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Sonntags-Blatt. Nr. 24. Berlin, 13. Juni 1869.

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[Beginn Spaltensatz] Vermuthung aufgetaucht, der Maler habe das Kind entwendet, und
obgleich er seinerseits das Gerücht für eine thörichte Erfindung halte,
so sei es doch gewiß, daß das Kind an jenem Morgen auf dem Wege
nach Aversa gesehen worden sei, demselben, den Staccoli eingeschlagen.
Einige Leute im Dorfe behaupteten sogar, das Kind wäre mit ihm
zusammen gesehen worden. Er, der Freund, habe sich bemüht, die
Spur dieses Gerüchts bis zur Quelle zu verfolgen, sei aber zu keinem
Resultat gelangt, da jene Leute behaupteten, die Aussage von einem
zerlumpten Menschen zu haben, den sie für den Bruder Bastiano's
ausgäben, den er aber, trotz aller angewandten Mühe, nicht habe aus-
findig machen können. Er habe [unleserliches Material - 18 Zeichen fehlen]nichtsdestoweniger geglaubt, da die
Sache bei den Gerichten anhängig gemacht worden, denselben auch
diesen Umstand nicht verschweigen zu müssen, damit wo möglich jener
Mensch zur Stelle geschafft und der Strom des Geschwätzes, der
immer breiter und mächtiger angeschwollen, an seiner Quelle verstopft
würde. Dem Maler müsse es indeß ein Leichtes sein, mit Hülfe des
neapolitanischen Maulthiertreibers, der ihn auf der Reise begleitet,
jenes verläumderische Gerücht zu Schanden zu machen. Zu diesem
Zweck bat ihn der Freund, eiligst nach Neapel zu kommen, da er
sonst leicht in Kurzem durch eine Verhaftung in Rom an jedem frei-
willigen Handeln verhindert werden könnte. Er erinnerte ihn an die
Abneigung der Neapolitaner gegen die Römer und an die Menge
derer, welche unschuldig der Feindschaft und Verläumdung zum Opfer
gefallen wären. Schließlich bat er den Maler nochmals, vorsichtig
zu sein, und wenn er nach Neapel käme, woran er, der Freund, nicht
zweifle, sich vorerst in Nazarette nicht sehen zu lassen, da die Stim-
mung der Bewohner gegen ihn eine erbitterte sei, sondern den Aus-
gang in Neapel abzuwarten, woselbst er ihm mit herzlichen Worten sein
Haus und alle seine Kräfte zur Benutzung anbot.

Sobald Staccoli, in dessen Gemüth Selbstanklagen, Schmerz und
Wuth über die Verdächtigung wie düstere Wolken wild durcheinander
jagten, seine Fassung einigermaßen wiedererlangt hatte, sprang er auf
und erklärte, sogleich nach Neapel reisen zu wollen. Seine Eltern
und einige Freunde, welche gewohnt, täglich um diese Stunde in
seinem Hause zusammen zu treffen, sich inzwischen eingefunden hatten,
baten ihn, zu bleiben und in Rom den Ausgang oder wenigstens
einen zweiten Brief abzuwarten. Zu Hause sei er für's Erste sicher,
in Neapel aber ganz ohne Schutz. Staccoli antwortete auf alle
Bitten und Einwürfe nur, er könne nicht anders, schlug sich zu wieder-
holten Malen mit der geballten Faust vor die Stirn, nannte sich einen
Dummkopf und Elenden und verweigerte auf weitere Fragen jede
Auskunft, so daß die Freunde, durch sein auffallendes Benehmen irre
gemacht, ihre Bemühungen aufgaben und ihn, wiewohl bestürzt und
wegen des Ausgangs besorgt, gewähren ließen.

Der Maler ging sogleich, ein Pferd zu kaufen, und machte sich
nach einer schlaflosen Nacht beim ersten Tagesgrauen mit rasender
Eile auf den Weg, nichts um sich her denkend und empfindend, als
Giulietta. Er hatte noch so viel Ueberlegung, daß er überall, wo er
anhielt, um die nothdürftigste Speise oder ein Nachtlager zu nehmen,
nach ihr fragte, denn des Mädchens Benehmen war ihm, wie durch
einen Zauberschlag, plötzlich klar geworden, und er war fest überzeugt,
daß das Kind ihm nachgegangen sei. Allein er erhielt nirgends eine
Auskunft, die ihm auch nur den Schatten einer Spur hätte verrathen
können. Wie ein vom bösen Geist Gejagter verschlang er gleichsam
den Weg unter seinen Füßen, so daß er, da er des Nachts kaum ein
paar Stunden schlummerte, schon am dritten Tage in Neapel eintraf.
Da er, von der unerhörten Anstrengung fast aufgerieben, athemlos
und verstört in das Zimmer des Freundes trat, kam ihm dieser mit
freudigem Gesicht und dem Ausruf entgegen: "Gott verläßt die Un-
schuld nicht. Es hat sich Alles aufgeklärt. Das Kind ist gefunden
und der Thäter bereits festgenommen!", führte den Erschöpften zu
einem Sessel, auf welchem derselbe schwach zurücksank, und holte etwas
Wein, seine Lebensgeister zu erfrischen. Jndem traten auch Staccoli's
Wirthe, welche wußten, daß der Maler bei seinem frühern Aufenthalt
in Neapel bei dem Freunde gewohnt hatte, zur Thür herein, in der
Absicht, diesen von einer neuen Wendung, welche der Verlauf der
Sache genommen hatte, zu unterrichten, und da sie den Maler erblick-
ten, fielen sie ihm zu Füßen und baten ihn unter reichlichen Thränen
um Verzeihung für den schmählichen Verdacht, den sie gegen ihn ge-
hegt. Der Maler, welcher von den Worten seines Freundes nichts
weiter verstanden hatte, als daß das Kind gefunden sei, und dem diese
Nachricht neue Lebenskraft gegeben zu haben schien, reichte seinen
Wirthen mild die Hand und fragte hastig:

"Wo ist Giulietta und wo und wie ist sie gefunden worden?"

"Jm Gehölz hinter dem Dorf", antwortete Bastiano, "die Hunde
haben sie ausgescharrt."

[Spaltenumbruch]

"Jm Gehölz?" fragte Staccoli mit leeren, ungewissen Blicken,
und da die Mutter bei jenen Worten in lautes Schluchzen ausbrach,
und der Maler nun erst den Sinn der Worte faßte, stürzte er, wie
vom Blitz getroffen, plötzlich mit einem herzzerreißenden Schrei zu Bo-
den. Jndeß erholte er sich bald und fragte mit fester Stimme nach
den näheren Umständen von Giulietta's Tod. Er erfuhr dann, ein
Bündelchen mit Kleidern, welches Giulietta bei ihrem Verschwinden
mitgenommen haben mußte, sei zuerst auf der Landstraße nach Aversa
in einem Graben gefunden worden. Längere Zeit darauf hätten
Schäferhunde in dem Gehölz die Leiche des Kindes, welche nur ober-
flächlich verscharrt gewesen, entdeckt. Die Spur des Thäters hätten
ein paar silberne Knöpfe verrathen, die er in einer Schänke Neapels
als Bezahlung für Wein ausgegeben hätte. Derselbe sei von der
umsichtigen Polizei, welche der grauenvolle Mord auf die Beine ge-
bracht, in der Person des Oheims entdeckt und in einer der Schänken
Neapels festgenommen worden. Er habe auch, von Reue zerrissen,
da noch nicht jedes menschliche Gefühl von ihm gewichen gewesen, die
That sogleich eingestanden. Das Kind, mit einem Bündelchen in
der Hand, welches ohne Zweifel dem Maler nachgegangen, war dem
Verbrecher am frühen Morgen im Gehölz begegnet. Er hatte es
gefragt, wohin es wollte, und da es, die Antwort schuldig bleibend,
scheu an ihm habe vorübereilen wollen, hatte er es, wie er aussagte,
in der Trunkenheit mit einem Schlage zu Boden gestreckt. Als
Motiv seiner That hatte er Rache an seinen Verwandten und Hab-
sucht angegeben. Das Bündel, in welchem sich auch etwas Geld be-
funden, hatte er bald, als unnütz, am Wege weggeworfen, und zu-
letzt, da er das Geld ausgegeben, aus Noth auch die silbernen Knöpfe,
die er von des Kindes Kleid abgerissen, verwerthen wollen. Die
Eltern endeten den traurigen Bericht mit den Worten, daß der Mör-
der, da er den Lohn seiner That voraus gesehen, heut im Gefängniß
mit einer seidenen Schnur, an der eine Kapsel mit einem Madonnen-
bildchen befestigt gewesen, sich selbst erdrosselt habe.

Jetzt erst brach der Jammer des Malers, welcher bis dahin still,
mit krampfhaft gespannten Gesichtsmuskeln und weit aufgerissenen
Augen zugehört hatte, in seiner ganzen, furchtbaren Stärke aus. Er
weinte wie ein Kind, wüthete gegen sich selbst und verlangte endlich,
die Leiche zu sehen. Als er hörte, daß sie schon beerdigt sei, wollte
er sie ausgraben lassen. Der Freund, tief erschüttert, da er den Zu-
sammenhang ahnte, flehte ihn an, von seinem Vorhaben abzustehen und
zu bedenken, daß die Geistlichkeit ein nach ihren Begriffen so gottloses
Verfahren nicht dulden würde. Allein der Wüthende erklärte, er
würde Jeden als seinen Todfeind behandeln, der sich seinem Vorhaben
widersetze, und da er allein hinausstürmen wollte, entschloß sich der
Freund, ihn nach dem Kirchhofe zu begleiten. Dort angekommen,
warf sich der Maler über den kleinen, schmucklosen Hügel, umfaßte
denselben mit seinen Armen und rief schluchzend, mit jammervollem,
zärtlichem Ausdruck unaufhörlich Giulietta's Namen, als wollte er sie
von den Todten auferwecken, so daß dem Freunde, da es bereits Nacht
war und Jener nicht Miene machte, aufzustehen, nichts übrig blieb,
als ihn mit Gewalt nach Hause zu schleppen, was der Maler auch,
schlaff und willenlos an seines Freundes Arm hängend, geschehen ließ.

Zu Hause verfiel der unter der Last der übermenschlichen Auf-
regungen Zusammengebrochene bald in einen tiefen, wohlthuenden
Schlaf, welcher weit in den Tag hinein dauerte. Der Freund, welcher
am andern Morgen schon mehrmals gekommen war, um nach ihm
zu sehen, und die Thür verschlossen gefunden hatte, konnte endlich
aus Besorgniß, der Maler dürfte sich ein Leids gethan haben, und
sich scheltend, daß er ihn allein gelassen, sich nicht enthalten, durch's
Schlüsselloch zu sehen. Allein wie erstaunte er, da er Staccoli ruhig
an der Staffelei sitzen und arbeiten sah. Auf sein Klopfen und die
Bitte um Einlaß antwortete Jener, ohne zu öffnen, er wolle vor-
läufig keinen Menschen sehen, und bat den Freund seinerseits mit
rührender Stimme, Nachsicht mit ihm zu haben und ihm das Nöthige
während des Tages durch einen Diener hineinbesorgen zu lassen. Der
Freund willfahrte seinem Verlangen, und nach wenigen Tagen hatte
er die Freude, den Maler mit ruhigem Gesicht, in welchem die Spu-
ren des gewaltigen Schmerzes sich nur durch ein wehmüthiges Lächeln
kund gaben, in sein Zimmer treten zu sehen. Nachdem die Beiden
einander herzlich die Hand gedrückt, gingen sie, auf die Aufforderung
des Malers, miteinander schweigend in dessen Zimmer. Dort deutete
Staccoli auf ein in der Mitte des Zimmers aufgestelltes Bild, in
welchem Giulietta, als Madonna in Wolken schwebend, mit selig
verklärtem Blick auf zwei zu den Seiten knieende Gestalten hernieder
schaute. Die Eine derselben war Giulietta's Mutter, die Andere der
Maler selbst. "Das war sie!" sagte dieser nach langem Schweigen
und verhüllte sein Antlitz.

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Vermuthung aufgetaucht, der Maler habe das Kind entwendet, und
obgleich er seinerseits das Gerücht für eine thörichte Erfindung halte,
so sei es doch gewiß, daß das Kind an jenem Morgen auf dem Wege
nach Aversa gesehen worden sei, demselben, den Staccoli eingeschlagen.
Einige Leute im Dorfe behaupteten sogar, das Kind wäre mit ihm
zusammen gesehen worden. Er, der Freund, habe sich bemüht, die
Spur dieses Gerüchts bis zur Quelle zu verfolgen, sei aber zu keinem
Resultat gelangt, da jene Leute behaupteten, die Aussage von einem
zerlumpten Menschen zu haben, den sie für den Bruder Bastiano's
ausgäben, den er aber, trotz aller angewandten Mühe, nicht habe aus-
findig machen können. Er habe [unleserliches Material – 18 Zeichen fehlen]nichtsdestoweniger geglaubt, da die
Sache bei den Gerichten anhängig gemacht worden, denselben auch
diesen Umstand nicht verschweigen zu müssen, damit wo möglich jener
Mensch zur Stelle geschafft und der Strom des Geschwätzes, der
immer breiter und mächtiger angeschwollen, an seiner Quelle verstopft
würde. Dem Maler müsse es indeß ein Leichtes sein, mit Hülfe des
neapolitanischen Maulthiertreibers, der ihn auf der Reise begleitet,
jenes verläumderische Gerücht zu Schanden zu machen. Zu diesem
Zweck bat ihn der Freund, eiligst nach Neapel zu kommen, da er
sonst leicht in Kurzem durch eine Verhaftung in Rom an jedem frei-
willigen Handeln verhindert werden könnte. Er erinnerte ihn an die
Abneigung der Neapolitaner gegen die Römer und an die Menge
derer, welche unschuldig der Feindschaft und Verläumdung zum Opfer
gefallen wären. Schließlich bat er den Maler nochmals, vorsichtig
zu sein, und wenn er nach Neapel käme, woran er, der Freund, nicht
zweifle, sich vorerst in Nazarette nicht sehen zu lassen, da die Stim-
mung der Bewohner gegen ihn eine erbitterte sei, sondern den Aus-
gang in Neapel abzuwarten, woselbst er ihm mit herzlichen Worten sein
Haus und alle seine Kräfte zur Benutzung anbot.

Sobald Staccoli, in dessen Gemüth Selbstanklagen, Schmerz und
Wuth über die Verdächtigung wie düstere Wolken wild durcheinander
jagten, seine Fassung einigermaßen wiedererlangt hatte, sprang er auf
und erklärte, sogleich nach Neapel reisen zu wollen. Seine Eltern
und einige Freunde, welche gewohnt, täglich um diese Stunde in
seinem Hause zusammen zu treffen, sich inzwischen eingefunden hatten,
baten ihn, zu bleiben und in Rom den Ausgang oder wenigstens
einen zweiten Brief abzuwarten. Zu Hause sei er für's Erste sicher,
in Neapel aber ganz ohne Schutz. Staccoli antwortete auf alle
Bitten und Einwürfe nur, er könne nicht anders, schlug sich zu wieder-
holten Malen mit der geballten Faust vor die Stirn, nannte sich einen
Dummkopf und Elenden und verweigerte auf weitere Fragen jede
Auskunft, so daß die Freunde, durch sein auffallendes Benehmen irre
gemacht, ihre Bemühungen aufgaben und ihn, wiewohl bestürzt und
wegen des Ausgangs besorgt, gewähren ließen.

Der Maler ging sogleich, ein Pferd zu kaufen, und machte sich
nach einer schlaflosen Nacht beim ersten Tagesgrauen mit rasender
Eile auf den Weg, nichts um sich her denkend und empfindend, als
Giulietta. Er hatte noch so viel Ueberlegung, daß er überall, wo er
anhielt, um die nothdürftigste Speise oder ein Nachtlager zu nehmen,
nach ihr fragte, denn des Mädchens Benehmen war ihm, wie durch
einen Zauberschlag, plötzlich klar geworden, und er war fest überzeugt,
daß das Kind ihm nachgegangen sei. Allein er erhielt nirgends eine
Auskunft, die ihm auch nur den Schatten einer Spur hätte verrathen
können. Wie ein vom bösen Geist Gejagter verschlang er gleichsam
den Weg unter seinen Füßen, so daß er, da er des Nachts kaum ein
paar Stunden schlummerte, schon am dritten Tage in Neapel eintraf.
Da er, von der unerhörten Anstrengung fast aufgerieben, athemlos
und verstört in das Zimmer des Freundes trat, kam ihm dieser mit
freudigem Gesicht und dem Ausruf entgegen: „Gott verläßt die Un-
schuld nicht. Es hat sich Alles aufgeklärt. Das Kind ist gefunden
und der Thäter bereits festgenommen!“, führte den Erschöpften zu
einem Sessel, auf welchem derselbe schwach zurücksank, und holte etwas
Wein, seine Lebensgeister zu erfrischen. Jndem traten auch Staccoli's
Wirthe, welche wußten, daß der Maler bei seinem frühern Aufenthalt
in Neapel bei dem Freunde gewohnt hatte, zur Thür herein, in der
Absicht, diesen von einer neuen Wendung, welche der Verlauf der
Sache genommen hatte, zu unterrichten, und da sie den Maler erblick-
ten, fielen sie ihm zu Füßen und baten ihn unter reichlichen Thränen
um Verzeihung für den schmählichen Verdacht, den sie gegen ihn ge-
hegt. Der Maler, welcher von den Worten seines Freundes nichts
weiter verstanden hatte, als daß das Kind gefunden sei, und dem diese
Nachricht neue Lebenskraft gegeben zu haben schien, reichte seinen
Wirthen mild die Hand und fragte hastig:

„Wo ist Giulietta und wo und wie ist sie gefunden worden?“

„Jm Gehölz hinter dem Dorf“, antwortete Bastiano, „die Hunde
haben sie ausgescharrt.“

[Spaltenumbruch]

„Jm Gehölz?“ fragte Staccoli mit leeren, ungewissen Blicken,
und da die Mutter bei jenen Worten in lautes Schluchzen ausbrach,
und der Maler nun erst den Sinn der Worte faßte, stürzte er, wie
vom Blitz getroffen, plötzlich mit einem herzzerreißenden Schrei zu Bo-
den. Jndeß erholte er sich bald und fragte mit fester Stimme nach
den näheren Umständen von Giulietta's Tod. Er erfuhr dann, ein
Bündelchen mit Kleidern, welches Giulietta bei ihrem Verschwinden
mitgenommen haben mußte, sei zuerst auf der Landstraße nach Aversa
in einem Graben gefunden worden. Längere Zeit darauf hätten
Schäferhunde in dem Gehölz die Leiche des Kindes, welche nur ober-
flächlich verscharrt gewesen, entdeckt. Die Spur des Thäters hätten
ein paar silberne Knöpfe verrathen, die er in einer Schänke Neapels
als Bezahlung für Wein ausgegeben hätte. Derselbe sei von der
umsichtigen Polizei, welche der grauenvolle Mord auf die Beine ge-
bracht, in der Person des Oheims entdeckt und in einer der Schänken
Neapels festgenommen worden. Er habe auch, von Reue zerrissen,
da noch nicht jedes menschliche Gefühl von ihm gewichen gewesen, die
That sogleich eingestanden. Das Kind, mit einem Bündelchen in
der Hand, welches ohne Zweifel dem Maler nachgegangen, war dem
Verbrecher am frühen Morgen im Gehölz begegnet. Er hatte es
gefragt, wohin es wollte, und da es, die Antwort schuldig bleibend,
scheu an ihm habe vorübereilen wollen, hatte er es, wie er aussagte,
in der Trunkenheit mit einem Schlage zu Boden gestreckt. Als
Motiv seiner That hatte er Rache an seinen Verwandten und Hab-
sucht angegeben. Das Bündel, in welchem sich auch etwas Geld be-
funden, hatte er bald, als unnütz, am Wege weggeworfen, und zu-
letzt, da er das Geld ausgegeben, aus Noth auch die silbernen Knöpfe,
die er von des Kindes Kleid abgerissen, verwerthen wollen. Die
Eltern endeten den traurigen Bericht mit den Worten, daß der Mör-
der, da er den Lohn seiner That voraus gesehen, heut im Gefängniß
mit einer seidenen Schnur, an der eine Kapsel mit einem Madonnen-
bildchen befestigt gewesen, sich selbst erdrosselt habe.

Jetzt erst brach der Jammer des Malers, welcher bis dahin still,
mit krampfhaft gespannten Gesichtsmuskeln und weit aufgerissenen
Augen zugehört hatte, in seiner ganzen, furchtbaren Stärke aus. Er
weinte wie ein Kind, wüthete gegen sich selbst und verlangte endlich,
die Leiche zu sehen. Als er hörte, daß sie schon beerdigt sei, wollte
er sie ausgraben lassen. Der Freund, tief erschüttert, da er den Zu-
sammenhang ahnte, flehte ihn an, von seinem Vorhaben abzustehen und
zu bedenken, daß die Geistlichkeit ein nach ihren Begriffen so gottloses
Verfahren nicht dulden würde. Allein der Wüthende erklärte, er
würde Jeden als seinen Todfeind behandeln, der sich seinem Vorhaben
widersetze, und da er allein hinausstürmen wollte, entschloß sich der
Freund, ihn nach dem Kirchhofe zu begleiten. Dort angekommen,
warf sich der Maler über den kleinen, schmucklosen Hügel, umfaßte
denselben mit seinen Armen und rief schluchzend, mit jammervollem,
zärtlichem Ausdruck unaufhörlich Giulietta's Namen, als wollte er sie
von den Todten auferwecken, so daß dem Freunde, da es bereits Nacht
war und Jener nicht Miene machte, aufzustehen, nichts übrig blieb,
als ihn mit Gewalt nach Hause zu schleppen, was der Maler auch,
schlaff und willenlos an seines Freundes Arm hängend, geschehen ließ.

Zu Hause verfiel der unter der Last der übermenschlichen Auf-
regungen Zusammengebrochene bald in einen tiefen, wohlthuenden
Schlaf, welcher weit in den Tag hinein dauerte. Der Freund, welcher
am andern Morgen schon mehrmals gekommen war, um nach ihm
zu sehen, und die Thür verschlossen gefunden hatte, konnte endlich
aus Besorgniß, der Maler dürfte sich ein Leids gethan haben, und
sich scheltend, daß er ihn allein gelassen, sich nicht enthalten, durch's
Schlüsselloch zu sehen. Allein wie erstaunte er, da er Staccoli ruhig
an der Staffelei sitzen und arbeiten sah. Auf sein Klopfen und die
Bitte um Einlaß antwortete Jener, ohne zu öffnen, er wolle vor-
läufig keinen Menschen sehen, und bat den Freund seinerseits mit
rührender Stimme, Nachsicht mit ihm zu haben und ihm das Nöthige
während des Tages durch einen Diener hineinbesorgen zu lassen. Der
Freund willfahrte seinem Verlangen, und nach wenigen Tagen hatte
er die Freude, den Maler mit ruhigem Gesicht, in welchem die Spu-
ren des gewaltigen Schmerzes sich nur durch ein wehmüthiges Lächeln
kund gaben, in sein Zimmer treten zu sehen. Nachdem die Beiden
einander herzlich die Hand gedrückt, gingen sie, auf die Aufforderung
des Malers, miteinander schweigend in dessen Zimmer. Dort deutete
Staccoli auf ein in der Mitte des Zimmers aufgestelltes Bild, in
welchem Giulietta, als Madonna in Wolken schwebend, mit selig
verklärtem Blick auf zwei zu den Seiten knieende Gestalten hernieder
schaute. Die Eine derselben war Giulietta's Mutter, die Andere der
Maler selbst. „Das war sie!“ sagte dieser nach langem Schweigen
und verhüllte sein Antlitz.

[Ende Spaltensatz]

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[188/0004] 188 Vermuthung aufgetaucht, der Maler habe das Kind entwendet, und obgleich er seinerseits das Gerücht für eine thörichte Erfindung halte, so sei es doch gewiß, daß das Kind an jenem Morgen auf dem Wege nach Aversa gesehen worden sei, demselben, den Staccoli eingeschlagen. Einige Leute im Dorfe behaupteten sogar, das Kind wäre mit ihm zusammen gesehen worden. Er, der Freund, habe sich bemüht, die Spur dieses Gerüchts bis zur Quelle zu verfolgen, sei aber zu keinem Resultat gelangt, da jene Leute behaupteten, die Aussage von einem zerlumpten Menschen zu haben, den sie für den Bruder Bastiano's ausgäben, den er aber, trotz aller angewandten Mühe, nicht habe aus- findig machen können. Er habe __________________nichtsdestoweniger geglaubt, da die Sache bei den Gerichten anhängig gemacht worden, denselben auch diesen Umstand nicht verschweigen zu müssen, damit wo möglich jener Mensch zur Stelle geschafft und der Strom des Geschwätzes, der immer breiter und mächtiger angeschwollen, an seiner Quelle verstopft würde. Dem Maler müsse es indeß ein Leichtes sein, mit Hülfe des neapolitanischen Maulthiertreibers, der ihn auf der Reise begleitet, jenes verläumderische Gerücht zu Schanden zu machen. Zu diesem Zweck bat ihn der Freund, eiligst nach Neapel zu kommen, da er sonst leicht in Kurzem durch eine Verhaftung in Rom an jedem frei- willigen Handeln verhindert werden könnte. Er erinnerte ihn an die Abneigung der Neapolitaner gegen die Römer und an die Menge derer, welche unschuldig der Feindschaft und Verläumdung zum Opfer gefallen wären. Schließlich bat er den Maler nochmals, vorsichtig zu sein, und wenn er nach Neapel käme, woran er, der Freund, nicht zweifle, sich vorerst in Nazarette nicht sehen zu lassen, da die Stim- mung der Bewohner gegen ihn eine erbitterte sei, sondern den Aus- gang in Neapel abzuwarten, woselbst er ihm mit herzlichen Worten sein Haus und alle seine Kräfte zur Benutzung anbot. Sobald Staccoli, in dessen Gemüth Selbstanklagen, Schmerz und Wuth über die Verdächtigung wie düstere Wolken wild durcheinander jagten, seine Fassung einigermaßen wiedererlangt hatte, sprang er auf und erklärte, sogleich nach Neapel reisen zu wollen. Seine Eltern und einige Freunde, welche gewohnt, täglich um diese Stunde in seinem Hause zusammen zu treffen, sich inzwischen eingefunden hatten, baten ihn, zu bleiben und in Rom den Ausgang oder wenigstens einen zweiten Brief abzuwarten. Zu Hause sei er für's Erste sicher, in Neapel aber ganz ohne Schutz. Staccoli antwortete auf alle Bitten und Einwürfe nur, er könne nicht anders, schlug sich zu wieder- holten Malen mit der geballten Faust vor die Stirn, nannte sich einen Dummkopf und Elenden und verweigerte auf weitere Fragen jede Auskunft, so daß die Freunde, durch sein auffallendes Benehmen irre gemacht, ihre Bemühungen aufgaben und ihn, wiewohl bestürzt und wegen des Ausgangs besorgt, gewähren ließen. Der Maler ging sogleich, ein Pferd zu kaufen, und machte sich nach einer schlaflosen Nacht beim ersten Tagesgrauen mit rasender Eile auf den Weg, nichts um sich her denkend und empfindend, als Giulietta. Er hatte noch so viel Ueberlegung, daß er überall, wo er anhielt, um die nothdürftigste Speise oder ein Nachtlager zu nehmen, nach ihr fragte, denn des Mädchens Benehmen war ihm, wie durch einen Zauberschlag, plötzlich klar geworden, und er war fest überzeugt, daß das Kind ihm nachgegangen sei. Allein er erhielt nirgends eine Auskunft, die ihm auch nur den Schatten einer Spur hätte verrathen können. Wie ein vom bösen Geist Gejagter verschlang er gleichsam den Weg unter seinen Füßen, so daß er, da er des Nachts kaum ein paar Stunden schlummerte, schon am dritten Tage in Neapel eintraf. Da er, von der unerhörten Anstrengung fast aufgerieben, athemlos und verstört in das Zimmer des Freundes trat, kam ihm dieser mit freudigem Gesicht und dem Ausruf entgegen: „Gott verläßt die Un- schuld nicht. Es hat sich Alles aufgeklärt. Das Kind ist gefunden und der Thäter bereits festgenommen!“, führte den Erschöpften zu einem Sessel, auf welchem derselbe schwach zurücksank, und holte etwas Wein, seine Lebensgeister zu erfrischen. Jndem traten auch Staccoli's Wirthe, welche wußten, daß der Maler bei seinem frühern Aufenthalt in Neapel bei dem Freunde gewohnt hatte, zur Thür herein, in der Absicht, diesen von einer neuen Wendung, welche der Verlauf der Sache genommen hatte, zu unterrichten, und da sie den Maler erblick- ten, fielen sie ihm zu Füßen und baten ihn unter reichlichen Thränen um Verzeihung für den schmählichen Verdacht, den sie gegen ihn ge- hegt. Der Maler, welcher von den Worten seines Freundes nichts weiter verstanden hatte, als daß das Kind gefunden sei, und dem diese Nachricht neue Lebenskraft gegeben zu haben schien, reichte seinen Wirthen mild die Hand und fragte hastig: „Wo ist Giulietta und wo und wie ist sie gefunden worden?“ „Jm Gehölz hinter dem Dorf“, antwortete Bastiano, „die Hunde haben sie ausgescharrt.“ „Jm Gehölz?“ fragte Staccoli mit leeren, ungewissen Blicken, und da die Mutter bei jenen Worten in lautes Schluchzen ausbrach, und der Maler nun erst den Sinn der Worte faßte, stürzte er, wie vom Blitz getroffen, plötzlich mit einem herzzerreißenden Schrei zu Bo- den. Jndeß erholte er sich bald und fragte mit fester Stimme nach den näheren Umständen von Giulietta's Tod. Er erfuhr dann, ein Bündelchen mit Kleidern, welches Giulietta bei ihrem Verschwinden mitgenommen haben mußte, sei zuerst auf der Landstraße nach Aversa in einem Graben gefunden worden. Längere Zeit darauf hätten Schäferhunde in dem Gehölz die Leiche des Kindes, welche nur ober- flächlich verscharrt gewesen, entdeckt. Die Spur des Thäters hätten ein paar silberne Knöpfe verrathen, die er in einer Schänke Neapels als Bezahlung für Wein ausgegeben hätte. Derselbe sei von der umsichtigen Polizei, welche der grauenvolle Mord auf die Beine ge- bracht, in der Person des Oheims entdeckt und in einer der Schänken Neapels festgenommen worden. Er habe auch, von Reue zerrissen, da noch nicht jedes menschliche Gefühl von ihm gewichen gewesen, die That sogleich eingestanden. Das Kind, mit einem Bündelchen in der Hand, welches ohne Zweifel dem Maler nachgegangen, war dem Verbrecher am frühen Morgen im Gehölz begegnet. Er hatte es gefragt, wohin es wollte, und da es, die Antwort schuldig bleibend, scheu an ihm habe vorübereilen wollen, hatte er es, wie er aussagte, in der Trunkenheit mit einem Schlage zu Boden gestreckt. Als Motiv seiner That hatte er Rache an seinen Verwandten und Hab- sucht angegeben. Das Bündel, in welchem sich auch etwas Geld be- funden, hatte er bald, als unnütz, am Wege weggeworfen, und zu- letzt, da er das Geld ausgegeben, aus Noth auch die silbernen Knöpfe, die er von des Kindes Kleid abgerissen, verwerthen wollen. Die Eltern endeten den traurigen Bericht mit den Worten, daß der Mör- der, da er den Lohn seiner That voraus gesehen, heut im Gefängniß mit einer seidenen Schnur, an der eine Kapsel mit einem Madonnen- bildchen befestigt gewesen, sich selbst erdrosselt habe. Jetzt erst brach der Jammer des Malers, welcher bis dahin still, mit krampfhaft gespannten Gesichtsmuskeln und weit aufgerissenen Augen zugehört hatte, in seiner ganzen, furchtbaren Stärke aus. Er weinte wie ein Kind, wüthete gegen sich selbst und verlangte endlich, die Leiche zu sehen. Als er hörte, daß sie schon beerdigt sei, wollte er sie ausgraben lassen. Der Freund, tief erschüttert, da er den Zu- sammenhang ahnte, flehte ihn an, von seinem Vorhaben abzustehen und zu bedenken, daß die Geistlichkeit ein nach ihren Begriffen so gottloses Verfahren nicht dulden würde. Allein der Wüthende erklärte, er würde Jeden als seinen Todfeind behandeln, der sich seinem Vorhaben widersetze, und da er allein hinausstürmen wollte, entschloß sich der Freund, ihn nach dem Kirchhofe zu begleiten. Dort angekommen, warf sich der Maler über den kleinen, schmucklosen Hügel, umfaßte denselben mit seinen Armen und rief schluchzend, mit jammervollem, zärtlichem Ausdruck unaufhörlich Giulietta's Namen, als wollte er sie von den Todten auferwecken, so daß dem Freunde, da es bereits Nacht war und Jener nicht Miene machte, aufzustehen, nichts übrig blieb, als ihn mit Gewalt nach Hause zu schleppen, was der Maler auch, schlaff und willenlos an seines Freundes Arm hängend, geschehen ließ. Zu Hause verfiel der unter der Last der übermenschlichen Auf- regungen Zusammengebrochene bald in einen tiefen, wohlthuenden Schlaf, welcher weit in den Tag hinein dauerte. Der Freund, welcher am andern Morgen schon mehrmals gekommen war, um nach ihm zu sehen, und die Thür verschlossen gefunden hatte, konnte endlich aus Besorgniß, der Maler dürfte sich ein Leids gethan haben, und sich scheltend, daß er ihn allein gelassen, sich nicht enthalten, durch's Schlüsselloch zu sehen. Allein wie erstaunte er, da er Staccoli ruhig an der Staffelei sitzen und arbeiten sah. Auf sein Klopfen und die Bitte um Einlaß antwortete Jener, ohne zu öffnen, er wolle vor- läufig keinen Menschen sehen, und bat den Freund seinerseits mit rührender Stimme, Nachsicht mit ihm zu haben und ihm das Nöthige während des Tages durch einen Diener hineinbesorgen zu lassen. Der Freund willfahrte seinem Verlangen, und nach wenigen Tagen hatte er die Freude, den Maler mit ruhigem Gesicht, in welchem die Spu- ren des gewaltigen Schmerzes sich nur durch ein wehmüthiges Lächeln kund gaben, in sein Zimmer treten zu sehen. Nachdem die Beiden einander herzlich die Hand gedrückt, gingen sie, auf die Aufforderung des Malers, miteinander schweigend in dessen Zimmer. Dort deutete Staccoli auf ein in der Mitte des Zimmers aufgestelltes Bild, in welchem Giulietta, als Madonna in Wolken schwebend, mit selig verklärtem Blick auf zwei zu den Seiten knieende Gestalten hernieder schaute. Die Eine derselben war Giulietta's Mutter, die Andere der Maler selbst. „Das war sie!“ sagte dieser nach langem Schweigen und verhüllte sein Antlitz.

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 24. Berlin, 13. Juni 1869, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt24_1869/4>, abgerufen am 26.06.2024.