Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Unterhaltung und Belehrung. 43
[Beginn Spaltensatz]
Die ersten Schlachten des Proletariats.
( Fortsetzung. )

Der Sieg der aufständischen Lyoner Arbeiter war in der
Nacht vom 21. zum 22. Nov. 1831 entschieden. Die auf dem
Rathhaus versammelte Behörde entwarf ein Protokoll, weswegen
der Widerstand unmöglich geworden sei.

Man gab also das Signal zum Rückzuge. Der General
Roguet, der sehr leidend war, wurde auf sein Pferd gehoben.
Die Truppen, die er befehligte, bestanden aus dem 60. und
mehreren Bataillonen des 40. und 13. Regiments. Hierauf
folgten einige Abtheilungen der Nationalgarde, die einige Kano-
nen mit sich führten. Ein Posten von Arbeitern stand an der
Barri e re Saint=Clair auf dem Wege der sich zurückziehenden
Truppen. Als der General Roguet sich dieser Barri e re näherte
und das erste Pfeifen der Kugeln hörte, sagte er zu denen, die
ihn begleiteten: "Jetzt athme ich wieder frei; der Pulvergeruch
giebt mir das Leben wieder; ich befinde mich hier weit besser,
als in den Sälen des Rathhauses." Hierauf gab er den Befehl,
die Barrikaden durch Kanonenschüsse umzustürzen. Die Nacht
war heiter, und die Bayonnette glänzten im Mondenscheine. Alle
Glocken läuteten. Der Ruf: Zu den Waffen! ging in den
Vorstädten Lyons von Mund zu Mund und rief hier eine
allgemeine Bewegung hervor; alle Fenster waren mit Jnsurgenten
besetzt. Die Truppen mußten durch das Feuer der Jnsurgenten
über zahllose Barrikaden, welche die Artillerie nicht ganz um-
stürzen konnte, hinwegmarschiren, und sie gelangten traurig und
erschöpft mit ihren Kranken und Kanonen in Montessuy an. Der
General Fleury war von einer Kugel getroffen worden und hatte
seinen tödtlich verwundeten Adjudanten zu seinen Füßen nieder-
stürzen sehen. Der Kampf in dieser Vorstadt war blutig, aber
hier hatte der Bürgerkrieg seine letzten Opfer getroffen und seinen
letzten Schrei ausgestoßen.

Die im Rathhause zurückgebliebenen Beamten verfaßten jetzt
ebenfalls eine Proklamation, daß sie der allgemeinen Unordnung
weichen müßten.

Die Unterzeichner dieser kläglichen Erklärung hatten kaum
das Rathhaus verlassen, als sich auch schon die Jnsurgenten ein-
stellten. Die Thüren wurden ihnen vom Schauspieler Qu e rian
geöffnet; einige Abenteurer setzten sich hier mit einigen Häuptern
der Sektionen als provisorischer Generalstab fest. Die Regie-
rung von Lyon war jetzt getheilt zwischen Lachapelle, Frederic,
Charpentier, Anführern der Arbeiter, und Perenon Rosset, Gar-
nier, Dervieux, Filhol, Männern, welche die arbeitende Bevölke-
rung nicht kannte.

Was that nun diese insurrektionelle Macht? Lachapelle,
Frederic, Charpentier hatten im Kampfe nichts Anderes gesehen,
als eine Veränderung des Tarifs. Perenon, Rosset, Garnier,
Dervieux, Filhol hatten in demselben wiederum nur eine politische
Erschütterung gesehen. Jene wollten, daß das materielle Schick-
sal des Volks verbessert würde, diese, daß die Monarchie der
Republik weiche. Von dem Einflusse, den die Verminderung der
Macht auf die socialen Kombinationen üben könne, gab sich Nie-
mand Rechenschaft. Perenon gehörte seinen Ueberzeugungen nach
dem Prinzipe der Reaktion an, welches 1830 unterlegen war.
Rosset war ein Greis, dem die Gewohnheiten der Verschwörun-
gen eine Art sieberhafter Energie gegeben hatte, welche durch das
Alter nicht geschwächt worden war. Garnier hatte keine politische
Meinung. Dervieux und Filhol waren aufflammende aber halt-
lose Geister. Jn solche Hände legte das Glück das Schicksal
der Lyoner Jnsurrektion. Das Volk, für welches der Gehorsam
das stärkste Bedürfniß war, wurde von Betäubung befallen, als es
sich ohne Herren sah. Es empfand Furcht vor seiner Herrschaft
und dachte jetzt nur daran, diejenigen, die es gestürzt hatte, wie-
der zu erheben, um ihnen die Gewalt, deren Last es nicht ertragen
konnte, zurückzugeben.

Um das Maß voll zu machen, gerieth die so bunt zusammen-
gesetzte Volksregierung in Zwiespalt, der besonders über ver-
schiedene nur von Einzelnen verfaßte Proklamationen entbrannte.
Der Präfekt Dumolard tauchte wieder auf, und ihm gelang es,
durch Benutzung der Zwietracht und Rathlosigkeit des Volkes,
eine Demonstration zum Scheitern zu bringen, welche eine be-
stimmte Volksregierung an Stelle der Behörden einsetzen sollte.

Die Unternehmer der Bewegung entfernten sich zornig.

Dervieux sagte zu der Menge, als er das Rathhaus verließ:
"Unglückliche! Jhr wollt nicht auf uns hören; Jhr werdet es be-
reuen; aber dann wird es nicht mehr Zeit sein." Ein Tag hatte
[Spaltenumbruch] hingereicht, um das siegreiche Volk in die Gewalt der Anführer
der besiegten Bourgeoisie zu bringen.

Uebrigens war die Stadt Lyon nie besser bewacht worden,
als während des wunderbaren 25. November. Der erste Ge-
danke der Arbeiter, als sie sich der Stadt bemächtigt hatten,
war, sich in den reichsten Vierteln zu vertheilen, um hier die
Ruhe aufrecht zu erhalten und das Eigenthum zu schützen. Man
sah Männer in Lumpen, welche mit unruhiger Thätigkeit an den
Thüren der Münze und des General=Einnahmegebäudes Wache
hielten; man sah arme Arbeiter Schildwache vor den Häusern
stehen, aus welchen die Fabrikanten hervorgebrochen waren, um
sie anzugreifen. Mit einem merkwürdigen Uebermaaß von Groß-
muth ließen die Sieger den Häusern der Fabrikanten, die sich
am unbarmherzigsten gegen sie gezeigt hatten, einen besonderen
Schutz zu Theil werden. Jndeß zündete man vor dem Kaffee-
hause la Perle und vor dem Hause Oriol, von welchen aus die
Fabrikanten den ganzen 22sten auf das Viertel le Broteaux ge-
schossen hatten, einen großen Scheiterhaufen an. Die Möbeln
und die Waaren, welche die Häuser enthielten, wurden in die
Flammen geworfen. Hierauf beschränkte sich die Rache des Volks.
Gestohlen wurde nichts, und das Volk erschoß auf der Stelle
zwei Menschen, welche mit Paketen unter den Armen flüchteten.
Diejenigen Arbeiter, welche nicht die Häuser der Fabrikanten be-
wachten, suchten die blutigen Spuren des Kampfes zu verwischen.
Die Einen verrichteten Krankenwärterdienste in den Sälen des
Rathhauses, wo fliegende Lazarethe aufgestellt worden waren;
Andere beschäftigten sich damit, Tragbahren zu bauen und die
Verwundeten in's Rathhaus zu schaffen, wo sich deren bald 300
zusammenfanden; Andere endlich suchten in den Straßen die
Leichname ihrer Freunde auf. Für Viele war dies schmerzliche
Geschäft unnütz, da eine Menge Getödteter in die beiden Flüsse
geworfen worden war.

Während die Arbeiter sich diesen frommen Sorgen hingaben,
dachten die Bourgeois, die sich von ihrer Betäubung erholt hatten,
an den folgenden Tag und trafen ihre Maßregeln. Als Ar-
beiter verkleidet, mischten sie sich unter die Posten, so daß die
alte Behörde sich bloß zu zeigen brauchte, um Anerkennung und
Gehorsam zu finden. Am Abend verließ der Präfekt Dumolard
sein Hotel bei Fackelschein. Gefolgt von einigen ergebenen
Männern begab er sich nach und nach auf alle Posten. Bei jedem
Halte vergrößerten verkleidete Bourgeois in Jacken und Kappen
seinen Zug, der fast aus 600 Personen bestand, als er beim
Rathhause anlangte.

Von diesem Augenblicke gewannen die der kranken und stumpfen
Gesellschaft auferlegten Formen ihre Herrschaft wieder. Die Be-
hörde fuhr nichtsdestoweniger fort, einige Arbeiter zu ihren Be-
rathungen hinzuzuziehen und unter andern auch einen Drahtzieher
Namens Buisson; man mußte das Volk einige Tage hinhalten.
Man eröffnete auch eine Subskription zu Gunsten der Arbeiter,
und mehrere angesehene Fabrikanten unterschrieben starke Sum-
men, die nie eingezahlt wurden.

Endlich am 3. Dezember Mittags verkündete eine Prokla-
mation die Ankunft des Kronprinzen und des Marschalls Soult.
Sie zogen durch die Vorstadt Vaise an der Spitze einer zahl-
reichen Armee mit kriegerischem Pompe, brennenden Lunten und
Trommelwirbel in Lyon ein. Der Marschall Soult hatte im
Lager von Reilleux, wo ihn der General Roguet erwartete, die
Truppen getroffen, welche sich während des Aufstandes in Lyon
befunden hatten. Der Minister Louis Philipp's, der König ge-
worden war, weil 1830 die Truppen Karl's X. nicht auf das
Volk hatten feuern wollen, der Marschall Soult, warf den Sol-
daten die Schlaffheit ihres Widerstandes auf eine harte Weise
vor. Die Soldaten hörten ihn erstaunt an.

Jn Lyon entfaltete er eine noch drohendere Strenge. Die
Entwaffnung der Arbeiter wurde bewerkstelligt, die National-
garde aufgelöst, Lyon als eroberte Stadt behandelt. Und, wie
um das Volk fühlen zu lassen, daß man Alles verkenne, was
Lobenswerthes in seinem Edelmuthe und Beruhigendes in seinem
freiwilligen Zurücktreten gelegen, gab man Lyon eine Garnison
von 20,000 Mann und schloß allmälig die Arbeitervorstadt Croix-
Rousse mit einer Reihe Forts ein.

Es gab jetzt keinen Grund mehr, den Arbeitstarif zu voll-
ziehen. Der Aufruhr war gedämpft; jetzt mochten die Arbeiter
weiter hungern.

Die Nachricht von der Jnsurrektion in Lyon verbreitete
sich bald in ganz Frankreich und erfüllte es mit Traurigkeit und
Angst. Die Arbeiter in Lyon hatten sich weder im Namen
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 43
[Beginn Spaltensatz]
Die ersten Schlachten des Proletariats.
( Fortsetzung. )

Der Sieg der aufständischen Lyoner Arbeiter war in der
Nacht vom 21. zum 22. Nov. 1831 entschieden. Die auf dem
Rathhaus versammelte Behörde entwarf ein Protokoll, weswegen
der Widerstand unmöglich geworden sei.

Man gab also das Signal zum Rückzuge. Der General
Roguet, der sehr leidend war, wurde auf sein Pferd gehoben.
Die Truppen, die er befehligte, bestanden aus dem 60. und
mehreren Bataillonen des 40. und 13. Regiments. Hierauf
folgten einige Abtheilungen der Nationalgarde, die einige Kano-
nen mit sich führten. Ein Posten von Arbeitern stand an der
Barri è re Saint=Clair auf dem Wege der sich zurückziehenden
Truppen. Als der General Roguet sich dieser Barri è re näherte
und das erste Pfeifen der Kugeln hörte, sagte er zu denen, die
ihn begleiteten: „Jetzt athme ich wieder frei; der Pulvergeruch
giebt mir das Leben wieder; ich befinde mich hier weit besser,
als in den Sälen des Rathhauses.“ Hierauf gab er den Befehl,
die Barrikaden durch Kanonenschüsse umzustürzen. Die Nacht
war heiter, und die Bayonnette glänzten im Mondenscheine. Alle
Glocken läuteten. Der Ruf: Zu den Waffen! ging in den
Vorstädten Lyons von Mund zu Mund und rief hier eine
allgemeine Bewegung hervor; alle Fenster waren mit Jnsurgenten
besetzt. Die Truppen mußten durch das Feuer der Jnsurgenten
über zahllose Barrikaden, welche die Artillerie nicht ganz um-
stürzen konnte, hinwegmarschiren, und sie gelangten traurig und
erschöpft mit ihren Kranken und Kanonen in Montessuy an. Der
General Fleury war von einer Kugel getroffen worden und hatte
seinen tödtlich verwundeten Adjudanten zu seinen Füßen nieder-
stürzen sehen. Der Kampf in dieser Vorstadt war blutig, aber
hier hatte der Bürgerkrieg seine letzten Opfer getroffen und seinen
letzten Schrei ausgestoßen.

Die im Rathhause zurückgebliebenen Beamten verfaßten jetzt
ebenfalls eine Proklamation, daß sie der allgemeinen Unordnung
weichen müßten.

Die Unterzeichner dieser kläglichen Erklärung hatten kaum
das Rathhaus verlassen, als sich auch schon die Jnsurgenten ein-
stellten. Die Thüren wurden ihnen vom Schauspieler Qu é rian
geöffnet; einige Abenteurer setzten sich hier mit einigen Häuptern
der Sektionen als provisorischer Generalstab fest. Die Regie-
rung von Lyon war jetzt getheilt zwischen Lachapelle, Frederic,
Charpentier, Anführern der Arbeiter, und Perenon Rosset, Gar-
nier, Dervieux, Filhol, Männern, welche die arbeitende Bevölke-
rung nicht kannte.

Was that nun diese insurrektionelle Macht? Lachapelle,
Frederic, Charpentier hatten im Kampfe nichts Anderes gesehen,
als eine Veränderung des Tarifs. Perenon, Rosset, Garnier,
Dervieux, Filhol hatten in demselben wiederum nur eine politische
Erschütterung gesehen. Jene wollten, daß das materielle Schick-
sal des Volks verbessert würde, diese, daß die Monarchie der
Republik weiche. Von dem Einflusse, den die Verminderung der
Macht auf die socialen Kombinationen üben könne, gab sich Nie-
mand Rechenschaft. Perenon gehörte seinen Ueberzeugungen nach
dem Prinzipe der Reaktion an, welches 1830 unterlegen war.
Rosset war ein Greis, dem die Gewohnheiten der Verschwörun-
gen eine Art sieberhafter Energie gegeben hatte, welche durch das
Alter nicht geschwächt worden war. Garnier hatte keine politische
Meinung. Dervieux und Filhol waren aufflammende aber halt-
lose Geister. Jn solche Hände legte das Glück das Schicksal
der Lyoner Jnsurrektion. Das Volk, für welches der Gehorsam
das stärkste Bedürfniß war, wurde von Betäubung befallen, als es
sich ohne Herren sah. Es empfand Furcht vor seiner Herrschaft
und dachte jetzt nur daran, diejenigen, die es gestürzt hatte, wie-
der zu erheben, um ihnen die Gewalt, deren Last es nicht ertragen
konnte, zurückzugeben.

Um das Maß voll zu machen, gerieth die so bunt zusammen-
gesetzte Volksregierung in Zwiespalt, der besonders über ver-
schiedene nur von Einzelnen verfaßte Proklamationen entbrannte.
Der Präfekt Dumolard tauchte wieder auf, und ihm gelang es,
durch Benutzung der Zwietracht und Rathlosigkeit des Volkes,
eine Demonstration zum Scheitern zu bringen, welche eine be-
stimmte Volksregierung an Stelle der Behörden einsetzen sollte.

Die Unternehmer der Bewegung entfernten sich zornig.

Dervieux sagte zu der Menge, als er das Rathhaus verließ:
„Unglückliche! Jhr wollt nicht auf uns hören; Jhr werdet es be-
reuen; aber dann wird es nicht mehr Zeit sein.“ Ein Tag hatte
[Spaltenumbruch] hingereicht, um das siegreiche Volk in die Gewalt der Anführer
der besiegten Bourgeoisie zu bringen.

Uebrigens war die Stadt Lyon nie besser bewacht worden,
als während des wunderbaren 25. November. Der erste Ge-
danke der Arbeiter, als sie sich der Stadt bemächtigt hatten,
war, sich in den reichsten Vierteln zu vertheilen, um hier die
Ruhe aufrecht zu erhalten und das Eigenthum zu schützen. Man
sah Männer in Lumpen, welche mit unruhiger Thätigkeit an den
Thüren der Münze und des General=Einnahmegebäudes Wache
hielten; man sah arme Arbeiter Schildwache vor den Häusern
stehen, aus welchen die Fabrikanten hervorgebrochen waren, um
sie anzugreifen. Mit einem merkwürdigen Uebermaaß von Groß-
muth ließen die Sieger den Häusern der Fabrikanten, die sich
am unbarmherzigsten gegen sie gezeigt hatten, einen besonderen
Schutz zu Theil werden. Jndeß zündete man vor dem Kaffee-
hause la Perle und vor dem Hause Oriol, von welchen aus die
Fabrikanten den ganzen 22sten auf das Viertel le Broteaux ge-
schossen hatten, einen großen Scheiterhaufen an. Die Möbeln
und die Waaren, welche die Häuser enthielten, wurden in die
Flammen geworfen. Hierauf beschränkte sich die Rache des Volks.
Gestohlen wurde nichts, und das Volk erschoß auf der Stelle
zwei Menschen, welche mit Paketen unter den Armen flüchteten.
Diejenigen Arbeiter, welche nicht die Häuser der Fabrikanten be-
wachten, suchten die blutigen Spuren des Kampfes zu verwischen.
Die Einen verrichteten Krankenwärterdienste in den Sälen des
Rathhauses, wo fliegende Lazarethe aufgestellt worden waren;
Andere beschäftigten sich damit, Tragbahren zu bauen und die
Verwundeten in's Rathhaus zu schaffen, wo sich deren bald 300
zusammenfanden; Andere endlich suchten in den Straßen die
Leichname ihrer Freunde auf. Für Viele war dies schmerzliche
Geschäft unnütz, da eine Menge Getödteter in die beiden Flüsse
geworfen worden war.

Während die Arbeiter sich diesen frommen Sorgen hingaben,
dachten die Bourgeois, die sich von ihrer Betäubung erholt hatten,
an den folgenden Tag und trafen ihre Maßregeln. Als Ar-
beiter verkleidet, mischten sie sich unter die Posten, so daß die
alte Behörde sich bloß zu zeigen brauchte, um Anerkennung und
Gehorsam zu finden. Am Abend verließ der Präfekt Dumolard
sein Hotel bei Fackelschein. Gefolgt von einigen ergebenen
Männern begab er sich nach und nach auf alle Posten. Bei jedem
Halte vergrößerten verkleidete Bourgeois in Jacken und Kappen
seinen Zug, der fast aus 600 Personen bestand, als er beim
Rathhause anlangte.

Von diesem Augenblicke gewannen die der kranken und stumpfen
Gesellschaft auferlegten Formen ihre Herrschaft wieder. Die Be-
hörde fuhr nichtsdestoweniger fort, einige Arbeiter zu ihren Be-
rathungen hinzuzuziehen und unter andern auch einen Drahtzieher
Namens Buisson; man mußte das Volk einige Tage hinhalten.
Man eröffnete auch eine Subskription zu Gunsten der Arbeiter,
und mehrere angesehene Fabrikanten unterschrieben starke Sum-
men, die nie eingezahlt wurden.

Endlich am 3. Dezember Mittags verkündete eine Prokla-
mation die Ankunft des Kronprinzen und des Marschalls Soult.
Sie zogen durch die Vorstadt Vaise an der Spitze einer zahl-
reichen Armee mit kriegerischem Pompe, brennenden Lunten und
Trommelwirbel in Lyon ein. Der Marschall Soult hatte im
Lager von Reilleux, wo ihn der General Roguet erwartete, die
Truppen getroffen, welche sich während des Aufstandes in Lyon
befunden hatten. Der Minister Louis Philipp's, der König ge-
worden war, weil 1830 die Truppen Karl's X. nicht auf das
Volk hatten feuern wollen, der Marschall Soult, warf den Sol-
daten die Schlaffheit ihres Widerstandes auf eine harte Weise
vor. Die Soldaten hörten ihn erstaunt an.

Jn Lyon entfaltete er eine noch drohendere Strenge. Die
Entwaffnung der Arbeiter wurde bewerkstelligt, die National-
garde aufgelöst, Lyon als eroberte Stadt behandelt. Und, wie
um das Volk fühlen zu lassen, daß man Alles verkenne, was
Lobenswerthes in seinem Edelmuthe und Beruhigendes in seinem
freiwilligen Zurücktreten gelegen, gab man Lyon eine Garnison
von 20,000 Mann und schloß allmälig die Arbeitervorstadt Croix-
Rousse mit einer Reihe Forts ein.

Es gab jetzt keinen Grund mehr, den Arbeitstarif zu voll-
ziehen. Der Aufruhr war gedämpft; jetzt mochten die Arbeiter
weiter hungern.

Die Nachricht von der Jnsurrektion in Lyon verbreitete
sich bald in ganz Frankreich und erfüllte es mit Traurigkeit und
Angst. Die Arbeiter in Lyon hatten sich weder im Namen
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0019" n="43"/>
      <fw type="header" place="top"><hi rendition="#g">Zur Unterhaltung und Belehrung.</hi> 43</fw>
      <cb type="start"/>
      <div xml:id="Schlacht1" type="jArticle" n="1">
        <head><hi rendition="#fr">Die ersten Schlachten des Proletariats.</hi><lb/>
( Fortsetzung. )<note type="editorial">Die Ausgaben, die vorangegangene Teile des Artikels enthalten, fehlen. Die Ausgabe, die den Schlussteil enthält, ist vorhanden.</note></head><lb/>
        <p>Der Sieg der aufständischen Lyoner Arbeiter war in der<lb/>
Nacht vom 21. zum 22. Nov. 1831 entschieden. Die auf dem<lb/>
Rathhaus versammelte Behörde entwarf ein Protokoll, weswegen<lb/>
der Widerstand unmöglich geworden sei.</p><lb/>
        <p>Man gab also das Signal zum Rückzuge. Der General<lb/>
Roguet, der sehr leidend war, wurde auf sein Pferd gehoben.<lb/>
Die Truppen, die er befehligte, bestanden aus dem 60. und<lb/>
mehreren Bataillonen des 40. und 13. Regiments. Hierauf<lb/>
folgten einige Abtheilungen der Nationalgarde, die einige Kano-<lb/>
nen mit sich führten. Ein Posten von Arbeitern stand an der<lb/>
Barri <hi rendition="#aq">è</hi> re Saint=Clair auf dem Wege der sich zurückziehenden<lb/>
Truppen. Als der General Roguet sich dieser Barri <hi rendition="#aq">è</hi> re näherte<lb/>
und das erste Pfeifen der Kugeln hörte, sagte er zu denen, die<lb/>
ihn begleiteten: &#x201E;Jetzt athme ich wieder frei; der Pulvergeruch<lb/>
giebt mir das Leben wieder; ich befinde mich hier weit besser,<lb/>
als in den Sälen des Rathhauses.&#x201C; Hierauf gab er den Befehl,<lb/>
die Barrikaden durch Kanonenschüsse umzustürzen. Die Nacht<lb/>
war heiter, und die Bayonnette glänzten im Mondenscheine. Alle<lb/>
Glocken läuteten. Der Ruf: <hi rendition="#g">Zu den Waffen!</hi> ging in den<lb/>
Vorstädten Lyons von Mund zu Mund und rief hier eine<lb/>
allgemeine Bewegung hervor; alle Fenster waren mit Jnsurgenten<lb/>
besetzt. Die Truppen mußten durch das Feuer der Jnsurgenten<lb/>
über zahllose Barrikaden, welche die Artillerie nicht ganz um-<lb/>
stürzen konnte, hinwegmarschiren, und sie gelangten traurig und<lb/>
erschöpft mit ihren Kranken und Kanonen in Montessuy an. Der<lb/>
General Fleury war von einer Kugel getroffen worden und hatte<lb/>
seinen tödtlich verwundeten Adjudanten zu seinen Füßen nieder-<lb/>
stürzen sehen. Der Kampf in dieser Vorstadt war blutig, aber<lb/>
hier hatte der Bürgerkrieg seine letzten Opfer getroffen und seinen<lb/>
letzten Schrei ausgestoßen.</p><lb/>
        <p>Die im Rathhause zurückgebliebenen Beamten verfaßten jetzt<lb/>
ebenfalls eine Proklamation, daß sie der allgemeinen Unordnung<lb/>
weichen müßten.</p><lb/>
        <p>Die Unterzeichner dieser kläglichen Erklärung hatten kaum<lb/>
das Rathhaus verlassen, als sich auch schon die Jnsurgenten ein-<lb/>
stellten. Die Thüren wurden ihnen vom Schauspieler Qu <hi rendition="#aq">é</hi> rian<lb/>
geöffnet; einige Abenteurer setzten sich hier mit einigen Häuptern<lb/>
der Sektionen als provisorischer Generalstab fest. Die Regie-<lb/>
rung von Lyon war jetzt getheilt zwischen Lachapelle, Frederic,<lb/>
Charpentier, Anführern der Arbeiter, und Perenon Rosset, Gar-<lb/>
nier, Dervieux, Filhol, Männern, welche die arbeitende Bevölke-<lb/>
rung nicht kannte.</p><lb/>
        <p>Was that nun diese insurrektionelle Macht? Lachapelle,<lb/>
Frederic, Charpentier hatten im Kampfe nichts Anderes gesehen,<lb/>
als eine Veränderung des Tarifs. Perenon, Rosset, Garnier,<lb/>
Dervieux, Filhol hatten in demselben wiederum nur eine politische<lb/>
Erschütterung gesehen. Jene wollten, daß das materielle Schick-<lb/>
sal des Volks verbessert würde, diese, daß die Monarchie der<lb/>
Republik weiche. Von dem Einflusse, den die Verminderung der<lb/>
Macht auf die socialen Kombinationen üben könne, gab sich Nie-<lb/>
mand Rechenschaft. Perenon gehörte seinen Ueberzeugungen nach<lb/>
dem Prinzipe der Reaktion an, welches 1830 unterlegen war.<lb/>
Rosset war ein Greis, dem die Gewohnheiten der Verschwörun-<lb/>
gen eine Art sieberhafter Energie gegeben hatte, welche durch das<lb/>
Alter nicht geschwächt worden war. Garnier hatte keine politische<lb/>
Meinung. Dervieux und Filhol waren aufflammende aber halt-<lb/>
lose Geister. Jn solche Hände legte das Glück das Schicksal<lb/>
der Lyoner Jnsurrektion. Das Volk, für welches der Gehorsam<lb/>
das stärkste Bedürfniß war, wurde von Betäubung befallen, als es<lb/>
sich ohne Herren sah. Es empfand Furcht vor seiner Herrschaft<lb/>
und dachte jetzt nur daran, diejenigen, die es gestürzt hatte, wie-<lb/>
der zu erheben, um ihnen die Gewalt, deren Last es nicht ertragen<lb/>
konnte, zurückzugeben.</p><lb/>
        <p>Um das Maß voll zu machen, gerieth die so bunt zusammen-<lb/>
gesetzte Volksregierung in Zwiespalt, der besonders über ver-<lb/>
schiedene nur von Einzelnen verfaßte Proklamationen entbrannte.<lb/>
Der Präfekt Dumolard tauchte wieder auf, und ihm gelang es,<lb/>
durch Benutzung der Zwietracht und Rathlosigkeit des Volkes,<lb/>
eine Demonstration zum Scheitern zu bringen, welche eine be-<lb/>
stimmte Volksregierung an Stelle der Behörden einsetzen sollte.</p><lb/>
        <p>Die Unternehmer der Bewegung entfernten sich zornig.</p><lb/>
        <p>Dervieux sagte zu der Menge, als er das Rathhaus verließ:<lb/>
&#x201E;Unglückliche! Jhr wollt nicht auf uns hören; Jhr werdet es be-<lb/>
reuen; aber dann wird es nicht mehr Zeit sein.&#x201C; Ein Tag hatte<lb/><cb n="2"/>
hingereicht, um das siegreiche Volk in die Gewalt der Anführer<lb/>
der besiegten Bourgeoisie zu bringen.</p><lb/>
        <p>Uebrigens war die Stadt Lyon nie besser bewacht worden,<lb/>
als während des wunderbaren 25. November. Der erste Ge-<lb/>
danke der Arbeiter, als sie sich der Stadt bemächtigt hatten,<lb/>
war, sich in den reichsten Vierteln zu vertheilen, um hier die<lb/>
Ruhe aufrecht zu erhalten und das Eigenthum zu schützen. Man<lb/>
sah Männer in Lumpen, welche mit unruhiger Thätigkeit an den<lb/>
Thüren der Münze und des General=Einnahmegebäudes Wache<lb/>
hielten; man sah arme Arbeiter Schildwache vor den Häusern<lb/>
stehen, aus welchen die Fabrikanten hervorgebrochen waren, um<lb/>
sie anzugreifen. Mit einem merkwürdigen Uebermaaß von Groß-<lb/>
muth ließen die Sieger den Häusern der Fabrikanten, die sich<lb/>
am unbarmherzigsten gegen sie gezeigt hatten, einen besonderen<lb/>
Schutz zu Theil werden. Jndeß zündete man vor dem Kaffee-<lb/>
hause la Perle und vor dem Hause Oriol, von welchen aus die<lb/>
Fabrikanten den ganzen 22sten auf das Viertel le Broteaux ge-<lb/>
schossen hatten, einen großen Scheiterhaufen an. Die Möbeln<lb/>
und die Waaren, welche die Häuser enthielten, wurden in die<lb/>
Flammen geworfen. Hierauf beschränkte sich die Rache des Volks.<lb/>
Gestohlen wurde nichts, und das Volk erschoß auf der Stelle<lb/>
zwei Menschen, welche mit Paketen unter den Armen flüchteten.<lb/>
Diejenigen Arbeiter, welche nicht die Häuser der Fabrikanten be-<lb/>
wachten, suchten die blutigen Spuren des Kampfes zu verwischen.<lb/>
Die Einen verrichteten Krankenwärterdienste in den Sälen des<lb/>
Rathhauses, wo fliegende Lazarethe aufgestellt worden waren;<lb/>
Andere beschäftigten sich damit, Tragbahren zu bauen und die<lb/>
Verwundeten in's Rathhaus zu schaffen, wo sich deren bald 300<lb/>
zusammenfanden; Andere endlich suchten in den Straßen die<lb/>
Leichname ihrer Freunde auf. Für Viele war dies schmerzliche<lb/>
Geschäft unnütz, da eine Menge Getödteter in die beiden Flüsse<lb/>
geworfen worden war.</p><lb/>
        <p>Während die Arbeiter sich diesen frommen Sorgen hingaben,<lb/>
dachten die Bourgeois, die sich von ihrer Betäubung erholt hatten,<lb/>
an den folgenden Tag und trafen ihre Maßregeln. Als Ar-<lb/>
beiter verkleidet, mischten sie sich unter die Posten, so daß die<lb/>
alte Behörde sich bloß zu zeigen brauchte, um Anerkennung und<lb/>
Gehorsam zu finden. Am Abend verließ der Präfekt Dumolard<lb/>
sein Hotel bei Fackelschein. Gefolgt von einigen ergebenen<lb/>
Männern begab er sich nach und nach auf alle Posten. Bei jedem<lb/>
Halte vergrößerten verkleidete Bourgeois in Jacken und Kappen<lb/>
seinen Zug, der fast aus 600 Personen bestand, als er beim<lb/>
Rathhause anlangte.</p><lb/>
        <p>Von diesem Augenblicke gewannen die der kranken und stumpfen<lb/>
Gesellschaft auferlegten Formen ihre Herrschaft wieder. Die Be-<lb/>
hörde fuhr nichtsdestoweniger fort, einige Arbeiter zu ihren Be-<lb/>
rathungen hinzuzuziehen und unter andern auch einen Drahtzieher<lb/>
Namens Buisson; man mußte das Volk einige Tage hinhalten.<lb/>
Man eröffnete auch eine Subskription zu Gunsten der Arbeiter,<lb/>
und mehrere angesehene Fabrikanten unterschrieben starke Sum-<lb/>
men, die nie eingezahlt wurden.</p><lb/>
        <p>Endlich am 3. Dezember Mittags verkündete eine Prokla-<lb/>
mation die Ankunft des Kronprinzen und des Marschalls Soult.<lb/>
Sie zogen durch die Vorstadt Vaise an der Spitze einer zahl-<lb/>
reichen Armee mit kriegerischem Pompe, brennenden Lunten und<lb/>
Trommelwirbel in Lyon ein. Der Marschall Soult hatte im<lb/>
Lager von Reilleux, wo ihn der General Roguet erwartete, die<lb/>
Truppen getroffen, welche sich während des Aufstandes in Lyon<lb/>
befunden hatten. Der Minister Louis Philipp's, der König ge-<lb/>
worden war, weil 1830 die Truppen Karl's <hi rendition="#aq">X</hi>. nicht auf das<lb/>
Volk hatten feuern wollen, der Marschall Soult, warf den Sol-<lb/>
daten die Schlaffheit ihres Widerstandes auf eine harte Weise<lb/>
vor. Die Soldaten hörten ihn erstaunt an. </p><lb/>
        <p>Jn Lyon entfaltete er eine noch drohendere Strenge. Die<lb/>
Entwaffnung der Arbeiter wurde bewerkstelligt, die National-<lb/>
garde aufgelöst, Lyon als eroberte Stadt behandelt. Und, wie<lb/>
um das Volk fühlen zu lassen, daß man Alles verkenne, was<lb/>
Lobenswerthes in seinem Edelmuthe und Beruhigendes in seinem<lb/>
freiwilligen Zurücktreten gelegen, gab man Lyon eine Garnison<lb/>
von 20,000 Mann und schloß allmälig die Arbeitervorstadt Croix-<lb/>
Rousse mit einer Reihe Forts ein.</p><lb/>
        <p>Es gab jetzt keinen Grund mehr, den Arbeitstarif zu voll-<lb/>
ziehen. Der Aufruhr war gedämpft; jetzt mochten die Arbeiter<lb/>
weiter hungern.</p><lb/>
        <p>Die Nachricht von der Jnsurrektion in Lyon verbreitete<lb/>
sich bald in ganz Frankreich und erfüllte es mit Traurigkeit und<lb/>
Angst. Die Arbeiter in Lyon hatten sich weder im Namen<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0019] Zur Unterhaltung und Belehrung. 43 Die ersten Schlachten des Proletariats. ( Fortsetzung. ) Der Sieg der aufständischen Lyoner Arbeiter war in der Nacht vom 21. zum 22. Nov. 1831 entschieden. Die auf dem Rathhaus versammelte Behörde entwarf ein Protokoll, weswegen der Widerstand unmöglich geworden sei. Man gab also das Signal zum Rückzuge. Der General Roguet, der sehr leidend war, wurde auf sein Pferd gehoben. Die Truppen, die er befehligte, bestanden aus dem 60. und mehreren Bataillonen des 40. und 13. Regiments. Hierauf folgten einige Abtheilungen der Nationalgarde, die einige Kano- nen mit sich führten. Ein Posten von Arbeitern stand an der Barri è re Saint=Clair auf dem Wege der sich zurückziehenden Truppen. Als der General Roguet sich dieser Barri è re näherte und das erste Pfeifen der Kugeln hörte, sagte er zu denen, die ihn begleiteten: „Jetzt athme ich wieder frei; der Pulvergeruch giebt mir das Leben wieder; ich befinde mich hier weit besser, als in den Sälen des Rathhauses.“ Hierauf gab er den Befehl, die Barrikaden durch Kanonenschüsse umzustürzen. Die Nacht war heiter, und die Bayonnette glänzten im Mondenscheine. Alle Glocken läuteten. Der Ruf: Zu den Waffen! ging in den Vorstädten Lyons von Mund zu Mund und rief hier eine allgemeine Bewegung hervor; alle Fenster waren mit Jnsurgenten besetzt. Die Truppen mußten durch das Feuer der Jnsurgenten über zahllose Barrikaden, welche die Artillerie nicht ganz um- stürzen konnte, hinwegmarschiren, und sie gelangten traurig und erschöpft mit ihren Kranken und Kanonen in Montessuy an. Der General Fleury war von einer Kugel getroffen worden und hatte seinen tödtlich verwundeten Adjudanten zu seinen Füßen nieder- stürzen sehen. Der Kampf in dieser Vorstadt war blutig, aber hier hatte der Bürgerkrieg seine letzten Opfer getroffen und seinen letzten Schrei ausgestoßen. Die im Rathhause zurückgebliebenen Beamten verfaßten jetzt ebenfalls eine Proklamation, daß sie der allgemeinen Unordnung weichen müßten. Die Unterzeichner dieser kläglichen Erklärung hatten kaum das Rathhaus verlassen, als sich auch schon die Jnsurgenten ein- stellten. Die Thüren wurden ihnen vom Schauspieler Qu é rian geöffnet; einige Abenteurer setzten sich hier mit einigen Häuptern der Sektionen als provisorischer Generalstab fest. Die Regie- rung von Lyon war jetzt getheilt zwischen Lachapelle, Frederic, Charpentier, Anführern der Arbeiter, und Perenon Rosset, Gar- nier, Dervieux, Filhol, Männern, welche die arbeitende Bevölke- rung nicht kannte. Was that nun diese insurrektionelle Macht? Lachapelle, Frederic, Charpentier hatten im Kampfe nichts Anderes gesehen, als eine Veränderung des Tarifs. Perenon, Rosset, Garnier, Dervieux, Filhol hatten in demselben wiederum nur eine politische Erschütterung gesehen. Jene wollten, daß das materielle Schick- sal des Volks verbessert würde, diese, daß die Monarchie der Republik weiche. Von dem Einflusse, den die Verminderung der Macht auf die socialen Kombinationen üben könne, gab sich Nie- mand Rechenschaft. Perenon gehörte seinen Ueberzeugungen nach dem Prinzipe der Reaktion an, welches 1830 unterlegen war. Rosset war ein Greis, dem die Gewohnheiten der Verschwörun- gen eine Art sieberhafter Energie gegeben hatte, welche durch das Alter nicht geschwächt worden war. Garnier hatte keine politische Meinung. Dervieux und Filhol waren aufflammende aber halt- lose Geister. Jn solche Hände legte das Glück das Schicksal der Lyoner Jnsurrektion. Das Volk, für welches der Gehorsam das stärkste Bedürfniß war, wurde von Betäubung befallen, als es sich ohne Herren sah. Es empfand Furcht vor seiner Herrschaft und dachte jetzt nur daran, diejenigen, die es gestürzt hatte, wie- der zu erheben, um ihnen die Gewalt, deren Last es nicht ertragen konnte, zurückzugeben. Um das Maß voll zu machen, gerieth die so bunt zusammen- gesetzte Volksregierung in Zwiespalt, der besonders über ver- schiedene nur von Einzelnen verfaßte Proklamationen entbrannte. Der Präfekt Dumolard tauchte wieder auf, und ihm gelang es, durch Benutzung der Zwietracht und Rathlosigkeit des Volkes, eine Demonstration zum Scheitern zu bringen, welche eine be- stimmte Volksregierung an Stelle der Behörden einsetzen sollte. Die Unternehmer der Bewegung entfernten sich zornig. Dervieux sagte zu der Menge, als er das Rathhaus verließ: „Unglückliche! Jhr wollt nicht auf uns hören; Jhr werdet es be- reuen; aber dann wird es nicht mehr Zeit sein.“ Ein Tag hatte hingereicht, um das siegreiche Volk in die Gewalt der Anführer der besiegten Bourgeoisie zu bringen. Uebrigens war die Stadt Lyon nie besser bewacht worden, als während des wunderbaren 25. November. Der erste Ge- danke der Arbeiter, als sie sich der Stadt bemächtigt hatten, war, sich in den reichsten Vierteln zu vertheilen, um hier die Ruhe aufrecht zu erhalten und das Eigenthum zu schützen. Man sah Männer in Lumpen, welche mit unruhiger Thätigkeit an den Thüren der Münze und des General=Einnahmegebäudes Wache hielten; man sah arme Arbeiter Schildwache vor den Häusern stehen, aus welchen die Fabrikanten hervorgebrochen waren, um sie anzugreifen. Mit einem merkwürdigen Uebermaaß von Groß- muth ließen die Sieger den Häusern der Fabrikanten, die sich am unbarmherzigsten gegen sie gezeigt hatten, einen besonderen Schutz zu Theil werden. Jndeß zündete man vor dem Kaffee- hause la Perle und vor dem Hause Oriol, von welchen aus die Fabrikanten den ganzen 22sten auf das Viertel le Broteaux ge- schossen hatten, einen großen Scheiterhaufen an. Die Möbeln und die Waaren, welche die Häuser enthielten, wurden in die Flammen geworfen. Hierauf beschränkte sich die Rache des Volks. Gestohlen wurde nichts, und das Volk erschoß auf der Stelle zwei Menschen, welche mit Paketen unter den Armen flüchteten. Diejenigen Arbeiter, welche nicht die Häuser der Fabrikanten be- wachten, suchten die blutigen Spuren des Kampfes zu verwischen. Die Einen verrichteten Krankenwärterdienste in den Sälen des Rathhauses, wo fliegende Lazarethe aufgestellt worden waren; Andere beschäftigten sich damit, Tragbahren zu bauen und die Verwundeten in's Rathhaus zu schaffen, wo sich deren bald 300 zusammenfanden; Andere endlich suchten in den Straßen die Leichname ihrer Freunde auf. Für Viele war dies schmerzliche Geschäft unnütz, da eine Menge Getödteter in die beiden Flüsse geworfen worden war. Während die Arbeiter sich diesen frommen Sorgen hingaben, dachten die Bourgeois, die sich von ihrer Betäubung erholt hatten, an den folgenden Tag und trafen ihre Maßregeln. Als Ar- beiter verkleidet, mischten sie sich unter die Posten, so daß die alte Behörde sich bloß zu zeigen brauchte, um Anerkennung und Gehorsam zu finden. Am Abend verließ der Präfekt Dumolard sein Hotel bei Fackelschein. Gefolgt von einigen ergebenen Männern begab er sich nach und nach auf alle Posten. Bei jedem Halte vergrößerten verkleidete Bourgeois in Jacken und Kappen seinen Zug, der fast aus 600 Personen bestand, als er beim Rathhause anlangte. Von diesem Augenblicke gewannen die der kranken und stumpfen Gesellschaft auferlegten Formen ihre Herrschaft wieder. Die Be- hörde fuhr nichtsdestoweniger fort, einige Arbeiter zu ihren Be- rathungen hinzuzuziehen und unter andern auch einen Drahtzieher Namens Buisson; man mußte das Volk einige Tage hinhalten. Man eröffnete auch eine Subskription zu Gunsten der Arbeiter, und mehrere angesehene Fabrikanten unterschrieben starke Sum- men, die nie eingezahlt wurden. Endlich am 3. Dezember Mittags verkündete eine Prokla- mation die Ankunft des Kronprinzen und des Marschalls Soult. Sie zogen durch die Vorstadt Vaise an der Spitze einer zahl- reichen Armee mit kriegerischem Pompe, brennenden Lunten und Trommelwirbel in Lyon ein. Der Marschall Soult hatte im Lager von Reilleux, wo ihn der General Roguet erwartete, die Truppen getroffen, welche sich während des Aufstandes in Lyon befunden hatten. Der Minister Louis Philipp's, der König ge- worden war, weil 1830 die Truppen Karl's X. nicht auf das Volk hatten feuern wollen, der Marschall Soult, warf den Sol- daten die Schlaffheit ihres Widerstandes auf eine harte Weise vor. Die Soldaten hörten ihn erstaunt an. Jn Lyon entfaltete er eine noch drohendere Strenge. Die Entwaffnung der Arbeiter wurde bewerkstelligt, die National- garde aufgelöst, Lyon als eroberte Stadt behandelt. Und, wie um das Volk fühlen zu lassen, daß man Alles verkenne, was Lobenswerthes in seinem Edelmuthe und Beruhigendes in seinem freiwilligen Zurücktreten gelegen, gab man Lyon eine Garnison von 20,000 Mann und schloß allmälig die Arbeitervorstadt Croix- Rousse mit einer Reihe Forts ein. Es gab jetzt keinen Grund mehr, den Arbeitstarif zu voll- ziehen. Der Aufruhr war gedämpft; jetzt mochten die Arbeiter weiter hungern. Die Nachricht von der Jnsurrektion in Lyon verbreitete sich bald in ganz Frankreich und erfüllte es mit Traurigkeit und Angst. Die Arbeiter in Lyon hatten sich weder im Namen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social02_1873
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social02_1873/19
Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social02_1873/19>, abgerufen am 01.06.2024.