welche vor allem als eine Polemik gegen die konſer- vativen und radikalen polniſchen Blätter aufzufaſſen war und die eigentlichen „Ziele der Union“ dargelegt. Da viele Mitglieder der „Union“ von Wien abweſend waren, wurden deren Unterſchriften telegraphiſch mit dem Bemerken eingeholt, daß es ſich um eine „Mit- teilung“ für die Blätter handle. Zu ihrer größten Ueberraſchung aber erfuhren dieſe polniſchen Abgeordneten nach ihrer Rückkehr nach Wien, daß die Mitteilung noch einem anderen, vielwich tigeren Zwecke zu dienen hatte. Nach der Sitzung der „Demokratiſchen Union“ hatten ſich die Abgeordneten Glombinski und Petelenz zu dem Obmanne Ritter v. Abrahamowicz be- geben und ihm die Erklärung der „Union“ überreicht, wobei ſie ihm zu verſtehen gaben, daß es nun an ihm ſei, die Konſequenzen daraus zu ziehen. Ritter v. Abrahamowicz zögerte keinen Augenblick, dies zu tun. Durch die Art des Vorgehens der „Union“ iſt auch unter einzelnen demokratiſchen Mitgliedern des Polenktubs eine Mißſtimmung ausgebrochen. Das jungtſchechiſche Organ gegen die jungtſchechiſche Politik. „Narodni Liſty“ greifen in ihrem geſtrigen Artikel die tſchechiſche Dele- gation, da ſie ohne poſitive Abmachungen in die Regie- rungsmajorität eingetreten ſei, ſcharf an: „Unſere parlamentariſchen Delegierten dienen der Regie- rungsmajorität, ohne die geringſte Aenderung des deutſchen zentraliſtiſchen Syſtems erlangt zu haben. Das iſt nach unſerer Ueberzeugung ein ſchwerer Fehler, den ſich zum Schaden des tſchechiſchen Volkes die tſchechiſchen Agrarier, die Katholiſchnationalen und die Jungtſchechen zuſchulden kommen ließen. Ein ſolcher folgen- ſchwerer Fehler wurde ſeinerzeit auch von den Alttſchechen im Jahre 1879 begangen, als dieſe ohne Garantien in die Regierungsmajorität des Grafen Taaffe eintraten. Wir halten es für unſere nationale Pflicht, rechtzeitig unſere Nation auf die auf Abwege führende Richtung der Politik der tſchechiſchen Delegierten aufmerkſam zu machen, mit welcher wir auf keinen Fall übereinſtimmen und die wir nicht unterſtützen werden. Wir ſind und bleiben ein unabhängiges Blatt, das nur der tſchechiſchen Sache dient und darum können wir auch nicht unſere perſönlichen Freunde auf dem Wege begleiten, den wir als un- richtig, irrig und gefährlich erachten. Auch die Tſchechiſchradikalen benützen die günſtige Gelegenheit, um das Süpplein ihrer Par- tei zu kochen. Wie uns aus Prag, 11. d., telegra- phiert wird, legten geſtern in einer Verſammlung in den Weinbergen die Abgeordneten Dr. Hejn, Choc und insbeſondere Klofac in der heftigſten Weiſe gegen das Zurückſtellen der Poſtulatenpolitik durch die miniſterialiſierten tſchechiſchen Gruppen los und nannten dieſe Gruppen „Verräter am tſchechiſchen Volke.“ — Das ſtand zu erwarten. Die tſchechiſche Nation wird zu beweiſen haben, ob ſie politiſch reif iſt oder noch immer radikalen Schreiern und Spekulanten nachläuft. Politiſche Rundſchau. Oeſterreich-Ungarn. Wien, 11. November. Der ungariſche Miniſterpräſident beim Kaiſer. Sonntag empfing der Kaiſer um 11 Uhr vormittags in Schönbrunn den ungariſchen Miniſter- präſidenten Dr. Wekerle in einſtündiger beſonderer Audienz. Dr. Wekerle, der zum letztenmale Mitte September in Audienz empfangen worden war, er- ſtattete bei dieſer Gelegenheit über den ganzem Kom- plex der politiſchen Lage in Ungarn Bericht und unter- breitete diesbezügliche Vorſchläge. Um 5 Uhr nach- mittags kehrte der Miniſterpräſident nach Ofen-Peſt zurück. Nach Meldungen Agramer Blätter überreichte der ungariſche Miniſterpräſident Dr. Wekerle u. a. dem Monarchen die mit dem Banus v. Rakodzay vereinbarte Liſte der neuzu- ernennenden Sektionschefs und Obergeſpäne zur Ge- nehmigung. Es ſollen ernannt werden: zum Sektions- chef des Innern Univerſitätsprofeſſor Dr. Franz Spevec, zum Sektionschef für Juſtiz Dr. Gideon Avakamovic, zum Sektionschef für Kultus und Unter- richt Dr. Krisvovic; zu Obergeſpänen ſollen ernannt werden für das Komitat Agram Dr. Sljepcevic, für Ogulin der ehemalige Abg. Dedovic, für Poſega der derzeitige Obergeſpan von Ogulin v. Kraljevic, für Goſpic der Gerichtsrat Cekir, für Wlka-Krbva Bela v. Adamovich und für Warasdin der Vizegeſpan v. Beleſevich. Die zu ernennenden Perſönlichkeiten ge- hören zu den nationalen und unioniſtiſchen Parteien. Die Deutſchradikalen gegen den Ausgleich. Geſtern Sonntag, vormittags 11 Uhr, fand im Deutſchen Haus in Wien ein deutſchradikaler Partei- tag ſtatt, dem außer Parteigenoſſen aus den Kron- ländern die Reichsratsabgeordneten Wolf, Kroy, Lößl, Pacher, Dr. Sommer und von Stransky, Landes- ausſchuß Dr. Freißler beiwohuten. Nach ſiebenſtündiger eingehender Erörterung, in welcher der Ausgleich nach jeder Richtung beleuchtet wurde, fand folgende Entſchließung einhellige Annahme: „Die deutſch- radikale Partei hält an ihrem Programmpunkte der Lostrennung von Ungarn unver- rückbar feſt und verwirft den Aus- gleich nicht nur in der vorliegenden, ſondern in jeder Form.“ Viele zum Parteitag eingelangte Kund- gebungen ſprachen ſich ebenfalls gegen den Ausgleich aus. Eine Rede des Prinzen Liechtenſtein über Dr. Lueger. In der geſtern in den Engelſälen ſtatt- gehabten Feſtverſammlung des Freundſchaftsverbandes „Lueger“, die zugleich eine Luegerfeier war, hielt Abg. Prinz Liechtenſtein die Feſtrede. Prinz Liechten- ſtein ſchilderte, wie er Dr. Lueger vor nun mehr als 30 Jahren kennen gelernt, als in Wien noch ſcheinbar unbezwingbar der Geſchäftsliberalismus herrſchte und dann ſagte der Feſtredner: „Im alten Rom, wo die Sklaven die ungeheure Mehr- zahl bildeten, hatten die Herren, ein kleines Häuflein, ihnen verboten, eine eigene Tracht, ein Abzeichen ihres Standes zu tragen, wie es im Geſetze hieß: „Ne se numerent — damit ſie ſich nicht zählen“, und an ihrer Menge ihre Kraft erkennen. So war es im damaligen judenbeherrſchten Wien verpönt, ſich als Chriſt und Arier zu fühlen und zu bekennen. Erſt Lueger und ſeine Antiſemiten haben den Bann gebrochen, der uns niederhielt, erſt ſeine mutige offene Agitation von einem Verſammlungslokale ins andere hat dem Wiener Volke die unüberwindliche Kraft vor Augen geſtellt, welche in den Maſſen liegt, wenn ſie eines Sinnes und Willens ſind. (Großer Beifall.) Vom erſten Augenblicke an wurde Lueger inſtinktiv als der geborene Führer durch das Wiener Volk erkannt und ohne auch nur einen Augenblick zu ſchwanken, hat es ihm die Treue bisher bewahrt. Die Macht der Rede, die Kraft der Ueberzeugung, die Reinheit des Charakters vereinigen ſich in ihm mit einer Staats- klugheit und einer Vorausſicht, welche von weitem jede uns drohende Gefahr auftauchen ſieht und ihr bei Zeiten ſtets vorbeugt. (Stürmiſcher Beifall.) Mit den Erfolgen wachſen ſeine Ziele. Jeder Sieg wurde die Staffel zu neuen Errungenſchaften. Nach- dem Wien befreit war, ging es an die Eroberung des Stammlandes der Monarchie; nach dem Gemeinderate ge- wann er uns den Landtag. Seine Popularität und der Ruf von Rührigkeit und Energie, den die Partei ihrem Führer

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 273, Wien, 11.11.1907, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost273_1907/2>, abgerufen am 03.12.2024.