Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur Unterhaltung und Belehrung. 50
[Beginn Spaltensatz]

Die immer noch unentwickelte Menschheit aber konnte die
Menschenrechte, welche also der Form nach bei den Urvöl-
kern bestanden hatten, nicht behalten, wenngleich immer ein-
zelne Personen wohl den Werth derselben in dem gemein-
samen Wesen und Leben fühlten. Die unvollkommene
Menschheit aber, wir wiederholen es, war in der Gemein-
samkeit noch nicht so erstarkt, als daß das Leben in dieser
Gemeinsamkeit ein auf das gleiche Recht und die gleiche
Pflicht, aus denen die höchste Glückseligkeit der Menschheit
hervorgeht, hätte basirt sein können.

Doch die kulturhistorische Entwicklung des Menschen-
geschlechtes, die zu Anfang so enorm langsam vor sich ging,
so daß man die Urzeit der Menschen, in welcher sie von
Thieren und unter Thieren ohne besondere Gemeinsamkeit
lebten, nach Jahrtausenden rechnen kann, nahm bald einen
geschwinderen Gang an. Durch den Ackerbau und durch
das Herstellen der dazu nöthigen Jnstrumente bildeten sich
die Kulturstaaten, Kunst und Jndustrie in denselben. Die
Gemeinsamkeit erhielt nun den ersten Stoß in der aus-
geprägten Unterdrückung einer Klasse der Menschen durch
andere Klassen; die Sklaverei entstand. Das Wesen der-
selben ist bekannt und auch die schon berührten Gründe
ihrer Entstehung.

Aber von Wichtigkeit ist, daß durch die Unter-
drückung einer großen Klasse
von Menschen die
Jdee der Menschenrechte erst sich entwickeln konnte.

Das schneidende Unrecht ist immer der Spie-
gel des Rechtes.

Und von da an datirt sich auch der theoretisch=philo-
sophische Kampf um die Erringung der Menschenrechte;
ihre Unterdrückung in der Gemeinsamkeit war ihre Er-
weckerin.

Sollen wir auf die Philosophie des Sokrates hin-
weisen? Oder sollen wir gar den großen Nazarener hier
anführen? Die gewaltigen Wahrheiten jener Männer sind
bekannt, und mit dem Tode haben sie selbst ihren Kampf
für die Menschenrechte besiegelt. --

Die Entwicklung der Menschheit ist nicht aufzuhalten;
nicht mehr Jahrtausende waren erforderlich, dieselbe einen
Schritt weiter zu bringen; in Jahrhunderten war das Fort-
schreiten größer. Die Sklaverei schwand, die mildere Form
der Leibeigenschaft trat an ihre Stelle -- und immer und
immer stand die zwar stumme Masse der Menschen
schon da und forderte im Namen der Menschheit die Men-
schenrechte. Manche Fessel wurde im Laufe der Zeit noch
abgeschüttelt -- -- -- -- -- da endlich donnerte der laute
Ruf eines großen Volkes durch die Welt: " Die Men-
schechenrechte sollen proklamirt werden!
"

Die große französische Revolution ließ den Erdball
erzittern. Alles, was die Denker und Dichter prophezeiet
und gesungen, Alles, was die Propheten Sokrates und
Jesus von Nazareth dem Volke mystisch verkündet, Alles,
was in den Herzen der Unterdrückten gefühlt, Alles, was
die Natur der Menschheit anbefohlen, Alles das sollte
Wahrheit werden!

Staunenswerthes, großes Ereigniß! -- Still wurde
es über den Erdkreis, der Pulsschlag der großen, franzö-
sischen Nation wurde allüberall gehört. Wuthentbrannt
[Spaltenumbruch] knirschten die Unterdrücker des Menschthums, ihre Macht,
ihre Herrlichkeit sollte zu Grabe getragen werden; wuth-
entbrannt sandten sie den Raub und den Brand, sie sand-
ten die Kriegsfurie und die Furie der Zwietracht in das
freiheitdürstende Land. Aber der Engel der Menschen-
rechte der sich in seiner Glorie kundgab selbst bei den
elendesten zerlumptesten Menschenkindern, trieb mit sei-
nem Flammenschwerte die Furien aus dem paradiesischen
Frankreich.

Die Menschenrechte wurden proklamirt. Als Staats-
grundgesetz die Freiheit und die Gleichheit -- es fehlte
nur das eine, der vervollkommnete Begriff des Gemein-
lebens und des Gemeinwirkens -- die Brüderlichkeit.

Jn den Klubs und auf den Straßen von Paris
wurde die Brüderlichkeit allerdings proklamirt und bethä-
tigt, aber nicht in den Gesetzen; weder die Konstitution von
1791, noch die viel radikalere Konstitution von 1793 er-
klären die Brüderlichkeit für ein Menschenrecht.

Anstatt dessen finden wir die "Sicherheit" und das
"Eigenthum" als Menschenrechte in der letzten Konstitution
proklamirt.

Hier stehen wir wieder an einer Gränze der Entwick-
lung der Menschheit; die Leibeigenschaft war gefallen, die
" freie " Lohnsklaverei blieb.

Uns fällt es durchaus nicht ein, die französischen
Gesetzgeber zu tadeln, daß sie den größten Begriff der
Menschenrechte, welcher so recht auf die naturnothwen-
dige Gemeinsamkeit
der Menschen hinzielt, die Brüder-
lichkeit aus den Konstitutionen des vorigen Jahrhunderts
hinwegließen -- sie selbst und die Menschheit überhaupt
hatten noch nicht den vollständigen Begriff von der Ge-
meinsamkeit
der Menschen in ihrem Hauptprinzip,
im Schaffen und Genießen.

Deshalb mußte auch nothwendig das größte Unrecht
gegen die Menschenrechte, die Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen bleiben. Aber das formelle Recht
der Freiheit und Gleichheit, welches Jahrtausende geschwun-
den war, ist geschaffen worden, und aus diesem heraus
läßt sich das thatsächliche Recht leichter begründen und
erobern.

Wie aber in der Urzeit der Menschen jedes Fortschrei-
ten Jahrtausende bedurfte, während in der weiteren Ent-
wicklung Jahrhunderte dasselbe verrichteten, so sind jetzt
Jahrzehnte der Zeitraum, in welchem sich die Geschicke der
Menschheit vollziehen.

Und so sehen wir auch, daß noch nicht neun Jahr-
zehnte verflossen sind, und schon hat sich in den Völkern
der Gemeinsinn so ausgebildet, daß sich der endgiltige Be-
griff der Menschenrechte, die Brüderlichkeit, derart festgesetzt
hat, daß es nur eines äußerlichen Anstoßes bedarf, dieses
Menschenrecht, durch die Gesetzgebungen in allen entwickel-
ten Kulturstaaten zu proklamiren. --

Aus den mit Thieren und unter Thieren, aus dem ein-
zellebenden und halbentwickelten Menschen entstand durch das
Gebot der Natur das Gemeinleben, dem aber der Gemein-
sinn mangelte; der thierische Egoismus blieb, der hart-
herzig die schwächeren Brüder ausbeutete.

Das edlere Prinzip der Menschheit entwickelte sich, die
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 50
[Beginn Spaltensatz]

Die immer noch unentwickelte Menschheit aber konnte die
Menschenrechte, welche also der Form nach bei den Urvöl-
kern bestanden hatten, nicht behalten, wenngleich immer ein-
zelne Personen wohl den Werth derselben in dem gemein-
samen Wesen und Leben fühlten. Die unvollkommene
Menschheit aber, wir wiederholen es, war in der Gemein-
samkeit noch nicht so erstarkt, als daß das Leben in dieser
Gemeinsamkeit ein auf das gleiche Recht und die gleiche
Pflicht, aus denen die höchste Glückseligkeit der Menschheit
hervorgeht, hätte basirt sein können.

Doch die kulturhistorische Entwicklung des Menschen-
geschlechtes, die zu Anfang so enorm langsam vor sich ging,
so daß man die Urzeit der Menschen, in welcher sie von
Thieren und unter Thieren ohne besondere Gemeinsamkeit
lebten, nach Jahrtausenden rechnen kann, nahm bald einen
geschwinderen Gang an. Durch den Ackerbau und durch
das Herstellen der dazu nöthigen Jnstrumente bildeten sich
die Kulturstaaten, Kunst und Jndustrie in denselben. Die
Gemeinsamkeit erhielt nun den ersten Stoß in der aus-
geprägten Unterdrückung einer Klasse der Menschen durch
andere Klassen; die Sklaverei entstand. Das Wesen der-
selben ist bekannt und auch die schon berührten Gründe
ihrer Entstehung.

Aber von Wichtigkeit ist, daß durch die Unter-
drückung einer großen Klasse
von Menschen die
Jdee der Menschenrechte erst sich entwickeln konnte.

Das schneidende Unrecht ist immer der Spie-
gel des Rechtes.

Und von da an datirt sich auch der theoretisch=philo-
sophische Kampf um die Erringung der Menschenrechte;
ihre Unterdrückung in der Gemeinsamkeit war ihre Er-
weckerin.

Sollen wir auf die Philosophie des Sokrates hin-
weisen? Oder sollen wir gar den großen Nazarener hier
anführen? Die gewaltigen Wahrheiten jener Männer sind
bekannt, und mit dem Tode haben sie selbst ihren Kampf
für die Menschenrechte besiegelt. —

Die Entwicklung der Menschheit ist nicht aufzuhalten;
nicht mehr Jahrtausende waren erforderlich, dieselbe einen
Schritt weiter zu bringen; in Jahrhunderten war das Fort-
schreiten größer. Die Sklaverei schwand, die mildere Form
der Leibeigenschaft trat an ihre Stelle — und immer und
immer stand die zwar stumme Masse der Menschen
schon da und forderte im Namen der Menschheit die Men-
schenrechte. Manche Fessel wurde im Laufe der Zeit noch
abgeschüttelt — — — — — da endlich donnerte der laute
Ruf eines großen Volkes durch die Welt: „ Die Men-
schechenrechte sollen proklamirt werden!

Die große französische Revolution ließ den Erdball
erzittern. Alles, was die Denker und Dichter prophezeiet
und gesungen, Alles, was die Propheten Sokrates und
Jesus von Nazareth dem Volke mystisch verkündet, Alles,
was in den Herzen der Unterdrückten gefühlt, Alles, was
die Natur der Menschheit anbefohlen, Alles das sollte
Wahrheit werden!

Staunenswerthes, großes Ereigniß! — Still wurde
es über den Erdkreis, der Pulsschlag der großen, franzö-
sischen Nation wurde allüberall gehört. Wuthentbrannt
[Spaltenumbruch] knirschten die Unterdrücker des Menschthums, ihre Macht,
ihre Herrlichkeit sollte zu Grabe getragen werden; wuth-
entbrannt sandten sie den Raub und den Brand, sie sand-
ten die Kriegsfurie und die Furie der Zwietracht in das
freiheitdürstende Land. Aber der Engel der Menschen-
rechte der sich in seiner Glorie kundgab selbst bei den
elendesten zerlumptesten Menschenkindern, trieb mit sei-
nem Flammenschwerte die Furien aus dem paradiesischen
Frankreich.

Die Menschenrechte wurden proklamirt. Als Staats-
grundgesetz die Freiheit und die Gleichheit — es fehlte
nur das eine, der vervollkommnete Begriff des Gemein-
lebens und des Gemeinwirkens — die Brüderlichkeit.

Jn den Klubs und auf den Straßen von Paris
wurde die Brüderlichkeit allerdings proklamirt und bethä-
tigt, aber nicht in den Gesetzen; weder die Konstitution von
1791, noch die viel radikalere Konstitution von 1793 er-
klären die Brüderlichkeit für ein Menschenrecht.

Anstatt dessen finden wir die „Sicherheit“ und das
„Eigenthum“ als Menschenrechte in der letzten Konstitution
proklamirt.

Hier stehen wir wieder an einer Gränze der Entwick-
lung der Menschheit; die Leibeigenschaft war gefallen, die
freie “ Lohnsklaverei blieb.

Uns fällt es durchaus nicht ein, die französischen
Gesetzgeber zu tadeln, daß sie den größten Begriff der
Menschenrechte, welcher so recht auf die naturnothwen-
dige Gemeinsamkeit
der Menschen hinzielt, die Brüder-
lichkeit aus den Konstitutionen des vorigen Jahrhunderts
hinwegließen — sie selbst und die Menschheit überhaupt
hatten noch nicht den vollständigen Begriff von der Ge-
meinsamkeit
der Menschen in ihrem Hauptprinzip,
im Schaffen und Genießen.

Deshalb mußte auch nothwendig das größte Unrecht
gegen die Menschenrechte, die Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen bleiben. Aber das formelle Recht
der Freiheit und Gleichheit, welches Jahrtausende geschwun-
den war, ist geschaffen worden, und aus diesem heraus
läßt sich das thatsächliche Recht leichter begründen und
erobern.

Wie aber in der Urzeit der Menschen jedes Fortschrei-
ten Jahrtausende bedurfte, während in der weiteren Ent-
wicklung Jahrhunderte dasselbe verrichteten, so sind jetzt
Jahrzehnte der Zeitraum, in welchem sich die Geschicke der
Menschheit vollziehen.

Und so sehen wir auch, daß noch nicht neun Jahr-
zehnte verflossen sind, und schon hat sich in den Völkern
der Gemeinsinn so ausgebildet, daß sich der endgiltige Be-
griff der Menschenrechte, die Brüderlichkeit, derart festgesetzt
hat, daß es nur eines äußerlichen Anstoßes bedarf, dieses
Menschenrecht, durch die Gesetzgebungen in allen entwickel-
ten Kulturstaaten zu proklamiren. —

Aus den mit Thieren und unter Thieren, aus dem ein-
zellebenden und halbentwickelten Menschen entstand durch das
Gebot der Natur das Gemeinleben, dem aber der Gemein-
sinn mangelte; der thierische Egoismus blieb, der hart-
herzig die schwächeren Brüder ausbeutete.

Das edlere Prinzip der Menschheit entwickelte sich, die
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <pb facs="#f0002" n="50"/>
        <fw type="header" place="top"><hi rendition="#g">Zur Unterhaltung und Belehrung.</hi> 50</fw>
        <cb type="start"/>
        <p>Die immer noch unentwickelte Menschheit aber konnte die<lb/>
Menschenrechte, welche also der Form nach bei den Urvöl-<lb/>
kern bestanden hatten, nicht behalten, wenngleich immer ein-<lb/>
zelne Personen wohl den Werth derselben in dem gemein-<lb/>
samen Wesen und Leben fühlten. Die unvollkommene<lb/>
Menschheit aber, wir wiederholen es, war in der Gemein-<lb/>
samkeit noch nicht so erstarkt, als daß das Leben in dieser<lb/>
Gemeinsamkeit ein auf das gleiche Recht und die gleiche<lb/>
Pflicht, aus denen die höchste Glückseligkeit der Menschheit<lb/>
hervorgeht, hätte basirt sein können.</p><lb/>
        <p>Doch die kulturhistorische Entwicklung des Menschen-<lb/>
geschlechtes, die zu Anfang so enorm langsam vor sich ging,<lb/>
so daß man die Urzeit der Menschen, in welcher sie von<lb/>
Thieren und unter Thieren ohne besondere Gemeinsamkeit<lb/>
lebten, nach Jahrtausenden rechnen kann, nahm bald einen<lb/>
geschwinderen Gang an. Durch den Ackerbau und durch<lb/>
das Herstellen der dazu nöthigen Jnstrumente bildeten sich<lb/>
die Kulturstaaten, Kunst und Jndustrie in denselben. Die<lb/>
Gemeinsamkeit erhielt nun den ersten Stoß in der aus-<lb/>
geprägten Unterdrückung einer Klasse der Menschen durch<lb/>
andere Klassen; die Sklaverei entstand. Das Wesen der-<lb/>
selben ist bekannt und auch die schon berührten Gründe<lb/>
ihrer Entstehung.</p><lb/>
        <p>Aber von Wichtigkeit ist, daß durch die <hi rendition="#g">Unter-<lb/>
drückung einer großen Klasse</hi> von Menschen die<lb/><hi rendition="#g">Jdee der Menschenrechte</hi> erst sich entwickeln <hi rendition="#g">konnte.</hi> </p><lb/>
        <p> <hi rendition="#g">Das schneidende Unrecht ist immer der Spie-<lb/>
gel des Rechtes.</hi> </p><lb/>
        <p>Und von da an datirt sich auch der theoretisch=philo-<lb/>
sophische Kampf um die Erringung der Menschenrechte;<lb/>
ihre Unterdrückung in der Gemeinsamkeit war ihre Er-<lb/>
weckerin.</p><lb/>
        <p>Sollen wir auf die Philosophie des Sokrates hin-<lb/>
weisen? Oder sollen wir gar den großen Nazarener hier<lb/>
anführen? Die gewaltigen Wahrheiten jener Männer sind<lb/>
bekannt, und mit dem Tode haben sie selbst ihren Kampf<lb/>
für die Menschenrechte besiegelt. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Die Entwicklung der Menschheit ist nicht aufzuhalten;<lb/>
nicht mehr Jahrtausende waren erforderlich, dieselbe einen<lb/>
Schritt weiter zu bringen; in Jahrhunderten war das Fort-<lb/>
schreiten größer. Die Sklaverei schwand, die mildere Form<lb/>
der Leibeigenschaft trat an ihre Stelle &#x2014; und immer und<lb/>
immer stand die zwar stumme Masse der Menschen<lb/>
schon da und forderte im Namen der Menschheit die Men-<lb/>
schenrechte. Manche Fessel wurde im Laufe der Zeit noch<lb/>
abgeschüttelt &#x2014; &#x2014; &#x2014; &#x2014; &#x2014; da endlich donnerte der laute<lb/>
Ruf eines großen Volkes durch die Welt: &#x201E; <hi rendition="#g">Die Men-<lb/>
schechenrechte sollen proklamirt werden!</hi> &#x201C;</p><lb/>
        <p>Die große französische Revolution ließ den Erdball<lb/>
erzittern. Alles, was die Denker und Dichter prophezeiet<lb/>
und gesungen, Alles, was die Propheten Sokrates und<lb/>
Jesus von Nazareth dem Volke mystisch verkündet, Alles,<lb/>
was in den Herzen der Unterdrückten gefühlt, Alles, was<lb/>
die Natur der Menschheit anbefohlen, <hi rendition="#g">Alles das sollte<lb/>
Wahrheit werden!</hi> </p><lb/>
        <p>Staunenswerthes, großes Ereigniß! &#x2014; Still wurde<lb/>
es über den Erdkreis, der Pulsschlag der großen, franzö-<lb/>
sischen Nation wurde allüberall gehört. Wuthentbrannt<lb/><cb n="2"/>
knirschten die Unterdrücker des Menschthums, ihre Macht,<lb/>
ihre Herrlichkeit sollte zu Grabe getragen werden; wuth-<lb/>
entbrannt sandten sie den Raub und den Brand, sie sand-<lb/>
ten die Kriegsfurie und die Furie der Zwietracht in das<lb/>
freiheitdürstende Land. Aber der Engel der Menschen-<lb/>
rechte der sich in seiner Glorie kundgab selbst bei den<lb/>
elendesten zerlumptesten Menschenkindern, trieb mit sei-<lb/>
nem Flammenschwerte die Furien aus dem paradiesischen<lb/>
Frankreich.</p><lb/>
        <p>Die Menschenrechte <hi rendition="#g">wurden</hi> proklamirt. Als Staats-<lb/>
grundgesetz die <hi rendition="#g">Freiheit</hi> und die <hi rendition="#g">Gleichheit</hi> &#x2014; es fehlte<lb/>
nur das eine, der vervollkommnete Begriff des Gemein-<lb/>
lebens und des Gemeinwirkens &#x2014; die <hi rendition="#g">Brüderlichkeit.</hi> </p><lb/>
        <p>Jn den Klubs und auf den Straßen von Paris<lb/>
wurde die Brüderlichkeit allerdings proklamirt und bethä-<lb/>
tigt, aber nicht in den Gesetzen; weder die Konstitution von<lb/>
1791, noch die viel radikalere Konstitution von 1793 er-<lb/>
klären die Brüderlichkeit für ein Menschenrecht.</p><lb/>
        <p>Anstatt dessen finden wir die &#x201E;Sicherheit&#x201C; und das<lb/>
&#x201E;Eigenthum&#x201C; als Menschenrechte in der letzten Konstitution<lb/>
proklamirt.</p><lb/>
        <p>Hier stehen wir wieder an einer Gränze der Entwick-<lb/>
lung der Menschheit; die Leibeigenschaft war gefallen, die<lb/>
&#x201E; <hi rendition="#g">freie</hi> &#x201C; Lohnsklaverei blieb.</p><lb/>
        <p>Uns fällt es durchaus nicht ein, die französischen<lb/>
Gesetzgeber zu tadeln, daß sie den größten Begriff der<lb/>
Menschenrechte, welcher so recht auf die <hi rendition="#g">naturnothwen-<lb/>
dige Gemeinsamkeit</hi> der Menschen hinzielt, die Brüder-<lb/>
lichkeit aus den Konstitutionen des vorigen Jahrhunderts<lb/>
hinwegließen &#x2014; sie selbst und die Menschheit überhaupt<lb/>
hatten noch nicht den vollständigen Begriff von der <hi rendition="#g">Ge-<lb/>
meinsamkeit</hi> der Menschen in <hi rendition="#g">ihrem Hauptprinzip,<lb/>
im Schaffen und Genießen.</hi> </p><lb/>
        <p>Deshalb mußte auch nothwendig das größte Unrecht<lb/>
gegen die Menschenrechte, die Ausbeutung des Menschen<lb/>
durch den Menschen bleiben. Aber das <hi rendition="#g">formelle</hi> Recht<lb/>
der Freiheit und Gleichheit, welches Jahrtausende geschwun-<lb/>
den war, ist geschaffen worden, und aus diesem heraus<lb/>
läßt sich das <hi rendition="#g">thatsächliche</hi> Recht leichter begründen und<lb/>
erobern.</p><lb/>
        <p>Wie aber in der Urzeit der Menschen jedes Fortschrei-<lb/>
ten Jahrtausende bedurfte, während in der weiteren Ent-<lb/>
wicklung Jahrhunderte dasselbe verrichteten, so sind jetzt<lb/>
Jahrzehnte der Zeitraum, in welchem sich die Geschicke der<lb/>
Menschheit vollziehen.</p><lb/>
        <p>Und so sehen wir auch, daß noch nicht neun Jahr-<lb/>
zehnte verflossen sind, und schon hat sich in den Völkern<lb/>
der Gemeinsinn so ausgebildet, daß sich der endgiltige Be-<lb/>
griff der Menschenrechte, die Brüderlichkeit, derart festgesetzt<lb/>
hat, daß es nur eines äußerlichen Anstoßes bedarf, dieses<lb/>
Menschenrecht, durch die Gesetzgebungen in allen entwickel-<lb/>
ten Kulturstaaten zu proklamiren. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Aus den mit Thieren und unter Thieren, aus dem ein-<lb/>
zellebenden und halbentwickelten Menschen entstand durch das<lb/>
Gebot der Natur das Gemeinleben, dem aber der Gemein-<lb/>
sinn mangelte; der thierische Egoismus blieb, der hart-<lb/>
herzig die schwächeren Brüder ausbeutete.</p><lb/>
        <p>Das edlere Prinzip der Menschheit entwickelte sich, die<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0002] Zur Unterhaltung und Belehrung. 50 Die immer noch unentwickelte Menschheit aber konnte die Menschenrechte, welche also der Form nach bei den Urvöl- kern bestanden hatten, nicht behalten, wenngleich immer ein- zelne Personen wohl den Werth derselben in dem gemein- samen Wesen und Leben fühlten. Die unvollkommene Menschheit aber, wir wiederholen es, war in der Gemein- samkeit noch nicht so erstarkt, als daß das Leben in dieser Gemeinsamkeit ein auf das gleiche Recht und die gleiche Pflicht, aus denen die höchste Glückseligkeit der Menschheit hervorgeht, hätte basirt sein können. Doch die kulturhistorische Entwicklung des Menschen- geschlechtes, die zu Anfang so enorm langsam vor sich ging, so daß man die Urzeit der Menschen, in welcher sie von Thieren und unter Thieren ohne besondere Gemeinsamkeit lebten, nach Jahrtausenden rechnen kann, nahm bald einen geschwinderen Gang an. Durch den Ackerbau und durch das Herstellen der dazu nöthigen Jnstrumente bildeten sich die Kulturstaaten, Kunst und Jndustrie in denselben. Die Gemeinsamkeit erhielt nun den ersten Stoß in der aus- geprägten Unterdrückung einer Klasse der Menschen durch andere Klassen; die Sklaverei entstand. Das Wesen der- selben ist bekannt und auch die schon berührten Gründe ihrer Entstehung. Aber von Wichtigkeit ist, daß durch die Unter- drückung einer großen Klasse von Menschen die Jdee der Menschenrechte erst sich entwickeln konnte. Das schneidende Unrecht ist immer der Spie- gel des Rechtes. Und von da an datirt sich auch der theoretisch=philo- sophische Kampf um die Erringung der Menschenrechte; ihre Unterdrückung in der Gemeinsamkeit war ihre Er- weckerin. Sollen wir auf die Philosophie des Sokrates hin- weisen? Oder sollen wir gar den großen Nazarener hier anführen? Die gewaltigen Wahrheiten jener Männer sind bekannt, und mit dem Tode haben sie selbst ihren Kampf für die Menschenrechte besiegelt. — Die Entwicklung der Menschheit ist nicht aufzuhalten; nicht mehr Jahrtausende waren erforderlich, dieselbe einen Schritt weiter zu bringen; in Jahrhunderten war das Fort- schreiten größer. Die Sklaverei schwand, die mildere Form der Leibeigenschaft trat an ihre Stelle — und immer und immer stand die zwar stumme Masse der Menschen schon da und forderte im Namen der Menschheit die Men- schenrechte. Manche Fessel wurde im Laufe der Zeit noch abgeschüttelt — — — — — da endlich donnerte der laute Ruf eines großen Volkes durch die Welt: „ Die Men- schechenrechte sollen proklamirt werden! “ Die große französische Revolution ließ den Erdball erzittern. Alles, was die Denker und Dichter prophezeiet und gesungen, Alles, was die Propheten Sokrates und Jesus von Nazareth dem Volke mystisch verkündet, Alles, was in den Herzen der Unterdrückten gefühlt, Alles, was die Natur der Menschheit anbefohlen, Alles das sollte Wahrheit werden! Staunenswerthes, großes Ereigniß! — Still wurde es über den Erdkreis, der Pulsschlag der großen, franzö- sischen Nation wurde allüberall gehört. Wuthentbrannt knirschten die Unterdrücker des Menschthums, ihre Macht, ihre Herrlichkeit sollte zu Grabe getragen werden; wuth- entbrannt sandten sie den Raub und den Brand, sie sand- ten die Kriegsfurie und die Furie der Zwietracht in das freiheitdürstende Land. Aber der Engel der Menschen- rechte der sich in seiner Glorie kundgab selbst bei den elendesten zerlumptesten Menschenkindern, trieb mit sei- nem Flammenschwerte die Furien aus dem paradiesischen Frankreich. Die Menschenrechte wurden proklamirt. Als Staats- grundgesetz die Freiheit und die Gleichheit — es fehlte nur das eine, der vervollkommnete Begriff des Gemein- lebens und des Gemeinwirkens — die Brüderlichkeit. Jn den Klubs und auf den Straßen von Paris wurde die Brüderlichkeit allerdings proklamirt und bethä- tigt, aber nicht in den Gesetzen; weder die Konstitution von 1791, noch die viel radikalere Konstitution von 1793 er- klären die Brüderlichkeit für ein Menschenrecht. Anstatt dessen finden wir die „Sicherheit“ und das „Eigenthum“ als Menschenrechte in der letzten Konstitution proklamirt. Hier stehen wir wieder an einer Gränze der Entwick- lung der Menschheit; die Leibeigenschaft war gefallen, die „ freie “ Lohnsklaverei blieb. Uns fällt es durchaus nicht ein, die französischen Gesetzgeber zu tadeln, daß sie den größten Begriff der Menschenrechte, welcher so recht auf die naturnothwen- dige Gemeinsamkeit der Menschen hinzielt, die Brüder- lichkeit aus den Konstitutionen des vorigen Jahrhunderts hinwegließen — sie selbst und die Menschheit überhaupt hatten noch nicht den vollständigen Begriff von der Ge- meinsamkeit der Menschen in ihrem Hauptprinzip, im Schaffen und Genießen. Deshalb mußte auch nothwendig das größte Unrecht gegen die Menschenrechte, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bleiben. Aber das formelle Recht der Freiheit und Gleichheit, welches Jahrtausende geschwun- den war, ist geschaffen worden, und aus diesem heraus läßt sich das thatsächliche Recht leichter begründen und erobern. Wie aber in der Urzeit der Menschen jedes Fortschrei- ten Jahrtausende bedurfte, während in der weiteren Ent- wicklung Jahrhunderte dasselbe verrichteten, so sind jetzt Jahrzehnte der Zeitraum, in welchem sich die Geschicke der Menschheit vollziehen. Und so sehen wir auch, daß noch nicht neun Jahr- zehnte verflossen sind, und schon hat sich in den Völkern der Gemeinsinn so ausgebildet, daß sich der endgiltige Be- griff der Menschenrechte, die Brüderlichkeit, derart festgesetzt hat, daß es nur eines äußerlichen Anstoßes bedarf, dieses Menschenrecht, durch die Gesetzgebungen in allen entwickel- ten Kulturstaaten zu proklamiren. — Aus den mit Thieren und unter Thieren, aus dem ein- zellebenden und halbentwickelten Menschen entstand durch das Gebot der Natur das Gemeinleben, dem aber der Gemein- sinn mangelte; der thierische Egoismus blieb, der hart- herzig die schwächeren Brüder ausbeutete. Das edlere Prinzip der Menschheit entwickelte sich, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social03_1873
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social03_1873/2
Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social03_1873/2>, abgerufen am 21.11.2024.